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Christine Kraus


Im Schwebezustand

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Die Sonne

im Auge des Falken

der zurückgekehrt auf meine Hand.

Yoshiwake Tairo

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

Lintuwörter

1. Kapitel

„Kannst du nicht schneller fahren?“, schrie ich zu Julien hinüber, während ich das Fenster auf meiner Seite herunterließ.

„Der Wagen gibt nicht mehr her“, rief er zurück, trat trotzdem fester auf das Gaspedal, den Blick konzentriert auf die Straße gerichtet. Die alte Schüssel, die er fuhr, war eben nur für Familienausflüge geeignet, nicht für Verfolgungsjagden.

Wir waren bestimmt schon zehn Minuten aus der Stadt draußen und rasten auf der dunklen Landstraße mit hundertsechzig Sachen hinter den Verbrechern her, die Frau Schmidt überfallen hatten – meine Frau Schmidt, die liebenswerteste, klügste alte Dame der Welt. Der Abstand wurde immer größer und wir liefen Gefahr, den Wagen vor uns zu verlieren. Das durfte auf keinen Fall geschehen. Erstens hatte ich eine Mordswut auf die Typen und zweitens wollte ich unbedingt wissen, was sie bei ihr gesucht hatten – auch wenn fraglich war, ob sie das ausgerechnet mir anvertrauen würden. Ich schnallte mich ab und rutschte auf dem Sitz Richtung Fenster. Julien registrierte meine Bewegung und rief: „Elli, was machst du?“

Bestürzung lag in seiner Stimme, aber darum konnte ich mich jetzt nicht kümmern. Es musste etwas geschehen, bevor uns die Situation entglitt! Ich hielt mich mit beiden Händen an der Fensteröffnung fest, machte mich leicht und hechtete hinaus. Der Fahrtwind warf mich ein paar Meter zurück, doch ich fing mich rasch und schoss nach vorn über Juliens Wagen hinweg auf das Auto der Verbrecher zu.

Ich musste sie vorhin überrascht haben, denn sie hatten mich über den Haufen gerannt, als ich das Haus, in dem Frau Schmidt ihren Buchladen hatte, durch die Hintertür betreten wollte. Bis ich mich wieder aufgerappelt hatte, waren sie um die Ecke verschwunden. Ich hatte gehört, wie ein Auto anfuhr, und Julien angerufen, während ich in das kleine Lager des Buchladens gestürmt war. Es war total verwüstet. Und Frau Schmidt mitten im Chaos reglos auf dem Boden. Gerade als mich eine Panikattacke erfassen wollte, hatte sie die Augen geöffnet und gemurmelt: „Es ist alles gut, Elli, ruf mir nur einen Krankenwagen …“

Ich war losgerannt – ohne zu wissen, warum eigentlich. Es fühlte sich alles irgendwie gefährlich an und ich hatte Angst um Frau Schmidt. Julien war mit seiner Kiste um die Ecke geschaukelt, ich war in den Wagen gesprungen und wir hatten die Verfolgung aufgenommen. Während wir durch die Straßen gekurvt waren, um die Spur der Verbrecher zu finden, hatte er den Krankenwagen gerufen und seine Kollegen informiert. Julien war Polizist, Kriminalkommissar, besser gesagt. Aber eben noch war er privat unterwegs gewesen. Verabredet mit mir, bei Frau Schmidt. Oh, nicht daran denken jetzt, Elli, sonst wird das hier nichts …

Ich hatte das Auto erreicht, flog mit gleicher Geschwindigkeit über ihm her und warf mich dann quer auf die Windschutzscheibe. Hoffte, sie würden vor Schreck ins Schleudern geraten, doch das passierte leider nicht. Der Fahrer zuckte zwar zusammen, blieb dann aber erstaunlich ruhig und starrte mich böse an. Obwohl er nichts mehr sehen konnte, ging er nicht mit dem Tempo runter.

Er hatte einen fast viereckigen Schädel, kurze Haare und helle Augen, soweit das in der Dunkelheit zu erkennen war. Auf dem Beifahrersitz saß ein zweiter Mann, sonst befand sich niemand im Wagen. Sein Gesicht konnte ich aus meiner Position nicht genau sehen, nur, dass er kahl rasiert war und nicht viel älter sein konnte als ich. Wie aus einem Fernsehkrimi die beiden, das reinste Klischee.

Der Kahlkopf schrie irgendetwas und versuchte, dem Fahrer ins Lenkrad zu greifen. Der bellte zurück, und der Kahlkopf zog die Hände wieder ein. Dann ließ der Quadratschädel das Fenster herunter und angelte nach mir, während er weiterfuhr, als könne er durch mich hindurchsehen. Ich rutschte ein Stück Richtung Beifahrer, doch der hatte inzwischen auch den Arm draußen. Es wurde verdammt eng auf der Windschutzscheibe. Fieberhaft überlegte ich, was ich tun könnte. Währenddessen gelang es dem Fahrer, an mir vorbei auf die Straße zu schauen. Er grinste triumphierend. Das machte mich noch wütender, als ich sowieso schon war, und ich bewegte mich schnell wieder ein Stück auf ihn zu. Leider hatte ich seine Reichweite unterschätzt. Seine Finger krallten sich wie eine Beißzange in meine Schulter. Ich hatte das Gefühl, die Löcher, die er mir ins Fleisch grub, würden für immer bleiben. Plötzlich riss er an mir, als wollte er mich in den Wagen zerren. Das hätte er besser nicht getan.

Für einen kurzen Moment trübte ein roter Schleier meinen Blick, dann wurde es eiskalt in mir. Ich löste mich von der Scheibe und ließ mich vom Fahrtwind zurückwerfen. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte der Quadratschädel mich nicht mehr loslassen können. Im nächsten Augenblick war ein scheußliches Geräusch zu hören. Sein Arm war entweder gebrochen oder ausgekugelt. Jedenfalls hing er schlaff aus dem Fenster und ich war frei. Sicherheitshalber ließ ich mich erst einmal hinter den Wagen fallen und beobachtete die beiden. Der Kahlkopf lenkte jetzt, während der Quadratschädel fluchend versuchte, den verletzten Arm ins Wageninnere zu ziehen. Dabei stand er weiter auf dem Gaspedal und dachte offensichtlich nicht daran, langsamer zu werden. Oh Mann, ich hatte keine Ahnung, wie ich sie stoppen konnte. Doch ich war nicht gewillt aufzugeben. Dafür war meine Wut zu groß.

Julien fiel immer weiter zurück, obwohl er bestimmt aus dem Wagen herausholte, was ging. Ich warf mich noch einmal auf die Windschutzscheibe. Das musste einfach funktionieren! Die konnten nicht auf Dauer blind fahren. Jetzt wurde der Quadratschädel doch langsam nervös. Der Schmerz schien ihn zu beeinträchtigten. Trotzdem übernahm er mit der rechten Hand wieder das Steuer. Der Kahlkopf hatte auf einmal einen Schlagstock in der Hand, lehnte sich aus dem Fenster und schlug nach mir. Diesmal war ich in einer besseren Position – und vorsichtiger obendrein. Ich hockte mich komplett vor den Fahrer und wich den Schlägen des Beifahrers aus. Er traf nur die Windschutzscheibe. Dann versuchte er, sich aus dem Fenster zu lehnen – und wäre fast rausgefallen. Nachdem er so nichts ausrichten konnte, schleuderte er den Stock nach mir. So ein Idiot! Was er sich davon wohl versprochen hatte? Ganz gewiss hatte er nicht damit gerechnet, dass ich den Stock fangen würde. Ich übrigens auch nicht. Tat ich aber. Der Fahrtwind bremste seine Wucht und irgendeine Geistesgegenwart ließ mich nach ihm schnappen.

 

Na gut, dann war er jetzt dran. Er hatte es so gewollt. Ich legte mich wieder der Länge nach auf die Scheibe, ließ die Füße auf der Fahrerseite überhängen. Der Quadratschädel konnte nichts mehr sehen, selbst wenn er den Kopf aus dem Fenster hinge. Und der Kahlkopf hatte keine Chance, denn ich hielt den Schlagstock wie ein Skorpion seinen aufgerichteten Stachel, bereit zuzuschlagen, wenn er auch nur ein Körperteil aus dem Fenster streckte. Jetzt brauchte ich nur noch zu warten. Irgendwann musste eine Kurve kommen, die sie aus der Spur brachte. Ich hatte kein Mitleid mit diesen … mir fiel nicht ein einziges Schimpfwort ein, das schlimm genug gewesen wäre. Dabei ratterten in meinem Gehirn ununterbrochen Verwünschungen der ärgsten Sorte. Der Quadratschädel schaltete in seiner Verzweiflung die Scheibenwischer ein. Darüber hätte ich fast gelacht. Er fuhr jetzt langsamer, Julien konnte endlich aufholen. Eine Kurve tauchte nicht auf, doch Julien kam so weit heran, dass er in die Reifen schießen konnte. Der Wagen schlingerte.

Das Schlingern beunruhigte mich nicht. Wenn es darauf ankam, konnte ich jederzeit nach oben weg. Die Schüsse jedoch waren besorgniserregend – selbst wenn ich Julien unterstellte, dass er wusste, wohin er zielte. Das hier war kein Fernsehkrimi. Das war ernst. Besser, ich verzog mich hinter beide Wagen, aus der Schusslinie heraus. Ich hoffte inständig, dass wir mit den Typen fertig werden würden, wenn die Autos endlich zum Stehen kämen. Hielt den Schlagstock fest in den Händen, um einspringen zu können, falls Julien die Munition ausging.

Der Wagen der Verbrecher beschleunigte wieder, geriet dann aber endgültig ins Schleudern und schoss über den Seitenstreifen in den Wald hinein. Nach ein paar Metern Hoppelpiste, die ihn entscheidend abbremsten, blieb er zwischen zwei jungen Bäumen hängen. Leider überlebten die Bäumchen den Aufprall nicht. Sie knickten ab, das Auto fuhr noch über die schrägstehenden Stämme und krachte einige Meter weiter gegen einen Baum. Beide Männer durchbrachen die Windschutzscheibe und blieben bewusstlos auf der Kühlerhaube liegen. Ich hockte mich in sicherer Entfernung auf einen Baum und wartete auf Julien, ohne die beiden aus den Augen zu lassen. Mein Herz raste und vor Aufregung bekam ich kaum Luft. Julien brauchte eine ordentliche Strecke, bis sein Wagen so langsam war, dass er ihn wenden konnte. Doch dann legte er mit quietschenden Reifen und gezückter Pistole ganz filmheldisch seinen Auftritt hin.

Endlich, endlich legte er den Typen Handschellen an – hatte man als Kriminalkommissar eigentlich immer die passende Anzahl Handschellen dabei? Ja, das war jetzt mal eine ganz wichtige Frage. Sarkasmus gehörte normalerweise nicht zu meinem Repertoire, schon gar nicht Julien gegenüber. Wahrscheinlich war das die Anspannung. Ich war ganz schön durch den Wind. Von einer Sekunde auf die andere brach mein heiliger Zorn zusammen und Verzweiflung wollte mich überkommen.

Julien telefonierte – wahrscheinlich mit seinen Kollegen – und sah sich nach mir um. Leise sprang ich vom Baum. Eigentlich war es mehr ein Schweben, doch ich ließ es aussehen wie einen Sprung, denn ich war plötzlich befangen, Julien alles zu zeigen, was ich konnte. Er hatte schon viel zu viel gesehen. Während ich auf ihn zulief, setzte er zum Reden an. Seine Miene verhieß nichts Gutes, deshalb ließ ich ihn gar nicht erst zu Wort kommen. Bevor ich mir anhören wollte, was er zu sagen hatte, musste ich wissen, wie es Frau Schmidt ging. Der Schock, den mir der Anblick ihrer reglosen Gestalt versetzt hatte, saß mir tief in den Knochen.

„Was ist mit Frau Schmidt? Weißt du, in welchem Krankenhaus sie liegt? Hat dir jemand Bescheid gesagt? Wie geht es ihr?“ Die ersten beiden Fragen hatte ich ihm noch im Laufen zugerufen, jetzt war ich bei ihm angelangt und pflanzte mich vor ihm auf.

Julien hörte einen Augenblick auf, mich anzufunkeln, sein Blick wurde weich. „Es geht ihr einigermaßen. Sie hat Prellungen und blaue Flecke, keine größeren Verletzungen, aber einen Kreislaufkollaps. Sie haben sie stabilisiert. Wir können nachher noch bei ihr vorbeifahren.“

Ich war so erleichtert, dass ich ihn am liebsten umarmt hätte. Doch sein funkelnder Blick war zurückgekehrt und ich wurde vorsichtig. Wartete ab. Er atmete mächtig Luft in seine Brust – er machte Bodybuilding und konnte sich ganz schön aufblasen, wenn er wollte – und sprach dann in verdächtig ruhigem Tonfall: „So, junge Dame, und jetzt zu dir.“

„Junge Dame“ sagte er üblicherweise zu seiner kleinen Tochter, wenn sie etwas angestellt hatte. Ich hätte beleidigt sein können, schließlich war ich zweiundzwanzig und hatte ihm gerade geholfen, ein paar ganz fiese Mistkerle zur Strecke zu bringen.

„Kannst du mir bitte erklären, was du da eben gemacht hast?“ Seine Betonung des Wörtchens „bitte“ ließ keinen Zweifel an der Unausweichlichkeit einer ausführlichen Antwort.

Ich setzte trotzdem meinen unschuldigsten Blick auf und versuchte es mit: „Vom Baum gesprungen? Verbrecher gefangen?“

„Du weißt genau, was ich meine, Elli – was war das? Wie hast du das gemacht? Bist du Superwoman oder was? Von deinen Kunststücken abgesehen“, er kam langsam in Fahrt, „hätten die auf dich schießen können. Und du hast dem einen fast den Arm abgerissen! Schon mal darüber nachgedacht, dass wir es hier mit Menschen zu tun haben und nicht mit Figuren aus irgendeinem Computerspiel? Das ist vorsätzliche Körperverletzung!“

Vorsätzliche Körperverletzung? Computerspiel? Was redete er da? Ich hatte zwei Verbrecher bekämpft, die meine geliebte Frau Schmidt überfallen hatten! Und mit uns, also mit Julien und mir, hätten die auch keine Gnade gehabt. Wieso sollte ich da … Und überhaupt spielte ich diese blöden Computerspiele gar nicht. In meinem Verstand geriet ein bisschen was durcheinander und meine Knie wurden plötzlich weich. Nie hatte ich mich so sehr im Recht gefühlt wie vorhin, als ich versucht hatte, die beiden Typen unschädlich zu machen. Sehr deutlich hörte ich den Widerspruch in mir, mit dem ich Juliens Gekeife abschmettern wollte. Doch langsam dämmerte mir auch, was ich getan hatte. Genau das, was ich sonst immer verurteilte. Wow. Wo waren meine Überzeugungen geblieben? Zum Beispiel, dass jeder Mensch das Recht auf körperliche Unversehrtheit hatte? Seit ich angefangen hatte, mich mit Politik zu beschäftigen, war ich immer froh darüber gewesen, in einem Land zu leben, in dem diese Grundsätze eine Rolle spielten. Und jetzt – hatte ich sie bei der ersten Gelegenheit über den Haufen geworfen! Gut, der Quadratschädel hatte mich angegriffen, aber ich hätte mich auch befreien können, ohne ihn zu verletzen. Und ich war bereit gewesen, die beiden bewusstlos zu schlagen. Das war Selbstjustiz. Selbstgerechtigkeit!

Unterdessen hatte sich Juliens Lautstärke erheblich gesteigert, er brüllte ohne Punkt und Komma auf mich ein. Allzu viel bekam ich nicht mit. Ich war so geschockt von der Erkenntnis, wie radikal ich gewesen war – man musste es schon „brutal“ nennen – dass sich in meinem Kopf alles zu drehen begann. Ich hörte nur noch so etwas wie: „… wohl zu viel schlechte Krimis gesehen!“, dann musste ich mich auf den Boden setzen. Meine Ohren klingelten und mir war schlecht. Ich starrte auf die Erde und versuchte, auf die Reihe zu kriegen, wie das vorhin abgelaufen war, als ich mit den Typen gekämpft hatte. Was hatte ich gedacht, was gefühlt? Erinnere dich, Elli … Das Bild von Frau Schmidt auf dem Boden, mein Entsetzen darüber tauchte auf – und da war sie wieder, die Wut! Sie stieg rasend schnell in mir auf und blieb dicht unter der Schädeldecke hängen, ich konnte kaum noch klar denken. Ruhig, Elli, ruhig, du hast deine Rache gehabt, es ist vorbei, du musst dich nur noch erinnern!

Genau …! Rache – ich hatte diesen Dreckskerlen Schmerz zufügen wollen für das, was sie Frau Schmidt angetan hatten, für den Schreck, den sie mir eingejagt hatten, dafür, dass sie meine ohnehin nicht sehr heile Welt ganz aus den Angeln gehoben hatten! Es war gewesen, als hätten sich all meine Zellen mit heißem, rotem, brodelndem Nebel gefüllt, bis in die Augenhöhlen, nur das Gehirn war kalt geblieben. Ich hatte sehr klar und sehr taktisch gedacht in dem Moment, in dem ich den Quadratschädel verletzen wollte. Das scheußliche Geräusch des kaputtgehenden Arms hatte ich mit einer kleinen Befriedigung zur Kenntnis genommen. Weiter hatte ich nicht gehen wollen, aber war nicht das schon viel zu weit? Und was wäre passiert, wenn ich den Schlagstock hätte benutzen müssen? Ich hätte zugeschlagen, keine Frage. War ich zum Monster mutiert? Oder schon immer eins gewesen?

Ich entdeckte eine Seite an mir, die ich bisher noch nicht gesehen hatte, jedenfalls nicht in diesem Extrem. Es erschütterte mich zutiefst, dass ich auch jetzt noch keine Reue den Mistkerlen gegenüber fühlte, nur darüber, dass ich etwas verraten hatte, was mir ganz selbstverständlich als mein ureigenster Wert erschienen war. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich konnte nichts mehr denken, meine Brust war sehr eng, als würde sie zusammengedrückt, und tiefe Schluchzer stiegen in mir auf. Ich wurde regelrecht geschüttelt von ihnen, bis Julien mich an den Schultern packte und nach oben zog. Auch er schüttelte mich, aber sehr sachte, und rief wie aus weiter Entfernung meinen Namen.

„Elli …! Elli, beruhige dich, hör auf, komm schon …!“ Er zog mich an seine Brust und hielt mich fest. Eine Ewigkeit. Ich spürte seine Arme um mich, seine Wärme, hörte seine Stimme jetzt deutlicher, wie sie irgendwelche beruhigenden Laute murmelte. Nahm die Bewegung seines Atems in seiner Brust wahr, und dann nahm ich meinen eigenen Atem wahr und wurde tatsächlich ruhig.

Ich weinte nicht mehr. Hielt die Augen geschlossen und ließ meinen Kopf einfach auf seiner Brust liegen. Sanft schob er mich ein Stück von sich weg, um mir ins Gesicht zu schauen, und sagte leise und schnell: „Die Verstärkung und der Krankenwagen sind in ein paar Minuten da. Du musst dich wieder hinkriegen, sonst nehmen sie dich auch gleich mit.“

Erschrocken schaute ich ihn an.

„Die Sanitäter, meine ich, nicht die Kollegen.“

„Es tut mir so leid, Julien, ich weiß nicht –“

Er unterbrach mich.

„Wir reden später darüber, jetzt müssen wir dich erst mal zurechtmachen und absprechen, was wir über den Hergang sagen.“

Mein Gehirn arbeitete immer noch verlangsamt, ich hatte keine Ahnung, worauf er hinaus wollte.

„Naja, wir können schließlich nicht sagen, dass du hinter ihrem Wagen hergeflogen bist. Also: Wir haben sie verfolgt und aufgeholt, ich habe in die Reifen geschossen, dann sind sie in den Wald gerast. Mehr ist nicht passiert.“

„Aber die beiden werden –“

„Gar nichts werden die. Die werden sich hüten, davon zu reden. Das würde doch nie jemand glauben. Die würden sich total lächerlich machen, und die Kollegen würden ziemlich sauer reagieren. Aber“, er schaute mir sehr ernst in die Augen, „du weißt schon, dass du dir Feinde für den Rest deines Lebens gemacht hast. Feinde, die etwas von dir wissen, was sie besser nicht gewusst hätten.“

Ich nickte stumm. War total niedergeschlagen. Am liebsten hätte ich mich irgendwohin verkrochen und noch ein bisschen geheult. Doch von ferne waren schon die Sirenen zu hören.

„Wir müssen dich jetzt wieder herrichten“, sagte Julien und fing an, meine Klamotten zurechtzurücken.

Ich schaute an mir herunter. Oh weh, ich war von dem Kampf total dreckig. Wir wischten und klopften zu zweit an mir herum, ich versuchte, mir mit den Fingern die Haare zu kämmen und rieb mit den Händen mein Gesicht ab.

Julien betrachtete mich kurz und nickte. „So gehts“, meinte er, keinen Moment zu früh. Drei Fahrzeuge hielten, die Insassen stürzten an den Unfallort. Dann war vom Unfallwagen her ein Geräusch zu hören. Julien hatte sofort die Pistole im Anschlag, er raunte mir zu: „Zieh dich mal ein bisschen zurück, vielleicht haben die dich nicht gut gesehen im Dunkeln“, und rannte zum Wagen hinüber.

Der Quadratschädel regte sich und hob den Kopf. Ich verschwand zwischen den Bäumen und beobachtete das weitere Geschehen von dort aus. Zwei Polizisten liefen zusammen mit den Sanitätern zu den Verletzten, zwei andere begannen mit der Untersuchung des Unfallortes. Die Verbrecher wurden in den Krankenwagen bugsiert. Während der Quadratschädel sich widerwillig zwischen den Sanitätern bewegte, sah er sich immerfort um. Es schien, als würde er tatsächlich nach mir suchen. Der Kahlkopf war noch immer bewusstlos.

 

Als die Gefangenen verstaut waren, sprachen die beiden Polizisten mit Julien. Sie notierten seine Aussage. Er zeigte auf mich und ich trat zwischen den Bäumen hervor, achtete darauf, dass ich vom Krankenwagen aus nicht gesehen werden konnte. Julien beruhigte mich, als ich neben ihm stand. „Er liegt“, flüsterte er kurz, „er kann dich unmöglich sehen.“

Ich atmete auf. Einer seiner Kollegen nahm meine Personalien auf und befragte mich zum Tathergang. Ich wunderte mich, dass er sich nicht wunderte, was ich hier machte. Julien musste bereits eine gute Begründung geliefert haben. Also antwortete ich so unpräzise wie möglich, um ihm nicht ins Handwerk zu pfuschen. Der Kollege gab sich zufrieden, anscheinend genügte ihm die Aussage von Julien. Der war schließlich ein Vorgesetzter. Ein paar Minuten später konnten wir gehen. Julien nahm mich am Arm.

„Auf ins Krankenhaus“, sagte er, sprang in seinen Wagen und fuhr los, kaum, dass ich die Beifahrertür geschlossen hatte. Es sah so aus, als wollte er so schnell wie möglich vom Unfallort wegkommen. Als ich ihn fragend ansah, nickte er.

„Der, der wach geworden ist, kommt mir verdammt bekannt vor. Ich will noch in die Kartei gehen, den habe ich irgendwie unter ,gefährlich‘ abgespeichert.“

Ich wäre gern mit aufs Revier gekommen, um mir mit Julien die Kartei anzusehen, doch er lehnte ab. „Übertreib’s nicht, Elli. Ich glaube, es reicht für heute.“

„Wieso? Ich könnte dir helfen, ihn zu identifizieren.“

„Das krieg ich schon noch allein hin.“ Damit war die Diskussion beendet. Ich kannte Julien lange genug, um zu wissen, wann ich aufhören musste. Vermutlich reichte es ihm selbst auch – mit mir.

Im Krankenhaus konnten wir nur die Nachtschwester sprechen, die Patienten schliefen alle, klar. Frau Schmidt lag nicht mehr auf der Intensivstation, das beruhigte mich. Die Nachtschwester war sehr nett und ging extra noch einmal nach ihr schauen. Als sie wiederkam, lächelte sie. „Sie schläft so friedlich, als wäre sie im Urlaub.“ Damit musste ich mich wohl für heute begnügen.

Julien bestand darauf, mich nach Hause zu bringen, obwohl ich lieber geflogen wäre. Ich wollte das Thema aber dann doch nicht mehr anschneiden. Hätte mir allerdings denken können, dass Julien sich nicht so einfach zufrieden gab. Er nötigte mir das Versprechen ab, ihm am nächsten Morgen alles, aber auch restlos alles zu erklären. Wir verabredeten uns zum Frühstück in seinem Lieblingscafé, und er brauste davon. Es war schon so spät, dass nicht zu befürchten war, es würde jemand im Treppenhaus herumspazieren, also schoss ich die Treppen im Dunkeln nach oben in den elften Stock, wo meine Wohnung lag. Als ich die Tür hinter mir schloss, stiegen mir schlagartig Tränen in die Augen. Nun merkte ich doch, wie angespannt ich die ganze Zeit gewesen war. Dusche und Bett, mehr verkraftete ich jetzt nicht mehr. Julien hatte recht gehabt. Ich hatte genug. Auf dem Weg zum Bad zerrte ich mir die Klamotten vom Körper, konnte plötzlich kaum noch erwarten, warmes Wasser auf der Haut zu spüren. Heißes Wasser eigentlich, fast an der Schmerzgrenze. Ich wollte am liebsten die ganze Aufregung des heutigen Abends von mir abspülen – natürlich ohne Erfolg.

All die Menschen schwirrten in meinem Kopf herum – Frau Schmidt, die Verbrecher, Julien, seine Kollegenmannschaft. Alles wuselte durcheinander und formte sich zu neuen, skurrilen Bildern und ich immer mittendrin, fliegend, wütend. Ich brachte keinen klaren Gedanken zustande. Hätte diese Dusche mich nicht einfach entspannen können? Resigniert stellte ich das Wasser ab, brachte meine Abendtoilette zu Ende und kroch in meinem gemütlichsten Schlafanzug ins Bett. Obwohl an Schlaf nicht zu denken war, wenn ich es nicht schaffte, mich zu beruhigen. Ich versuchte, meinem Atem zu folgen, wie er sich in meinem Körper ausbreitete. Nichts weiter. Nur atmen. Dann konzentrierte ich mich auf die Empfindung meiner Arme und Beine. Atem, Arme, Beine – nur das. Später den restlichen Körper dazu, atmen, empfinden. Langsam wurde es stiller in mir.

Ich dachte an Julien. Nur an Julien. Alle anderen Personen sperrte ich aus. Sie waren mit zu vielen verwirrenden Bildern verknüpft. Julien war verlässlich. Er war heute so gewesen wie immer und würde es auch morgen sein. Bis auf die Tatsache, dass er seit ein paar Stunden mein Geheimnis kannte. Morgen würde ich ihm alles erzählen müssen, und deswegen war es gut, jetzt noch ein bisschen an ihn zu denken. Mir in Erinnerung zu rufen, was ich von ihm wusste. Wie ich meine Erklärung so gestalten konnte, dass er sie verstand.

Ich kannte Julien jetzt gut ein Jahr. Wir waren uns in einem Seminar zur Kriminalliteratur begegnet. Ich studierte Sprachen und arbeitete mich nebenbei durch alle angebotenen Genres in der Literaturabteilung, denn eigentlich träumte ich davon, Schriftstellerin zu werden. Julien war Hauptkommissar bei der hiesigen Kripo und wollte ebenfalls schreiben. Einem echten Kommissar zu begegnen, fand ich sehr spannend. Mein ganzes Wissen über das Innere eines Polizeireviers stammte aus Kriminalfilmen und jetzt hatte ich ein lebendes Exemplar vor mir. Ich fragte und fragte und fragte. Julien war der geduldigste Antworter, den ich je kennengelernt hatte. Vielleicht lag es einfach daran, dass er seinen Beruf über alles liebte – nicht ganz so wie seine kleine Tochter und seinen Freund, aber genug, um mir mit Begeisterung auch nach Stunden noch ausführlich zu antworten.

Wir hatten von Anfang an ein Faible füreinander und trafen uns auch noch, nachdem das Seminar beendet war. Ich lernte Juliens Familie kennen: seine Tochter Martha, seinen Freund Gus. Martha sah aus wie eine Miniaturausgabe von Julien mit längeren Haaren. Sie war gerade in die Schule gekommen. Gus hieß eigentlich Gustav, doch so durfte ihn niemand nennen, nur Martha, wenn sie sauer auf ihn war. Das kam allerdings nicht sehr oft vor, denn Gus lag Martha zu Füßen. Er war originell, fantasievoll und sehr einfallsreich, wenn es darum ging, das Kind bei Laune zu halten. Er hatte Martha sein gesamtes Schlagerrepertoire beigebracht – das ungefähr dreißig Jahre umfasste. Natürlich wollte Martha Schlagersängerin werden. Und sie hatte beschlossen, niemals zu heiraten, sondern immer bei Papa und Gus zu wohnen.

Marthas Mutter fuhr zur See. Als sie schwanger geworden war, hatten Julien und sie versucht, eine normale Familie zu sein. Nach zwei Jahren hatten sie sich geeinigt, dass Martha bei Julien bleiben sollte, und sie war wieder losgezogen. Ungefähr zur selben Zeit, als Julien Gus kennenlernte und entdeckte, dass er eigentlich auf Männer stand, war sie zu Greenpeace gegangen. Martha war gerade drei geworden. „Ich bin nun mal kein Muttertier, aber ich liebe meine Tochter und kann auf diese Weise etwas für sie tun“, hatte sie ihm von dem Schiff, auf dem sie unterwegs war, geschrieben. Julien hatte mir das erzählt, weil Martha eines Tages auf dem Spielplatz auf die Frage nach ihrer Mutter stolz geantwortet hatte: „Meine Mama ist kein Muttertier, sie ist Seefahrerin.“ Wie sie diesen Ausdruck aufgeschnappt haben konnte, war ihm bis heute ein Rätsel geblieben. Jedenfalls hatte Martha Papa, „mein Gus“ und Mama. Und seit einem Jahr auch noch „meine Elli“. Hin und wieder passte ich nämlich auf sie auf, wenn Papa und Gus mal ausgehen wollten.

Julien war fünfunddreißig, groß und schlank, hatte hellbraune, kurze Locken, dunkelgraue Augen und ein unglaublich warmes Lächeln. Er war einfühlsam, intelligent und ein bisschen draufgängerisch. Er hatte eine nicht zu verstehende Vorliebe für locker sitzende Cordhosen – sehr zum Leidwesen von Gus und mir, weil sie seine wirklich gute Figur überhaupt nicht zur Geltung brachten. Nur zum Ausgehen brezelte er sich auf. Manchmal sah er so umwerfend aus, dass Martha, Gus und ich uns einig waren, den schönsten Mann der Welt zu kennen. Julien war mein bester Freund, aber zum Glück war er nicht mein Typ. Keine Probleme also.

Ich fragte mich oft, wer denn eigentlich mein Typ sei, denn bisher war ich ihm noch nicht über den Weg gelaufen. Mein Liebesleben entsprach dem einer Nonnenanwärterin. Nicht, dass es mich sonderlich gestört hätte, meistens war ich zu beschäftigt mit studieren, schreiben, bei Frau Schmidt rumhängen – und natürlich jede Nacht ein paar Stunden fliegen. Und dann hatte ich ja noch Julien, Martha und Gus. Nur manchmal, wenn ich an meine Zukunft dachte, kam es mir komisch vor, dass ich keine Vorstellung davon hatte, wie ich überhaupt eine Beziehung führen könnte mit einem normalen Mann. Ich hätte mir gewünscht, jemanden zu finden, der auch flog. Wie sollte das denn sonst gehen – mit einem Mann, der es nicht konnte? Ihn einweihen? Ihn jede Nacht verlassen, um allein herumzufliegen? Vielleicht würde ein normaler Mann ja wollen, dass ich es aufgäbe. Das ginge schon mal gar nicht. So drehten sich meine Gedanken immer im Kreis, bis ich ärgerlich auf mich selbst wurde und diesen Quatsch einfach sein ließ. Normale Männer waren also nicht so interessant für mich wie ich für sie. Allzu häufig musste ich allerdings keinen abwimmeln. Ich galt als unnahbar.

Tja, jemanden, der fliegen konnte, hatte ich bis jetzt noch nicht getroffen. Deshalb fühlte ich mich manchmal einsam. Dass ich es konnte, wusste auch keiner. Außer meinen Eltern. Und jetzt Julien. Noch nicht mal meine kleine Schwester wusste es. Bei diesem Gedanken wurde ich traurig, wie immer, wenn ich an sie dachte. Da ich das gerade am allerwenigsten gebrauchen konnte, konzentrierte ich mich schnell wieder auf meinen Atem. Ich war ziemlich abgeschweift von Julien und meiner Erklärung. Aber heute fiel mir nichts mehr ein. Es wurde auch bald hell, ich sollte jetzt doch noch ein wenig schlafen. Probehalber schloss ich die Augen, merkte auf einmal, wie müde ich war, und vergrub mich in meiner weichen Bettdecke.