Buch lesen: «Das Blut des Sichellands»

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Das Blut des Sichellands

Der Große Krieg

von

Christine Boy

Impressum

Das Blut des Sichellands – Der Große Krieg

Christine Boy

sichelland@gmx.de

Copyright: © 2013 Christine Boy

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-6869-0

Alle Rechte vorbehalten.

Über die Wahrheit

Hoch oben im Norden Sacuas, des legendären Kontinents, erstreckt sich das Sichelreich. Voller Geheimnisse und düsterer Mysterien und zugleich so voller Leben und Stolz, dass in den heutigen Tagen alle Völker vor dieser Macht erzittern.

Und doch gab es dunkle Zeiten, in denen die Menschen Cycalas' schwere Stunden durchlebten.

Dies ist die Geschichte jener Tage, die man den "Großen Krieg" nannte und es ist die Geschichte eines Blutes, das das Sichelland beherrscht.

Und allem zugrunde liegen die Chroniken der Batí, des elften Stammes, und die Gesetze des Schlangengottes Ash-Zaharr, der für alle Zeit herrschen wird über das Sichelvolk, so wie er es schon immer tat, seit jenen Tagen, mit denen das neue Zeitalter begann.

Und zugleich ist dies die Geschichte Lenyca Ac-Sarrs, deren Leben von Geburt an vorbestimmt war und die das Schicksal eines Tages auf den Thron erhob. Sie wurde geschrieben und sie wird bis heute erzählt, doch manch ein Teil dieser Vergangenheit ist verlorengegangen im ewigen Schweigen und Vergessen. Manch ein Teil wird geleugnet, ein anderer herausgehoben, und immer geringer wird die Zahl derer, die wissen, was sich einst zugetragen.

Und so ist dies vor allem eine Geschichte der Wahrheit, ungeachtet aller Lügen und Gerüchte, ungeachtet derer, die vergessen wollen und ungeachtet derer, die verzerren.

Denn dies ist, was wirklich geschah.

Kalender

In Cycalas beginnt das Jahr – ausgehend von den uns bekannten Monaten – mit dem Neujahrstag am 1. März. Das sichelländische Jahr wird in drei Jahreszeiten und zwölf Monate unterteilt.

Jahreszeiten:

Tara-Pta (Sis bis Assmon) – Wintererwachen/ Frühling

Tara-Vil (Halos bis Wentril) – Sonnenzeit/ Sommer & Herbst

Tara-Meshem (Gom bis Mena) – Die Kälte/ Winter

Monate:

Sis (März)

Rin (April)

Assben (Mai)

Assmon (Juni)

Halos (Juli)

Halester (August)

Neb (September)

Wentril (Oktober)

Gom (November)

Shiu/ Ziu (Dezember)

Ach-Que (Januar)

Mena (Februar)

Aus den Schriften der Batí

Vom Beginn des neuen Zeitalters

Und während im südlichen Sacua die Menschen einem armseligen Kult verfielen und sich zunehmend von den Mächten abwandten, denen sie eigentlich hätten untertan sein sollen, erblühte das Volk Cycalas' zu großem Glanz.

Ash-Zaharr, der Große, hatte Wohlgefallen an ihnen gefunden und an seiner Gestalt, in der er sich ihnen zuweilen zeigte. Die wahre Weisheit des Dämons bestand darin, sich nicht von den Menschen zu entfernen, die ihn anbeteten und die ihm opferten, sondern von eben jenen Mächten, die zu arrogant und zu blind waren, seine wahre Größe zu erkennen. Und doch ließ die Schlange sein Volk spüren, dass es allein sein Wille war, der ihr Leben lenkte und der entschied, was sein durfte und was nicht.

Er zeigte es ihnen auf vielfältige Weise, indem er sie strafte, wenn sie sich versündigten und indem er ihnen nahm, wessen sie nicht würdig zu sein schienen.

So holte er eines Tages die Priesterinnen des Lichts in sein Reich, denn er wollte nicht, dass sie begafft und begehrt wurden von den schwarzen Hütern der Sichel. „Ihr“, so sprach er zu seinem Volk“, „ihr seid die Kinder der Nacht, des Schattens, des Todes. Ihr sollt weder besitzen noch begehren, was euch vernichten könnte. Ihr sollt nicht verlangen nach dem, was meins ist und was euch nur Verderben bringen könnte. Ich bin der Herr der Finsternis und dennoch ist ein Teil in mir, der das Licht bändigt, denn nur so kann ich existieren.“ Und er wischte die Priesterinnen des Lichts mit einem einzigen Fluch vom Antlitz Cycalas' und nannte den Ort, an dem sie einst verweilt, die Heimstatt der Schlafenden. Denn nur die Toten sollten noch teilhaben an jenem Glanz, den die Lichtgestalten einst gebracht.

Doch Ash-Zaharr sah auch, dass sein Volk nicht wie die anderen war. Er sah ihre Stärke und ihre Kraft und dass sie nach mehr verlangten. Sie wollten nicht nur aufschauen zu einem Gott, sondern auch selbst teilhaben an der Macht, die er verkörperte.

Und er wusste, dass die sechs Mächte, die ihn nicht als einen der Ihren anerkannten, ihn noch mehr verdammen würden, wenn er mehr mit den Menschen teilte als nur seinen Anblick. War dies nicht der Zeitpunkt, sich noch weiter zu erheben und sich zu trennen von jenen Grundsätzen, die die anderen verband, ihn aber ausgrenzten?

„Sehet, ich bringe den Tod und die Nacht, ich bin das Verderben und das Leid, ich bin das Ende und das Nichts! Ohne mich gibt es keinen Tag, kein Leben, kein Licht! Und sehet, dies sind jene Menschen, die mir dienen. Ein Volk, wie es nie zuvor gesehen wurde! Und ihr werdet erbeben vor ihnen!“

So ging er wieder über in die Gestalt der alles beherrschenden Schlange, so voller Grauen und Macht, dass ein jeder erschauerte. Und er wählte sich drei Dienerinnen, die sich schon lange seine Aufmerksamkeit verdient hatten, weil sie dem, was er begehrte, näher waren als alle anderen.

„Halt ein!“ riefen da die Sechs, als sie erkannten, was Ash-Zaharr zu tun gedachte. „Gib ihnen nicht, was ihnen nicht gebührt! Sie werden auf ewig verflucht sein. Auf ewig an dich gebunden! Sie werden ein eigenes Volk werden, das uns stürzen wird!“

„Gehet und kehret mir und den Meinen weiter den Rücken!“ stellte sich Ash-Zaharr ihnen entgegen. „Ich bin die Grenze, die ihr selbst nicht ziehen könnt! Dies ist mein Volk und ich werde mit ihm enger verschmelzen, denn ich hebe mich nicht wie ihr auf einen Thron, sondern werde meine Kräfte dort einsetzen, wo sie unabdingbar sind!“

Und er wählte eine Bäuerin, da sie Land fruchtbar gemacht hatte, welches als öde und tot galt.

„Du hast den Tod besiegt,, indem du mit Geschick und Wissen und harter Arbeit dagegen gekämpft hast. Komme zu mir und gebe dich hin, dann werde ich, der Tod, selbst das Leben schaffen! So wie du Samen auf toten Fels gestreut hast, werde ich dergleichen tun, indem ich einem menschlichen Körper den Gott selbst offenbare.“

Und er nahm sich die Frau und gab ihr mit seinem Blut und seiner greifbaren Gestalt jenen Samen, der ihr ein Kind schenken sollte.

„Siehe, deine Nachkommen werden die Geliebten dieser Erde sein. Sie werden das Volk am Leben halten, werden es versorgen und werden Jene lehren, die ebenfalls nach eurem Wissen streben. Mit ihnen gemeinsam werdet ihr die erste stützende Säule sein, ohne die dieses Land zugrunde gehen wird. Ich schenke euch eine unvergleichliche Macht, doch ich nehme euch zugleich die Bande zu eurem Gott. Niemals werde ich euch hören, wenn ihr mich anruft, noch werde ich erscheinen, wenn ihr mich beschwört. Ich schütze und verteidige euch, aber ich bin für euch ferner als der Mond.“

Und er nahm sich eine zweite Frau, jene, die es wie keine andere verstand, Worte zu finden, die ihm gefielen. Jene, die weise und gerecht war und bescheiden, mehr als alle anderen.

„Du hast zu mir gesprochen, wie es niemand sonst vermocht. Und doch sprichst du nicht nur zu mir, sondern auch zu den Menschen. Du sprichst Recht und Weisheit und erhebst mit deinem Wissen und deinen Worten den Geist aller. Und so wie in deinem Geiste das Wissen reift, soll in deinem Leibe auch die Frucht reifen, die ich dir schenke und deren Geist noch größer sein wird, denn sie ist ein Teil von mir.“

Und es kam, wie er versprochen hatte, denn auch ihr erschien er in seiner greifbaren Gestalt und gab ihr jenen Samen der Weisheit und des Wortes, den er ihr verkündet.

„Siehe, deine Nachkommen werden die Diener des Himmels sein. Sie werden für das ganze Volk die Säule der Gerechtigkeit und des Wissens sein. Aber überdies hinaus werdet ihr diejenigen sein, die allein zu mir sprechen dürfen. Nur euch werde ich antworten, wenn ihr ruft und nur ihr werdet meine Verbindung sein!“

So rief er zuletzt die dritte Ausgewählte zu sich. Es war jene, die mehr Feinde als jeder andere getötet hatte und welche kein Mitleid, keinen Schmerz und kein Bedauern kannte, wenn sie ein Leben auslöschte.

„Du bist die Kraft und die Rache und die Wut, du bist die Kämpferin, die sich mehr als jede andere um dieses Land verdient gemacht hat. Deine Hand nahm zahllose Leben, die sonst das Volk bedroht hätten, dein Herz schlägt mit Zorn. So werde ich diese Kraft noch steigern, denn so wie die Wut in dir erwächst, so wird nun auch mein Erbe in dir wachsen und es wird dir neben so vielem, was mein ist auch noch etwas geben, was dich belohnen wird, denn dein Durst wird unstillbar sein.“

Da nahm er sich die Dritte und offenbarte ihr seine wahre Macht und er schenkte ihr den Samen, der glühender loderte als das Feuer der Hölle und der mehr schmerzte als jede Klinge, die sie je gehalten und der sie dennoch mehr mit Befriedigung erfüllte als jede bisher geschlagene Schlacht.

„Ihr bringt die Dunkelheit über den Feind und die ewige Verdammnis. Ihr werdet die Gebieter der Nacht sein und jeder, der sich euch anschließt wird die Furcht, die andere Völker empfinden, noch weiter steigern und dem Land jenen Schutz geben, den sonst nur ich zu leisten vermag. In euch fließt mehr meines Blutes als in jedem anderen. Doch ihr seid mir so nahe, dass ich euch von mir weisen muss. Die einen können mich nicht rufen. Die einen müssen mich rufen. Aber ihr, ihr dürft es nicht. Eure Fehler und Sünden werde ich härter als die aller anderen strafen!“

Und so gebaren die drei Dienerinnen dem Großen seine Nachkommen, aus denen die drei Säulen entstanden, auf denen die Sichel ruht. Und an einer jeder Spitze stand von nun an der Herrscher der Säule, der aus den Seinen erwählt wurde.

Das Blut des Sichellands
11. Tag des Sis im 8. Jahr Satons

Kaum ein Sonnenstrahl fiel durch die dichten Kronen und Äste der Kiefern, Fichten und Eiben und am Waldboden herrschte ein dunkelgrünes Dämmerlicht, selbst in den Sommermonaten. Dann roch es nach Moos und Farn, nach Pilzen und Beeren.

Im Sommer.

Aber der war noch fern.

Weiter oben, dort wo der Forst das geheimnisvolle Yto Te Vel schützte, lag sogar noch Schnee. Schnee, der hier gar nicht erst bis zum Boden gelangte, sondern nur die höchsten Baumwipfel bestäubte.

Im Sommer war es hier, im fortwährenden Schatten, angenehm kühl.

Im Sommer.

Jetzt kämpfte Mensch wie Tier gegen eisige Kälte. Die Bäume schützten vor Regen, Schnee und Wind. Aber nicht vor dem Frost. Gerade an Tagen wie diesen, wenn die Sonne hoch über dem Wald scheinheilig am milchigen Winterhimmel strahlte, schnitt diese Kälte besonders unbarmherzig ins Fleisch. Man fühlte, sah und hörte sie, wenn man durch das gefrorene Unterholz wanderte und der Atem sich in glitzernde Nebelwolken verwandelte.

Aber es kam selten jemand in diese so stille Gegend. Nur hin und wieder suchten einzelne Menschen den Weg durch den Forst und sie verharrten nie lange, sondern mühten sich, die Reise rasch hinter sich zu bringen. Nicht, weil sie sich vor Wölfen und anderem Getier fürchteten und auch nicht, weil sie der Düsternis des Waldes entfliehen wollten, sondern weil es sie zu ihrem Ziel zog und es nur wenige, dann aber umso dringlichere Gründe gab, Yto Te Vel zu besuchen oder zu verlassen.

Doch dieses eine Mal ließen sie sich Zeit, die Menschen, die vom Süden hergekommen waren. Vier an der Zahl und sie ritten auf Mondpferden, von denen ein jedes so schön gewachsen war, dass es dem gemeinen Volk auf den Straßen Semon-Seys die Sprache verschlug, wenn sie sich dort zeigten.

Beinahe eine Stunde war es nun her, dass die Gruppe eine Rast beschlossen hatte. Drei Männer und eine Frau waren abgesessen und einer von ihnen, ein wahrer Hüne, hatte sich sofort daran gemacht, ein Feuer zu entfachen, an dem sich die erschöpft wirkende Gefährtin aus ihrer Mitte wärmen konnte. Ein anderer nahm seinen eigenen Umhang ab und legte ihn ihr zusätzlich zu ihrem eigenen über die Schultern.

"Früher hat mir diese Kälte nichts ausgemacht. Und auch das Reiten nicht." sagte die Frau leise und obwohl sie sich um einen scherzhaften Ton bemühte, entging ihren Begleitern nicht die Sorge, die darin mitschwang. Sie begriffen nicht ganz, woher sie entstammte, denn der Grund für die fehlende Kraft lag auf der Hand und eigentlich hätte die Geschwächte gerade deshalb fröhlich sein müssen. Doch schon seit geraumer Zeit wich das strahlende Lächeln häufig einem traurigen Ausdruck, den sich niemand so recht erklären konnte.

Auch nicht der, der sich am meisten um sie bemühte.

"In Yto wartet ein warmes Haus auf uns. Es tut mir leid, dass ich dir diese beschwerliche Reise zumute. Wir hätten früher gehen sollen."

Sie schüttelte sachte den Kopf.

"Wir konnten nicht früher gehen. Du wurdest gebraucht und du wirst es immer noch. Und ich weiß, wie wichtig es ist, dass es in Yto Te Vel geschieht und nirgendwo sonst."

Sie zog seinen Umhang noch enger um sich und presste die Lippen zusammen, damit sie nicht zitterten. Im selben Moment durchfuhr ein heftiger Schmerz ihren Leib und sie zuckte unwillkürlich zusammen. Sofort hob ihr Beschützer den Kopf.

"Alles in Ordnung." versuchte sie, ihn zu beschwichtigen, konnte aber nicht verhindern, dass ihr Atem sich beschleunigte. "Das ist ganz normal. Sie... sie hat manchmal ein ziemliches Temperament." Jetzt lächelte sie wieder.

"Bist du dir wirklich sicher? Ich meine, es könnte auch ein 'er'..."

"Ich bin mir sicher, Saton. Und die Heiler sind es auch." Und nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: "Bist du enttäuscht?"

Doch Saton lachte.

"Enttäuscht? Darüber, dass ich eine wundervolle Tochter bekomme, die uns schon vor ihrer Geburt auf Trab hält? Niemals! Sie wird ihrer Linie alle Ehre machen!"

"Das wird sie...." bestätigte die Frau leise. "Eine wahre Tochter der Nacht. Sie lässt mich kaum schlafen.“

„Das zeigt, wie gesund sie ist.“ erwiderte Saton stolz. Doch dann wurde er nachdenklich. „Es ist eine schwere Zeit für dich. Ich sehe, dass du oft Schmerzen hast. Die Heiler...“

„... können das nicht verhindern. Nein, Saton, kein Heiler kann das. Aber nicht mehr lange, und dann...“

Sie sprach den Satz nicht zu Ende, doch aus irgendeinem Grund schien sie das Vergehen ihrer Beschwerden eher zu fürchten, denn herbeizusehnen. Saton hatte es längst aufgegeben, seine Gemahlin nach dem Ursprung ihrer Traurigkeit zu fragen und er war sich sicher, dass sie bald zu ihrer alten Zuversicht zurückfinden würde, wenn das Kind erst geboren war.

Einige Schritte vom Feuer entfernt standen die beiden Männer, die das Paar begleiteten. Sie zogen sich während der Ruhepausen stets ein wenig zurück und mühten sich darum, den werdenden Eltern die eine oder andere Gelegenheit zu einem unbelauschten Gespräch zu geben. Jetzt beugte sich der Hochgewachsene, der die Flammen entfacht hatte, zu seinem nur wenig kleineren Kameraden hinüber.

„Mit der Nacht nimmt die Kälte zu. Und Yto Te Vel ist noch weit.“

Der andere nickte stumm.

Auch Saton hatte die Worte vernommen.

„Geduld, Wandan! Allein Cureda entscheidet, wann sie bereit ist, weiterzureiten.“

„Aber er hat recht...“

Zaghaft löste sich Cureda aus Satons Arm, der auf ihren Schultern lag. „Wir sollten nicht länger hierbleiben. Das Reiten schmerzt, aber die Kälte der Nacht würde mich nur noch mehr schwächen.“

Sie rief ihr Pferd herbei, doch selbst mit Satons Hilfe fiel es ihr schwer, wieder aufzusitzen. Unter ihrem weiten, schwarzen Ritualgewand und dem Wollumhang war kaum zu erkennen, wie nah die Geburt schon war. Nur wenn sie, wie jetzt, im Sattel saß und der Stoff sich glatt um ihren Leib spannte, zeichnete sich darunter der runde Bauch der Schwangeren ab. Sie legte eine Hand darauf und griff mit der anderen nach den Zügeln.

„Du darfst dich nicht überanstrengen.“ sagte Saton, während seine eigene Stute auf ihn zutrabte. „Wir könnten auch ein Lager aufschlagen und mehrere Feuer anzünden. Wenn du dich mit unseren Umhängen wärmst...“

„Das kommt nicht in Frage. Ich schaffe es bis Yto. Noch heute. Und ich möchte, dass Wandan und Cala mich antreiben, wenn ich zu langsam bin. Keine falsche Rücksicht. Bitte.“

Sie sprach mit Nachdruck und Saton gab sich vorerst geschlagen. Das zarte Erscheinungsbild Curedas hatte ihn schon oft über ihre eigentliche Stärke hinweggetäuscht, auch wenn ihre Kraft in den letzten Wochen zunehmend bröckelte.

Cala und Wandan, die beiden Männer, die ihnen zur Seite standen, wirkten erleichtert und nickten sich in stillem Einverständnis zu, bevor auch sie sich auf die Pferde schwangen.

„Sie ist hart im Nehmen.“ meinte Cala leise.

„Das ist sie.“ stimmte Wandan zu. „Aber sie leidet. Auch wenn sie versucht, es zu verbergen.“

„Ist das ein Wunder? So kurz vor der Geburt....“

„Kurz? Die Heiler sagen, das Kind kommt im Rin zur Welt. Und jetzt ist noch nicht einmal die Hälfte des Sis vorüber. Also kann durchaus noch ein ganzer Monat vergehen... Und ist dir nicht aufgefallen, wie sehr ihr die Schwangerschaft zusetzt? Andere blühen auf, aber Cureda...“

Cala runzelte die Stirn.

„Machst du dir Sorgen?“

Wandan antwortete mit einem grimmigen Schnauben.

„Natürlich. Und nicht nur ich. Das ganze Sichelland wartet auf dieses Kind. Und Saton denkt an nichts anderes. Es ist gut, dass sie nach Yto gehen. Dort haben sie Ruhe. Beide. Cureda und Saton. Aber ich denke, sie hätten früher gehen sollen.“

Eine ganze Weile ritten sie schweigend nebeneinander her, nur wenige Meter hinter denen, die sie beschützen sollten. Sie kannten diesen Wald, hier drohte keine Gefahr durch Angreifer, aber trotzdem wollten sie sich nicht zu weit entfernen.

„Sie sind ein schönes Paar.“ sagte Cala nach einer Weile. Sein Blick galt immer noch Saton und Cureda. Beide hatten ihre langen schwarzen Haare offen über die Schultern gebreitet und sahen sich so auffällig ähnlich.

„Sind sie.“ brummte Wandan.

„Wie füreinander geschaffen.“

„Sind sie. Wirst du jetzt melancholisch?“

„Vielleicht. Ich frage mich, wie ihre Tochter wird. Eine stille Priesterin wie Cureda oder eine mächtige Kriegerin mit den Fähigkeiten Satons.“

Wandan zuckte die Achseln.

„Lass sie erst mal zur Welt kommen. Sie wird ihren Weg schon gehen.“

Satons Anwesen in Yto Te Vel lag abseits der anderen Gebäude, umgeben von einem kleinen Garten und hohen Bäumen. Die Dienerschaft, die hier während seiner Abwesenheit alles hegte und pflegte, hatte jeden Raum besonders herausgeputzt und war nun peinlich darauf bedacht, dem Hausherrn, seiner Gemahlin und den beiden mitgereisten Gästen jeden Wunsch zu erfüllen.

Obwohl bei ihrer Ankunft die Nacht bereits hereingebrochen war, hatte Saton Wandan noch in sein Arbeitszimmer gebeten. Beide waren noch nicht wirklich müde und ihrer beider Pflichten boten nur selten Zeit für zwanglose Gespräche. Aber noch ehe sie es sich bequem gemacht hatten, platzte Wandan mit dem heraus, was ihn schon seit einigen Stunden beschäftigte.

„Ich könnte bleiben. In Vas-Zarac kommt man auch ohne mich aus.“

„Nein, Wandan.“ Saton winkte ab. „Ich weiß dein Angebot zu schätzen. Und glaub mir, ich hätte dich gern in meiner Nähe, in diesem besonderen Moment. Gerade dich. Aber ich darf nicht egoistisch sein. Geh nach Semon-Sey zurück und sorge dort für Ordnung. Es darf nicht zum Chaos kommen, nur weil der Shaj Vater wird.“

„Das täte es sicher nicht. Also gut, du willst es nicht anders. Aber du lässt es mich wissen, wenn du mich brauchst? Ich kann, wenn es sein muss, innerhalb eines Tages hier sein.“

„Das weiß ich.“ Er klopfte seinem Freund auf die Schulter, dann wies er zu zwei Sesseln, die vor dem Kamin standen.

„Sijak?“

Wandan nickte. „Gern.“

Saton reichte ihm einen Kelch, den er zuvor mit einer blutroten Flüssigkeit aus einer Kristallkaraffe gefüllt hatte.

„Möchtest du, dass ich heute noch zurückreite?“

„Nein. Du und Cala, ihr solltet euch ausruhen. Morgen oder übermorgen. Wir sind alle müde von der Reise.“

Wandan sah sich in dem holzgetäfelten Raum um.

„Es ist ein schönes Haus. Ich bin lange nicht hier gewesen.“

„Ebenso lange wie ich.“ lächelte Saton. „Ich liebe Vas-Zarac, aber ich vermisse Yto Te Vel, wenn ich dort bin. Diese Stille hier. Die Natur rund um uns herum. Die Mondpferde und die Batí-Priester. Und hier habe ich Cureda gefunden. Das werde ich nie vergessen.“

„Wie geht es ihr?“

Saton seufzte. „Den Umständen entsprechend. Der lange Ritt hat sie sehr angestrengt. Sie schläft jetzt und ich musste all meine Überredungskunst aufbringen, um sie zum Essen zu bewegen.“

„Was sagen die Heiler?“

„Nicht viel. Sie meinen, dass die erste Schwangerschaft häufig schwierig verläuft. Und ich fürchte, unsere Tochter macht es ihr nicht leicht. Wer es nicht besser weiß, denkt wohl, dass wir stündlich mit der Geburt rechnen. Ich bin froh, dass sie sich hier in den letzten Wochen ein wenig erholen kann. Vas-Zarac hält ständig Aufgaben für sie bereit und ich kann sie nicht immer davon abhalten, ihnen nachzugehen.“

„Sie ist deine Gemahlin. Die Gemahlin des Shaj. Das ist kein leichtes Leben. Du gebietest über die Krieger des Sichellandes. Es ist sicher nicht einfach an deiner Seite.“

Wandan hatte freundlich gesprochen, doch Saton erkannte den Ernst der Worte.

„Nein, das ist es nicht. Und doch hat sie dieses Schicksal angenommen. Ich hätte es verstanden, wenn sie sich davor gescheut hätte.“

„Sie liebt dich. So wie du sie. Sie wusste, was sie erwartet. Und sie ist stark. Eigentlich bist du zu beneiden. Nicht wegen der Krone, sondern wegen Cureda.“

Der Shaj runzelte die Stirn.

„Wenn du nicht mein bester, vielleicht sogar mein einziger wahrer Freund wärst, müsste ich jetzt wohl aufhorchen. So allerdings kann ich dir für diese Verbundenheit nur dankbar sein. Du dienst Cureda ebenso ergeben und treu wie mir und ich hoffe, dass ich auch auf dich zählen kann, wenn es um meine Tochter geht.“

„Selbstverständlich. Es wird mir eine Ehre sein, die Familie Ac-Sarr zu beschützen. Auch wenn unsere gemütlichen Abende in den Cas-Kellern jetzt wohl nur noch selten stattfinden werden. Vaterpflichten, Saton. Ich werde an dich denken, wenn ich den Kelch auf dich erhebe, während du deiner Tochter den...“

„Ich warne dich...“ unterbrach Saton lachend. „Glaube ja nicht, dass ihr mich so einfach loswerdet. Im Augenblick zählt für mich nur die Geburt meines Kindes, seine Gesundheit und natürlich das Wohlergehen Curedas. Aber wenn unsere Kleine erst einmal auf der Welt ist, werde ich mich nicht mehr länger vor meinen anderen Aufgaben drücken können.“

Wandan nickte.

„Irgendwann wirst du ihr sagen müssen, was sie ist. In welches Schicksal sie geboren wurde. Eine echte Ac-Sarr. Das ist nicht nur ein Geschenk.“

„Sie wird es dennoch annehmen. Sie ist stark. Wie ihre Mutter. Aber noch muss ich nicht daran denken. Vielleicht gönnt mir Ash-Zaharr ein paar friedliche Jahre, bevor diese Wahrheit ans Licht kommen muss. Meine Güte, Wandan, ich habe mir so lange ein Kind gewünscht. So lange... Ist es falsch, wenn ich im Augenblick nichts anderes als Freude empfinden kann? Kann nicht auch meine Linie einmal...?"

Doch ein Klopfen ließ Saton verstummen und gleich darauf trat ein Diener ein. Er wirkte nervös.

„Verzeiht, hoher Shaj. Eure... Eure Gemahlin...“

Sofort richtete sich Saton auf. Er wirkte alarmiert.

„Ja?“

„Sie... sie ist soeben erwacht und... sie... sie wünscht, den hohen Herrn Wandan zu sprechen.“

„Mich?“ Überrascht erhob sich der Krieger und sah Saton fragend an. Der jedoch atmete erleichtert auf, vielleicht, weil er mit schlimmeren Nachrichten gerechnet hatte.

„Sie wird dir für deinen Begleitschutz danken wollen. Geh nur. Aber sorge dafür, dass sie danach weiter ruht.“

Wandan nickte und folgte dem Diener nach draußen.

Für Cureda brachte die Rückkehr nach Yto Te Vel nicht nur Freude mit sich. Sie liebte diesen Ort, das herrschaftliche Haus und die Menschen, die hier lebten und die viel stiller und geheimnisvoller waren als die restlichen Sichelländer. Aber anders als Saton dachte sie auch einen Schritt weiter und das war es, was ihr zugleich Kummer bereitete und Angst einflößte. Angst, über die sie mit niemandem sprach, auch nicht mit dem, der Teil ihres Lebens geworden war. Noch nicht.

Bald schon musste sie es ihm sagen. Vielleicht morgen. Vielleicht in einer Woche. Vielleicht in einem Monat. Aber dann...

Das Herz wurde ihr schwer und mit der Bitte, Wandan rufen zu lassen, hatte sie bereits einen ersten Schritt in diese Richtung getan. Einen unabwendbaren Schritt, einen, der ihr die Endgültigkeit einer Entscheidung, die sie vor nicht einmal einem Jahr getroffen hatte, noch einmal verdeutlichte und die Wahrheit, die sie mit sich brachte, besiegelte.

Lange hatte sie überlegt, ob sie Wandan eine solche Bürde zumuten konnte. Doch wem, wenn nicht ihm? Natürlich war es gefährlich, neben Saton noch einen weiteren Menschen ins Vertrauen zu ziehen, aber Wandan musste ja nie erfahren, was dahintersteckte. Er musste nichts wissen. Er musste nur ihrer Bitte nachkommen. Und vielleicht, vielleicht... war das Schicksal gnädig genug, ihn diese Bitte vergessen zu lassen. Vielleicht würde er nie erfahren, wie gewaltig die Verantwortung war, die er trug und er würde stets glauben, es handle sich um eine kleine, fast schon symbolische Gefälligkeit. Vielleicht war es einfach das Beste, wenn diese letzte Sicherheit nicht in Satons Händen lag, sondern in denen eines Ahnungslosen.

Sie hörte Schritte.

"Komm herein." sagte sie, noch ehe Wandan anklopfen konnte und als der einzige Mann, den Saton je als 'wahren Freund' bezeichnet hatte, eintrat, setzte sie sich auf und bemühte sie sich um ein entspanntes Lächeln, das die düsteren Gedanken, mit denen sie kämpfte, verbarg.

"Geht es dir besser?" fragte er verlegen. Er war nur selten mit Cureda allein und jetzt, da sie geschwächt in ihrem Bett lag, hatte er das Gefühl, in etwas Intimes einzudringen, das ihm eigentlich verwehrt bleiben sollte.

"Kein Grund zur Sorge." erwiderte sie. "Bitte setz dich. Ist Saton noch wach?"

"Ja, das ist er. Ich war gerade bei ihm. Er ist wohl zu nervös, um Schlaf zu finden."

"Es tut mir leid, dass ich euch gestört habe. Mir scheint, dass alles, was ich über werdende Väter gehört habe, auf ihn im besonders hohen Maße zutrifft. Wenn er könnte, würde er unsere Tochter wohl am liebsten selbst zur Welt bringen."

"Nur, um dir die Schmerzen abzunehmen."

Sie lachte.

"Saton ist ein Krieger, Wandan. Er muss genug Schmerz und Verletzungen in seinem Leben hinnehmen. Im Vergleich dazu ist das, was ich verspüre, nicht der Rede wert."

"Ich glaube, dass du mehr ertragen musst, als du zugibst." sagte Wandan ernst.

"Nicht mehr, als ich auch ertragen kann. Ihr solltet euch beide nicht so viele Gedanken machen. Sag, wirst du bei uns bleiben? Oder schickt Saton dich zurück?"

"Er will, dass ich nach Semon-Sey gehe und dort für Ordnung sorge. Ich wäre gern bei euch geblieben, aber vielleicht hat er recht. Und bei der leisesten Nachricht werde ich sofort nach Yto kommen, das verspreche ich."

"Das wissen wir. Dass wir uns auf dich verlassen können. Und wir sind hier auch nicht allein. Es leben so wunderbare Menschen hier, sie alle werden sich um uns bemühen. Sie verehren Saton."

"Wie jeder in unserem Lande. Und so wie auch jeder dich verehrt. Aber ehe ich es vergesse,... Mondor hat für morgen seinen Besuch angekündigt. Ich glaube, er kann es kaum erwarten, dich zu sehen."

Jetzt leuchtete echte Freude in Curedas pechschwarzen Augen.

"Mondor! Oh, wie schön. Ich habe ihn so vermisst. Am liebsten hätte ich ihn noch heute nacht begrüßt, aber..."

Wandan räusperte sich.

"Cureda... verzeih, wenn ich so offen bin. Aber du mutest dir wohl ein bisschen zu viel zu. Mondor wird kommen. Aber er wird es auch akzeptieren, dass du Ruhe brauchst. Und Saton ist trotz aller Vorfreude nicht blind. Ich habe nicht das Recht, dich um etwas zu bitten, aber wenn ich es könnte, so würde ich mir wünschen, dass du auf dich acht gibst. Nicht nur um des Kindes Willen. Sondern auch für dich."

Sie nickte nachdenklich.

"Danke für deine Fürsorge. Glaub mir, ich weiß das zu schätzen. Trotzdem freue ich mich auf Mondor. Und vielleicht kann ich schon allein deshalb heute nacht besser..."

Ein plötzlicher Stich ließ sie zusammenfahren und sie krümmte sich unwillkürlich.

Erschrocken sprang Wandan auf.

"Was...?"

"Nichts...." keuchte sie und atmete mehrmals tief durch. "Es ist nichts.... Ich glaube... da hat jemand andere Pläne, was die Nachtruhe angeht."

Immer noch verunsichert beobachtete der Krieger, wie Cureda sich langsam wieder entspannte. Auf ihrer Stirn standen Schweißperlen, aber ihre Züge waren nicht mehr schmerzverzerrt.

"Vielleicht liegt es... an seinem Blut..." sagte Wandan leise. "Es heißt, dass diese Linien nur einen Nachkommen haben. Vielleicht..."

"Ich kenne diese Geschichten. Aber es gibt auch andere Familien, die mit schweren Schwangerschaften zu kämpfen haben."

"Natürlich. Du hast recht, ich sollte nicht überall ein böses Omen wittern. Und sie wird sicher etwas ganz Besonderes. Jeder sagt das."

Um Curedas Mund zuckte erneut ein Lächeln. "Vor allem Saton. Hoffentlich lässt er sie das nicht unentwegt spüren. Ich habe die leise Befürchtung, dass er unsere Tochter ein bisschen zu sehr verwöhnen wird."

"Du wirst ihn schon in Schach halten." lachte Wandan. "Wenn er überhaupt auf jemanden hört, dann auf dich. Ich hoffe, ich bin nicht hier, damit du mich darum bittest, Saton bei seiner Erziehung auf die Finger zu sehen."

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