Buch lesen: «Female Sounds & Words»
Inhaltsverzeichnis
Female Sounds & Words
Rhythm King And Her Friends: »I Am Disco«
The 5.6.7.8’s: »Bomb The Rocks«
Sleater-Kinney: »The Woods«
Goldfrapp: »Supernature«
Britta: »Das schöne Leben«
Tori Amos: »American Doll Posse«
Holly Golightly & The Brokeoffs: »You Can’t Buy A Gun When You’re Crying«
Tracey Thorn: »Out Of The Woods«
Leila: »Blood, Looms & Blooms«
Soap & Skin: »Lovetune For Vacuum«
Peaches: »I Feel Cream«
Anika: »Dito«
Die tanzende Superheldin: No More Nice Girl
Beth Ditto: »EP«
ThEESatisfaction: »Awe Naturale«
Laurel Halo: »Quarantine«
Gazelle Twin: »The Entire City«
Anita: »Hippocamping«
Gemma Ray: »Down Baby Down«
Dum Dum Girls: »Too True«
Peggy Sue: »Choir Of Echoes«
Cold Specks: »Neuroplasticity«
Balbina: »Über das Grübeln«
M.I.A.: »AIM«
Blondie: »Pollinator«
Girlpool: »Powerplant«
Lydia Lunch & Cypress Grove: »Under The Covers«
Julien Baker: »Turn Out The Lights«
Stella Donnelly
Fever Ray: »Plunge«
U.S. Girls in Paris
Joan As Police Woman: »Damned Devotion«
Porträt Björk
Kerosin95
Goat Girl – dito
Snail Mail
Public Practice: »Distance Is A Mirror«
Gaye Su Akyol: »Istikrarlı Hayal Hakikattir«
Neneh Cherry: »Broken Politics«
Gudrun Gut: »Moment«
Aldous Harding: »Designer«
Ebow: »K4L«
Madonna: »Madame X«
Ilgen-Nur: »Power Nap«
Bat For Lashes: »Lost Girls«
Kim Gordon: »No Home Record«
Squirrel Flower: »I Was Born Swimming«
Shirley Holmes: »Die Krone der Erschöpfung«
Jessy Lanza: »All The Time«
Die Hand am Regler
Stella Sommer: »Northern Dancer«
Liraz: »Zan«
Kylie: »Disco«
Arlo Parks: »Collapsed In Sunbeams«
Jane Weaver: »Flock«
Erstveröffentlichungshinweis
Dank / Die Autorin
Christina Mohr
Female Sounds & Words
Von Riot Grrrls und Discodiven
Die edition kopfkiosk wird gestaltet und herausgegeben von Andreas Reiffer | Bd. 05
Lektorat: Angelika Hefner
1. Auflage 2021 © Verlag Andreas Reiffer
ISBN 978-3-945715-97-0
Dieses E-Book ist identisch mit der Print-Version
Verlag Andreas Reiffer, Hauptstr. 16 b, D-38527 Meine
www.verlag-reiffer.de
Da ist der Traum, da die Fabrik,
Der Stoff den wir brauchen, das ist die Mädchenmusik
Brockdorff Klang Labor mit Jens Friebe
Fan für immer
»Das gefällt dir doch gar nicht – du hörst das nur, weil du auf L. stehst!« Ich war empört: Dass Mitschülerin B. mir unterstellte, ich würde die Dead-Kennedys-Platte mit mir herumtragen, um die Aufmerksamkeit des besagten L. zu erschleichen, empfand ich als zutiefst ungerecht, denn es stimmte schlicht und einfach nicht. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, aus strategischen Gründen Platten zu kaufen. Platten kaufte ich, weil ich die Musik toll fand. Und wenn ich genügend Taschengeld übrig hatte, logisch. Später erkannte ich wohl, dass sich über musikalische Vorlieben (oder Abneigungen) durchaus interessante Bekanntschaften machen ließen – aber das ist eine andere Geschichte. Wir waren sehr jung, als sich eingangs erwähnte Begebenheit zutrug, vielleicht 13 oder 14 Jahre alt. Gut die Hälfte dieser Lebensspanne war ich als Kind der Siebzigerjahre schon glühender Popfan: zuerst von Smokie, danach von den Teens und seit 1979 bis zum heutigen Tag Blondie-Aficionada. Dass es mit dieser Popmusik respektive »Raptschaki«, wie meine Oma zu sagen pflegte, etwas Besonderes auf sich haben musste, dämmerte mir eines Fernsehabends, wahrscheinlich lief Musikladen oder Ilja Richters Disco. Als Smokie auftraten und »Lay Back In The Arms Of Someone« spielten, weinte meine Mutter neben mir bittere Tränen. An diesem Abend wusste ich es noch nicht, doch kurze Zeit darauf ließen sich meine Eltern scheiden. Jetzt war mir klar, was für eine wichtige Rolle das richtige Lied zur richtigen Zeit (oder zur falschen, je nach Verfassung) spielen konnte.
Ich wurde hingebungsvoller Fan, klebte Zeitungsausschnitte meiner Lieblingsgruppen in Notizblöcke, sammelte Autogrammkarten und Starschnitte und wusste dank intensiver Heftchenlektüre alles über meine Bands – manchmal lange bevor ich ihre Musik gehört hatte. Als ich mit Mumps im Bett lag, besorgte mir mein Opa zur Gesundung Kate Bushs »The Kick Inside«. Und ich erinnere mich noch gut daran, wie ich in der NDW-Ära versuchte, im Elektroladen unserer Kleinstadt das Album »Wahre Arbeit – Wahrer Lohn« von den Krupps zu bestellen. Die Platte kam nie an, dafür DAFs »Alles ist gut«. Auch gut.
Meine kleine Plattensammlung zu Teeniezeiten umfasste einen bunten Stilmix von Barclay James Harvest bis zu den B-52s – alles selber ausgesucht, auch die Fehlentscheidungen. Kein pickliger Junge hatte mir heiße Tipps ins Ohr geflüstert, auch nicht, als ich per Aushang am Schwarzen Brett der Schule Pink Floyd und Genesis wieder loswerden wollte. Die passten nicht mehr in die Achtziger, befand ich und gönnte mir vom Erlös vermutlich Adam & the Ants oder Siouxsie and the Banshees. Und während meine Kommilitoninnen beim Buchmessebesuch unseres Germanistikseminars studienrelevante Nachschlagewerke bestellten, erstand ich bei obskuren Kleinverlagen Bücher über The Smiths und The Jesus and Mary Chain. Warum erzähle ich das? Weil diese prähistorischen Anekdoten der Anfang von allem sind. Weil meine Popbesessenheit nie nachgelassen hat. Im Gegenteil, sie ist ein Teil von mir. Auch im fortgeschrittenen Alter bin ich ein Fan, eine Auskennerin, ein Nerd – obwohl ich dieses Wort nicht mag, es klingt so abwertend, etwas peinlich nach einem lächerlichen Freak. Ich bin kein Freak, ich bin interessiert, ich bin begeistert: Ich will tanzen und gleichzeitig wissen, wer den Sound gebaut hat und wie. Ich will nicht das Gefühl von vorgestern zurück, sondern das von heute spüren. Ich kenne Frauen, die haben 1986 ihre letzte Platte gekauft – Wham!, »The Final« – und sich dann vernünftigeren Dingen zugewandt: Kinder, Familie, Beruf. Ich habe das nie verstanden: Niemand hört auf, Filme zu gucken und Bücher oder Zeitschriften zu lesen, nur weil man sich fortgepflanzt hat. Weshalb also interessieren sich viele Menschen (häufig Frauen) ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr für aktuelle Popmusik? Zugegeben, als Musikjournalistin bin ich in der privilegierten Situation, dass Neuerscheinungen quasi automatisch in meine analogen und digitalen Postfächer gespült werden – aber man wird ja auch anderweitig gut und einfach versorgt. Ich spüre den Zeitgeist eher in den Tracks von Jlin und Helena Hauff als in einem Cicero-Artikel, aber das ist natürlich meine ganz persönliche Sichtweise. Dennoch: Warum steht ausgerechnet um die emotionalste, direkteste und intensivste Kunstform eine gefühlt so hohe Mauer?
Oder, anders gefragt: Warum halten sich Frauen so auffallend zurück, wenn es um die Beurteilung oder auch nur um das Gutfinden von Popmusik geht? Mit Pop-Enzyklopädien männlicher Autoren lassen sich ganze Buchhandlungen füllen. Allein in den letzten Jahren erschienen Titel von Thomas Hecken, Diedrich Diederichsen, David Byrne, Karl Bruckmaier, Bob Stanley und Jens Balzer, die uns Pop von A bis Z erklärten. Die wenigen infrage kommenden Autorinnen denken sich wahrscheinlich, warum ausgerechnet von ihnen noch ein Popkompendium verfasst werden sollte. Womit sie vielleicht recht haben, aber Männer machen sich solche Gedanken ja offensichtlich nicht.
Nun muss ja nicht jede gleich ein Buch schreiben, aber (…)
An dieser Stelle blende ich meinen Artikel »Fan für immer« aus, den ich vor einigen Jahren für die Textreihe »10 nach 8« (zeit.de) geschrieben hatte. Denn natürlich ist das, was Sie in Händen halten genau das: ein Buch. Ein Buch, dessen Materialisierung mich zutiefst erstaunt und erfreut. Nie hatte ich darüber nachgedacht, meine erratischen Beiträge für die unterschiedlichsten Magazine zu sichten und zu sortieren, auf dass sie weiterer Verwendung zugeführt würden. Dass dies nun doch geschehen ist – und zwar unter der gedachten Überschrift »feministische Popkritiken« –, ist dem Anstoß von Frank Schäfer und der Realisierung durch Andreas Reiffer zu verdanken. Die ausgewählten Texte stammen aus den Jahren 2004–2021 und wurden für diesen Band behutsam korrigiert und angepasst.
Christina Mohr
Rhythm King And Her Friends: »I Am Disco«
»Alles vergendert sich, wenn du dich vergenderst« heißt ein Sinnspruch der Zeitschrift Monochrom – Rhythm King And Her Friends machen die Musik dazu.
Linda Wölfel, Pauline Boudry und Sara John kommen aus Berlin und sind die längst fällige Ergänzung zu den vielen Girl-Bands dieser Tage: drei androgyne Vorbilder einer selbstbewussten queeren Generation. Sie waren bereits im Vorprogramm so illustrer Bands wie den Goldenen Zitronen und den Chicks On Speed zu sehen, haben sich mittlerweile ihr eigenes Publikum »erarbeitet« und sind auf Frauenfesten und CSDs unterwegs. Queer Politics, Liebe zwischen Frauen, Genderdiskurs, Körpercodes, das sind die Themen, mit denen sich RKAHF in ihren Songs beschäftigen. Musikalisch bewegen sie sich auf ihrem Album »I Am Disco« locker-flockig zwischen Elektro, Punk und Pop.
»Sister« beginnt als dadaistisch-abstruse Busfahrt, bei der Lenin als Sichtschutz dient, und endet in einer Hommage an Virginia Woolf. »I don’t like your body/ You don’t like my body/ You suck me in/ You spit me out« – »Shock« ist der erste Song, den RKAHF überhaupt aufnahmen, und er ist einer der bewegendsten ihres Debütalbums »I Am Disco«. Oder »Pants«, der Hit über Transgender-Kleiderfragen: »What can I wear today?/ Choose my pants or shall I use my dress/ Everything looks queer today/ I know I need some vacation from my boyish closet.«
»Wir wollten bei Rhythm King And Her Friends etwas Neues entwickeln: Queer Politics mit elektronischer Musik verbinden«, sagen sie und treffen damit den Nagel auf den Kopf. Warum ist da vorher niemand draufgekommen?
RKAHF lieben es, mit Akzent(en) zu singen: Pauline singt französisches Englisch, Linda deutsch angehauchtes Französisch, und das alles klingt so sexy, dass man sich die Kleider vom Leib reißen möchte – seien es Minirock oder Baggypants. Dazu kommen Instrumente zum Einsatz, die man billig auf Berliner Flohmärkten kaufen kann, was dem Sound keinen Abbruch tut. Und manchmal sind auch gute alte analoge Instrumente wie Klarinette oder Glockenspiel zu hören. Dreh- und Angelpunkt des Albums ist der geniale Clubhit »Get Paid« – eine Hymne für die ausgebeutete Masse mit feinen Ratschlägen, wie man den Arbeitgeber auf subtile Weise schädigen kann – Computerviren einschleppen, zu Kunden unfreundlich sein, weniger tun als gewünscht. Aber aufpassen, damit das Gehalt nicht gefährdet wird: »Watch out, so I’m gonna get paid.« Die Revolution muss schließlich auch was zu essen haben, wenn sie sich nicht selber fressen soll. Und: »I’ve got a bad disposition that wants to work too.« Nicht nur beruflich ist weniger arbeiten angesagt, sondern auch privat: Frauen, so der Subtext, investieren oft zu viel Kraft in »Beziehungsarbeit«. Auch da heißt es: mal die Beine hochlegen! Überhaupt handeln alle Songs von Frauen. Die simple Erklärung: »Wir denken einfach immer an Frauen, deswegen!«
RKAHF sind das beste Beispiel dafür, dass Feministin sein mehr beinhaltet als den Wunsch, Männern in irgendwelche Körperteile zu treten. Feministisch sein, das heißt auch, Machtverhältnisse infrage zu stellen. Das zeigt sich im Songwriting und in der Bandstruktur: keine Hierarchien, bitte! Instrumente werden auf der Bühne ausgetauscht, singen darf jede mal und die Songs entstehen durch permanente Kommunikation. Mit Rhythm King And Her Friends gibt es endlich Alternativheldinnen für Queers und Riot Grrrls!
The 5.6.7.8’s: »Bomb The Rocks«
Hätte sich Mitte der Neunzigerjahre wohl jemand für Dick Dale interessiert, wenn ihn nicht Quentin Tarantino für »Pulp Fiction« ausgegraben und die schönsten Killerszenen mit Dales Surfgitarre unterlegt hätte? »Kill Bill« liefert einmal mehr den Beweis für Tarantinos guten Musikgeschmack: Die japanische Girlband The 5.6.7.8’s sorgt für die musikalische Begleitung von Uma Thurmans Blutrausch in einem Tokioter Restaurant und erfreut sich seitdem unverhoffter und verdienter Popularität: »Woo Hoo« ist längst nicht mehr nur bei Tarantino-Fans ein Hit. Die Band existiert schon seit fünfzehn Jahren, besteht zurzeit aus Ronnie »Yoshiko« Fujiyama, Yoshiko Yamaguchi und Sachiko Fujii und hat sich von den Bienenkorbfrisuren bis runter zu den High Heels dem Rock’n’Roll verschrieben. Im Laufe der Jahre haben die Damen auf verschiedenen Labels veröffentlicht und können eine beeindruckende Diskografie vorweisen; die Compilation »Early Day Singles 1989–1996« bietet einen guten Einblick in ihr Werk.
Bei uns kommt die wilde Mischung aus Surf, Trash, Rock’n’Roll und Girlgroup-Gesang sehr gut an: Gerade haben die 5.6.7.8’s eine erfolgreiche Kurztournee durch sechs deutsche Städte absolviert; mein Versuch, das Konzert im Wiesbadener Schlachthof zu besuchen, wurde durch das Schild am Eingang »Konzert ist ausverkauft – KEINE KARTEN AN DER ABENDKASSE« jäh gestoppt. Natürlich wollte niemand der glücklichen Karteninhaber:innen ein Ticket hergeben, also kann ich leider nicht berichten, wie es auf einem Konzert der Girls zugeht, aber wenn man den ersten Song der Compilation so laut wie möglich aufdreht, bekommt man vielleicht eine Vorstellung davon. »Bomb The Twist« ist ein wilder, durchgedrehter, rasender Ritt durch tausend Jahre Rock’n’Roll in der freien Interpretation wilder, durchgedrehter, rasender Japanerinnen. Wowwww!!! Sie lieben Surfgitarren und ba-ba-ba-ba-ba-Backgroundchöre, nicht nur der »Kill Bill«-Song »Woo Hoo« ist ein Hit, auch die restlichen 26 Stücke lassen es gehörig krachen. Einige Coverversionen sind dabei, z. B. »Mr. Lee«, »It’s Rainy«, »Road Runner« und »Long Tall Sally«, das man nicht ohne Weiteres erkennen könnte, stünde nicht der Titel auf der Hülle. Die Ladies pflegen einen sehr eigenwilligen Umgang mit Refrains und der englischen Sprache an sich, aber genau das verleiht ihrer Musik besonderen Charme. Man sollte sie jedoch nicht als niedliche Manga-Mädchen mit Exotinnenbonus abstempeln: Bei aller Affinität zu comichaften Rock’n’Roll-Stereotypen wird schnell klar: Die 5.6.7.8’s meinen es ernst! Sie vereinen Rotzigkeit und Sexyness der Runaways mit der Energie von Girlschool und dem schrägen Humor der Ramones, spielen mit Girlgroup-Elementen und verbeugen sich vor Göttern wie Elvis, Eddie Cochran und Jerry Lee Lewis, um dann ganz schnell ihr eigenes Ding anzuzählen: 1, 2, 3, 4 … 5.6.7.8’s!!!
Man kann nicht umhin, mehrfach den Namen The Cramps ins Feld zu führen, aber das ist ja kein Makel: »Jet Coaster« erinnert an das von den Cramps zerfledderte »Surfin’ Bird«. Lux Interior und Poison Ivy sind nicht nur hier Vorbild für die Interpretation, auch die Auswahl der Songtitel offenbart die Cramps-Affinität der 5.6.7.8’s: »My Boyfriend From Outer Space«, »She Was A Mau Mau« oder »I Was A Teenage Cave Woman« könnten auch im Cramps-Kosmos kreisen. »Edie Is A Sweet Candy« ist eine Hommage an, klar, Edie Sedgwick, tragische Andy-Warhol-/Factory-Heldin, und eins der besten Stücke des Albums. In »Bond Girl« wird die James-Bond-Erkennungsmelodie zitiert und »Three Cool Chicks« spielt ironisch mit der Obsession meist männlicher Rock’n’Roller, Girls zu Chicks und Pussycats zu machen.
Im Booklet steht: »The future comes from the past« – die 5.6.7.8’s beweisen das mit Energie und Enthusiasmus: Woo Hoo!
Sleater-Kinney: »The Woods«
Sleater-Kinney sind mutig. In Zeiten des von jugendlichen Dandys definierten Quer-durch-den-Garten-Waverocks wirft »The Woods« alle an Carrie Brownstein, Corin Tucker und Janet L. Weiss gestellten Erwartungen über den Haufen. Schon das erste Stück »The Fox« donnert wie ein Zehntonner über die ahnungslosen Hörer:innen hinweg und macht klar, dass die Zeit der kurzen, knackigen Punksongs früherer Platten wie »Call The Doctor« und »Dig Me Out« vorbei ist. Sleater-Kinney sind furchtlos. Sie haben keine Angst vor Gitarrensoli und schicken mit »The Woods« ein Bluesrockmonster in die Welt, das zunächst schwer zugänglich und schwer zu lieben scheint. Ausfasernde, in alle Richtungen losbrechende Led-Zeppelin-hafte Brocken wie das elf Minuten lange »Let’s Call It Love«, dessen dekonstruktivistischer Gitarrenpart jegliche Songstruktur zerbröselt, verlangen ungeteilte Aufmerksamkeit. Macht auf alle Fälle kaputt, was kaputt macht. Polternd, voller Kraft und Wut schreien, rocken, jammen Sleater-Kinney durch »The Woods«, schlagen Schneisen, fällen Mammutbäume mit schwerem Gerät. Eine märchenhafte Lichtung mit friedlich äsenden Rehen ist nicht in Sicht. Das an »Twin Peaks« erinnernde Cover (Bäume, Bühne, roter Vorhang, Schatten ohne Lichtquelle) ist geschickt gewählt und ein bisschen perfide, rechnet man doch mit ruhigen Tönen, die hinter den samtigen Vorhängen hervorperlen. Produzent Dave Fridmann (Flaming Lips, Mercury Rev, Low) hat eine neue Seite von Sleater-Kinney freigelegt, und trotz aller psychedelischen Ausbrüche wirkt »The Woods« nie retro, sondern sehr heutig. Nur nicht mit modischen Mitteln.
Anders als die Kolleginnen von L7 (was machen die überhaupt?) wollen Sleater-Kinney keine Jungs sein. Hart sind sie, aber nicht vulgär, heavy, aber nicht feist. Feministischer Zorn ist keine schicke Attitüde der – inzwischen – Riot Women bzw. Mothers, sondern fester Bestandteil ihres Werks: »A woman is not a girl/ I could show you a thing or two/ Hit the floor honey/ Let’s battle it out.« (»Let’s Call It Love«).
Das zart-folkige »Modern Girl« lässt kurz Balsam tröpfeln, aber nur musikalisch, der Text ist definitiv eher bitter als süß: »My baby loves me/ I’m so hungry/ Hunger makes me/ A modern girl/ My whole life/ Looked like a picture/ Of a sunny day«. Sleater-Kinneys Wut scheint auch auf andere Themen, in »Entertain« heißt es: »Hey! Look around they are lying to you/ Can’t you see it is just a silly ruse?/ They are lying, and I am lying too/ All you want is entertainment/ Rip me open it’s free«.
Nicht leicht verdaulich, aber essenziell wie Schwarzbrot nach zu viel Ciabatta.
Goldfrapp: »Supernature«
Von »Ride A White Swan« zu »Ride A White Horse«
»Supernature« ist ein Traum von einer Platte – sexy, glamourös (obwohl Alison Goldfrapp und Will Gregory standhaft behaupten, total unglamourös zu sein – das ist wohl echt britisches Understatement), schillernd, tanzbar und voller Hits. Sogar das Andreas Dorau’sche Gebot, ein nervendes Stück auf der Platte zu haben, damit die übrigen umso strahlender hervortreten, beherzigen Goldfrapp: »You Never Know« geht mir ein klein wenig auf den Keks, aber hatten nicht auch schon die Beatles immer Songs wie »Ob-La-Di, Ob-La-Da«? Aber es ist ziemlich unangemessen, zuerst das einzige etwas abfallende Stück zu erwähnen, wo doch die zehn anderen wahre Perlen oder besser Diamonds sind und »Supernature« schon jetzt einen Platz in meinen Jahrescharts sicher hat.
Schon der Opener, die erste Singleauskopplung »Ooh La La«, geht ohne Umwege in Ohren, Beine und Keimdrüsen: Frech und souverän wird hier – nicht zum einzigen Mal – die charakteristische T.-Rex-Gitarre zitiert, ein tief pumpender Bass und Alisons lässig-laszive Stimme erlauben keine Gegenwehr. Augenzwinkernd gibt Ms Goldfrapp die Hyper-Kylie, über jeden Discomaus-Verdacht erhaben. Vielmehr ist sie die Diva, die sie immer sein wollte: So schweigt sie sich zum Beispiel über ihr Alter konsequent aus. Aber wen interessiert das schon, Hauptsache, sie macht noch viele Platten.
In »Ride A White Horse« geht es – klar – um Sex und um Goldfrapps Naturverbundenheit. Tiere kommen in ihren Texten immer wieder vor, Alison lässt sich im Pfauenkostüm fotografieren und schlägt so die Brücke zwischen Studio-54-hafter Künstlichkeit und der dabei sehr erdigen und organischen Beschaffenheit des Goldfrapp-Sounds. »Fly Me Away« ist ein hymnischer Pophit, uplifting und wie geschaffen fürs Radiohören beim Autofahren – in einem offenen Coupé, versteht sich. Bei »Koko« schleichen sich Reminiszenzen an Gary Numans »Cars« ein, »Satin Chic« geht einerseits wiederum als Hommage an T. Rex durch, bekommt aber durch den beherzten Einsatz eines Honky-Tonk-Pianos eine zweite Ebene ins Cabaret-hafte. In überdrehter Sektlaune singt man mit: »… ne na na na na na na, he’s my man, yeh he’s my man«. Gechillt werden darf auch, bei »Let It Take You« und »Time Out From The World« können selbst hartgesottene Dancing Queens mal die Beine hochlegen und entspannen. Dringend empfohlen sei an dieser Stelle der Einsatz von Kopfhörern: Goldfrapp sind verliebt in raffinierte Details und probieren alles aus, was es in einem Studio an Schnickschnack gibt. Anschaulich dargestellt durch das Apfelbild auf dem Cover, außen »nur« goldmetallic, innen buntmetallic-gestreift.
Den schönsten Song haben sich Goldfrapp für den Schluss aufgehoben: »Number One« vereint die Grandezza eines guten Blondie-Songs mit musikalischen Umarmungen à la Pet Shop Boys. Wenn Alison singt: »I’m like a dog to get you«, ist das weniger als S/M- oder Iggy-Pop-Neuinterpretation zu verstehen, sondern illustriert eher die erschöpft-vertraute Stimmung morgens früh um fünf, wenn man nach einer durchtanzten Nacht im Club doch mit seinem bewährten longtime companion nach Hause geht: »Sunset only seconds/ Just ripe then it’s gone/ Got no new intentions/ Just right then it’s gone/ cos you’re my number one«. Erwachsen und immer noch verliebt.
Goldfrapp gelingt nach »Felt Mountain« und »Black Cherry« so etwas wie der große Wurf, die Definition ihres Glampop-Universums. Überschwänglich, verschwenderisch, cheesy und tasty.
So unterschiedlich und unentschieden die ersten Alben klangen, scheint nun alles klar. Gregory und Goldfrapp bedienen sich aus der großen Schatzkiste der Pop-, Glam- und Discomusik seit 1970, durchstreifen mit Kennerblick die Achtzigerjahre, grüßen Verwandte und Bekannte und landen auf allen vier Beinen mitten im Heute. Noch dazu sind Goldfrapp intelligent, humorvoll, todschick und absolut geschmackssicher. »Supernature« verspricht einen heißen Herbst.