Reiten wir!

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa


1. Auflage Oktober 2017

Copyright © der Gesamtausgabe 2017 by Edition Roter Drache

Edition Roter Drache, Holger Kliemannel, Haufeld 1, 07407 Remda-Teichel, edition@roterdrache.org; www.roterdrache.org

Copyright © der Geschichten obliegen dem jeweiligen Autor

Titelbild: Arnd Empting

Satz und Umschlaggestaltung: Holger Kliemannel

Lektorat: Anne-Cathrin Gurke

Gesamtherstellung: Jelgvas tipografia

Der Abdruck der Geschichte »Der Das Hemd« erfolgt mit freundlicher Genehmigung aus Krappweis, T./ Bründl, H. J., VIER FÄUSTE FÜR EIN BLAUES AUGE © 2013 Droemer Verlag. Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Illustrationen: Helge C. Balzer (S. 14, S. 28, S. 60, S. 272, S. 323, S. 354); Katya Caelum (S. 220 & S. 227); Oskar Herrfurth (S. 1 & S. 380 aus »Der Ölprinz«); Alex Jahnke (S. 341, S. 416 & S. 438); Gerd Scherm (S. 127, S. 130, S. 136 & S. 148) und Jörg »doJoerch« Schlonies (S. 4)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN 978-3-944180-88-5

INHALTSVERZEICHNIS

Cover

Titel

Impressum

Vorwort Ruth Ellen Gruber

Old Faithful Robin Gates

Der Geist des langen Erkennens Hermann Ritter

Fliegen wir! Falko Löffler

Die japanischen Angelegenheiten eines toten Gentlemans Selina Haritz

Silber und Blei Matthias Kremer

Abgehalftert Oliver Graute

Der geheimnisvolle Gefangene Gerd Scherm

Worte verliert man nicht Anja Baus

Stadt der Hügel Ulff Lehmann

Am Horizont Alexa Waschkau

Tante Droll und der Schatz der verlorenen Zeit Katya Caelum

Der Erzfreund Lena Falkenhagen

Der Weg nach Denver Sabine Joey Schäfers

Das Gold des Samuel Sonntag Christian von Aster

Geisterjäger Volkmar Kuhnle

Von Ratten und Hunden Iris Kammerer

Das letzte Abendmahl Oliver Hoffmann

Teufelskraut und Viehdieb Marcus Rauchfuß

Frau Holle in Hoboken Isa Theobald

Morgengrauen Germaine Paulus

Tante Droll und Missouri-Blenter bei den Sioux Ingo Muhs

Miss Morrison’s Retirement Home for the Elderly Alex Jahnke

Der Das Hemd Tommy Krappweis

Epilog: Karl lügt Axel Hildebrand

Die Beteiligten

Danksagung


LIEBER FREUND DER ABENTEUERGESCHICHTE,

Sie halten gerade ein Buch in den Händen, von dem ich nie gedacht hätte, dass es einmal Wirklichkeit werden würde. Doch bevor ich Sie auf den Weg zu den Lagerfeuern der Prairie schicke, wo Geschichtenerzähler Sie erneut in die Welt von Old Shatterhand, Winnetou und Sam Hawkens entführen, möchte ich Ihnen die Geschichte dieses Buches erzählen. Zeigt Sie doch, dass auch 175 Jahre nach der Geburt Karl Mays sein Werk weiterhin Autoren prägt.

Ich muss Ihnen aber ein Geständnis machen: Auch wenn ich mich heute als Phantast bezeichne, aber »My heroes have always been Cowboys«. Als Kind der 70er Jahre wuchs ich mit Bonanza, Rauchende Colts, Dem Mann in den Bergen, John Wayne und Audie Murphy auf. Natürlich war da auch immer Raumschiff Enterprise, Catweazle und Mondbasis Alpha 1, aber zur Familientradition gehörte es, dass jeder Western, der – auf den damals 2,5 Kanälen (der halbe war reichlich verrauscht) – lief, auch geschaut wurde, und zwar mit besonderer Andacht. In den 70er Jahren wurden auch die Karl-May-Filme zum ersten Mal im Fernsehen ausgestrahlt und Sie können sich denken, was diese Filme für eine Wirkung auf einen kleinen Jungen hatten. Daher war es auch keine Frage, dass wir in das benachbarte Elspe zu den Karl-May-Festspielen fuhren, nachdem bekannt wurde, dass man dort Pierre Brice als Winnetou engagiert hatte. Wer einmal so eine Aufführung besucht hat, kann verstehen, welcher Zauber dort gewoben wurde und bis heute gewoben wird. Waren die Western im Fernsehen zwar spannend und mitreißend, so waren sie doch weit weg, hinter einer Glasscheibe. Auch eine Schießerei aus einem winzigen 8-Watt-Lautsprecher an der Seite des Gerätes ist wenig beeindruckend. Aber in Elspe … Dutzende echte Pferde, die im wilden Galopp von links nach rechts über die mehr als 100 Meter breite Bühne reiten, echte Schlägereien, bei denen die Banditen auch mal vom Bühnenrand ins Publikum fielen, Explosionen, die einem die Ohren klingeln ließen und deren Hitze man auf der Haut spürte … Und dann natürlich dieser Moment, in dem Winnetou – DER WINNETOU – über den Berg ritt und seinen Freund begrüßte. Mir war damals völlig klar, dass er nur mich mit diesem Gruß meinen konnte. Mir kam allerdings Old Shatterhand zuvor, der »Winnetou, mein Bruder« rief und Winnetous Aufmerksamkeit von mir ablenkte. Am Tag nach dieser Vorstellung betrat ich die örtliche Bücherei und verließ sie mit sechs Karl-May-Büchern wieder. Dies wiederholte ich so lange, bis ich alle gelesen hatte. Über zehn Jahre lang besuchte ich jede Aufführung, bis die Wirren der Jugend mir einredeten, dass ich jetzt zu »alt für diesen Kinderkram« sei. Noch mal zehn Jahre später und ich setzte meine jährliche Pilgerfahrt wieder fort – und das bis heute.

 

Natürlich mögen die Karl-May-Forscher nun einwenden, dass die Stücke bei diesen Festspielen nur wenig mit Mays Büchern zu tun haben. Dem möchte ich zustimmen, aber auch widersprechen. Sie sind nicht werksgetreu, aber sie sind dem Zauber treu, den May beim Lesen bereitet hat, nämlich Abenteuer zu erleben und an das Gute im Menschen zu glauben. Ich war May auch nie böse, dass er bei seinen Erzählungen sich selbst als Old Shatterhand ausgegeben hat, denn – Hand auf Herz – wer hat denn nicht versucht, seinen besten Kumpel zu überzeugen, dass eine Blutsbrüderschaft unbedingt von Nöten war, um sich des Vertrauens des anderen wirklich sicher zu sein? Mit reichlich stumpfen Schweizer Taschenmessern geritzt, aber es ging um das Prinzip! Wir waren auch Old Shatterhand oder Winnetou, da gab es doch nie einen Zweifel!

Zudem sind »Tall Tales«, also Lügengeschichten auch eine alte Tradition des Wilden Westens. Einer der größten historischen Geschichtenerzähler war Jim Bridgers (1804-1881). Seine Entdeckungen als Scout und Trapper sind legendär. Er sah als erster Weißer den Yellow Stone und den großen Salzsee. Der nach ihm benannte Bridgers Pass verkürzte den Oregon Trail um 61 Meilen. Bridger liebte es, den Greenhorns Geschichten zu erzählen und sie dabei auf den Arm zu nehmen. In einer seiner liebsten Geschichten wurde er von über hundert Kriegern der Cheyenne verfolgt. Nachdem sie ihn mehrere Meilen gejagt hatten, fand er sich am Ende eines Canyons wieder, aus dem es kein Entrinnen gab. Die Indianer hatten ihn eingekesselt. Alles ging dem Ende zu. An diesem Punkt der Geschichte schwieg Bridger und wartete auf die Frage seiner Zuhörer.

»Was passierte dann, Mr. Bridger?«, kam die atemlose Frage aus dem Publikum.

Bridger antwortete: »Nun, sie töteten mich.«

Die Idee zu dieser Anthologie kam mir vor ungefähr vier Jahren, nachdem ich den Schatz im Silbersee erneut gelesen hatte. Zum ersten Mal ging mir richtig auf, dass auch jede der Nebenfiguren so unglaublich bunt war und voller Geschichten steckte, sodass ich es bedauerte, dass es nicht mehr über die skurrilen Helden am Rande zu erfahren gab. Einen Umstand, den es zu ändern galt.

Welche Autoren könnte ich für diese Anthologie gewinnen? Es sollten Phantastikautoren sein, denn für mich lebt diese besondere Fabulierkunst Mays vor allem in den phantastischen Welten weiter. Aber es sollte kein Phantastikbuch werden, sondern eine Hommage an die Abenteuergeschichten, die einen als Kind aus der Welt entrissen und die Weide oder den Parkplatz von nebenan zur Hochebene des Llano estakados werden liessen.

Letztendlich fanden sich 23 Autoren, um die Geschichte von Tante Droll, Hobble-Frank und Ellen weiterzuerzählen. Diese drei Helden sollen ein roter Faden sein, der die Abenteuer in der Anthologie verbindet.

Falls sie diese drei noch nicht kennen, so möchte ich Sie ihnen kurz vorstellen:

Hobble-Frank (Bürgerlich: Heliogabalus Morpheus Edeward Franke) hält sich für gebildet, deutlich gebildeter als seine Mitmenschen. Dabei wirft er aber vieles durcheinander und kann schnell aufbrausend werden, wenn man ihn auf diese Fehler aufmerksam macht oder ihn gar verbessert. Auch wenn er ein Pfau im Gehabe ist, so wird er doch als ehrlicher und zuverlässiger Freund geschätzt.

Sein Vetter Tante Droll (Bürgerlich: Sebastian Melchior Pampel) Tante Droll ist von kleinem, dicklichem Wuchs, dabei bekleidet mit einem ledernen, sackartigen Gewand, das aussieht wie Frauenkleidung. Da er kaum Bartwuchs hat und er mit einer hohen Fistelstimme spricht, erklärt es sich leicht, wie er zu seinem Spitzamen gekommen ist. Abgesehen von diesen Äußerlichkeiten ist er ein äußerst fähiger Westmann und im Gegensatz zu seinem Vetter Hobble-Frank ein eher ernster Mensch.

Damit die Welt nicht zu maskulin wird, gesellt sich noch Ellen zu diesen beiden.

Ellen ist die Tochter von Old Firehand (in der Originalfassung von 1875) und dessen zweiter Frau Ribanna, die große Liebe von Winnetou. Nach der Ermordung Ribannas lehrt Winnetou das Mädchen alles, was man im Wilden Westen können und wissen muss.

Der eigentliche rote Faden ist aber der Geist der Abenteuergeschichte. Dies nostalgisch-süße Gefühl, wenn man sich mit einem Karl-May-Roman in eine Ecke verzog und in dieser Welt versank. Daher werden sie Geschichten lesen, in denen diese drei Helden nur am Rande auftauchen, bei anderen wiederum stehen sie im Mittelpunkt. Allen gemeinsam ist aber die Lust am Abenteuer. Manche Geschichten mögen sich widersprechen, denn es wird viel erzählt an den Lagerfeuern des Wilden Westens. Wer weiß schon, was der Wahrheit entspricht?

Die Geschichten in diesem Buch sind so unterschiedlich wie die Autoren: Mal spannend, romantisch, lustig, dramatisch oder tragisch. Es war nie das Ziel dieser Anthologie, authentische Karl-May-Geschichte neu zu erfinden, sondern den damals gefühlten Zauber neu zu entfachen. Jeder Autor sagt auf seine Weise »Danke« an einen der größten Geschichtenerzähler ihrer Jugend.

Dieses Danke drückt sich nicht nur in den Geschichten aus, denn alle Autoren und Illustratoren sind sich einig, dass die Erlöse dieses Buches dem Karl-May-Museum in Radebeul gespendet werden. Dafür möchte ich mich noch mal herzlich bedanken!

Nun bleibt mir nicht mehr, als Sie auf die Reise in einen Wilden Westen zu schicken, den es niemals gab und Ihnen viel Vergnügen zu wünschen!

Reiten Wir!

Alex Jahnke

VORWORT
RUTH ELLEN GRUBER

Ich wuchs im Nachkriegs-Amerika auf, ein Ostküstenkind gefangen in den Fantasien der »Frontier«. Mein Zuhause war in der Nähe von Philadelphia – tausende Kilometer von dem entfernt, was man einst den Wilden Westen nannte. Doch ich wurde verzaubert durch die Westernserien mit Gene Autry, Roy Rogers, Hopalong Cassidy, dem Lone Ranger und vielen anderen. Schon als kleines Kind lief ich mit Cowboyhut und Spielzeugrevolver umher. Meine Mutter (sowie ihre Mutter davor) kamen aus Texas und ich bekam meine erste Cowboyausrüstung als Kleinkind im Kurzwarenhandel meines Großonkels in Baytown, am Golf von Mexiko.

In dieser Hinsicht war ich eines von Millionen Kindern Amerikas – und ebenso Erwachsener. John Wayne hatte seine Hochzeit und Western waren extrem populär. Ich unterschied mich aber in einem wesentlichen Punkt: Als Teenager war ich eine der wenigen Amerikanerinnen, die Karl May kannten und eine der ganz, ganz wenigen – ich gestehe – die sich, wie unzählige europäische Mädchen, in den verträumten französischen Schauspieler Pierre Brice und seiner Rolle als Winnetou verliebten.

In den letzten 12 Jahren forschte ich zu dem Thema, das ich »Imaginary Wild West in Europe« nenne. Eine breitgefächerte Subkultur, welche alles beinhaltet – von Wild-West-Freitzeitparks über Rodeos bis hin zu Trucker-Festivals und der mannigfaltigen Reenactor-Szene. Countrymusik in all seinen Spielarten bildet dazu den Soundtrack. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1999 bezeichnen Edward Buscombe und Kevin Mulroy Amerikas Legende der Besiedlung des Westens als »den am erfolgreichsten vermarkteten Nationalepos in der Geschichte1« . Jeder hat das Gefühl, ein Teil davon zu sein und in der Tat, die Cowboys, die Indianer, die Weite einer Westernlandschaft, die Schlangenlederstiefel, die schwingenden Saloontüren, die nicht enden wollenden Straßen, das Twang eines Banjos oder einer Steel Guitar: All dies sind direkt wiedererkennbare Symbole voller Subkontexte und Nuancen.

Diese Faszination, wie auch die Entwicklung des Phänomens, hat eine lange Geschichte. Als Buffalo Bill vor mehr als einem Jahrhundert durch Europa zog und dabei selbst die heutige Ukraine erreichte, zog er mit seiner Fleisch und Blut gewordene Verkörperung einer literarischen Fantasie riesige Menschenmassen an. Einige Jahrzehnte früher hatten der »Letzte Mohikaner« und andere Werke von James Fenimore Cooper den europäischen Kontinent im Sturm genommen. Während des 19. Jahrhunderts entwickelte Europa seine ganz eigene Tradition der Wild-West-Literatur. Karl May war der populärste und erfolgreichste Autor dieser neuen Tradition, aber bei weitem nicht der Einzige. Dutzende europäische Autoren schrieben Abenteuer, die im Wilden Westen spielten.

Eines meiner Hauptinteressen in der Erforschung des »Imaginary Wild West« Europas ist die Art und Weise, wie sich die Europäer der amerikanischen Archetypen angenommen und sich diese zu eigen gemacht haben – sei es durch Literatur, Convention oder durch ihre eigenen fiktionalen Heldenfiguren. Der Wissenschaftler Richard Carcroft schrieb dazu: »Andere Nationen haben einen Anspruch auf den amerikanischen Westen, der ebenso bedeutend ist, wie der der amerikanischen Nation selbst2«

In vielerlei Hinsicht ähnelt die Art, wie Europäer die Mythologie des Wilden Westens für sich vereinnahmen und ausschmücken dem, wie es auch Amerikaner tun. Doch Europäer nähern sich diesem Thema (oder das Thema nähert sich ihnen) aus der Ferne, aus einer anderen und in gewisser Weise mehr desinteressierten Richtung: Sie nähern sich dem amerikanischen Westen aus Gesellschaften, Staaten und Kulturen, deren eigene Nationalidentität nicht von der amerikanischen Gründungslegende abhängt. Ihre Begeisterung ist daher eher in einer Art transformativer Nostalgie verwurzelt – für etwas, das es vielleicht niemals gegeben hat. Der Brite David Hamilton Murdoch schrieb dazu in seinem Buch »The American West: Creation of a Myth«, dass Europäer »Außenseiter sind, die in das Innerste schauen – auf ein Bild der Welt, die sie niemals hatten. Für sie ist der mystische Westen der schönste Eskapismus. Was für Amerikaner der Fallstrick ihres eigenen Mythos ist, ist für andere die eigentliche Essenz3

Mein erster persönlicher Kontakt mit dem Imaginary Wild West Europas – und mein Entdecken Karl Mays – fand im Jahr 1966 statt. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, während meine Familie den Sommer in der kommunistischen Tschechoslowakei verbrachte; mein Vater leitete eine archäologische Grabung in der Nähe von Prag. Ich schrieb damals Tagebuch; ein Tagebuch, welches ich (verblüffenderweise) immer noch besitze. Darin notierte ich mit einiger Verwunderung die tschechische Faszination zu Winnetou und zum Wilden Westen im Allgemeinen. Tatsächlich haben die Tschechen eine lange Tradition einer Outdoor- und Musiksubkultur namens »Tramping«, die sich nach dem 1. Weltkrieg entwickelte und den amerikanischen Westen romantisiert. Tschechische Tramps trugen oft Cowboyhüte oder Bandanas, sie gaben ihren Camps Namen wie »Colorado« oder »Arizona« und schmückten sie mit Totempfählen, Tipis und anderen Symbolen des Wilden Westens. Die Inspiration dazu zogen sie aus vielen Quellen, darunter auch Karl May: Winnetou wurde bereits im Jahr 1901 ins Tschechische übersetzt.

»Cowboys und Indianer sind ÜBERALL!«, schrieb ich in mein Tagebuch. »Besonders (…) die Filme mit Winnetou und Old Shatterhand. Hemden, braun, mit falschen Fransen und Schnürung werden als ARIZONA beworben, direkt daneben werden TEXAS Blue Jeans angeboten …«

»Winnetou«, so schrieb ich, »ist anscheinend der feierlich dreinschauende Indianer (in typischer Kleidung), der entweder wie Sal Mineo oder Paul Newman aussieht (oder wie beide)«. In jedem Schaufenster, so notierte ich damals, »findet man Farbpostkarten oder Dias mit Szenen aus dem Film zum Kauf; ich entdeckte Winnetou-Schokoriegel, -Bücher und ein Poster zum Winnetou-Soundtrack, usw«. Weiterer »Vinnetou Junk« (wie ich es in der tschechischen Schreibweise nannte), waren unter anderem »Bügelaufnäher, Jeanshosen, Aushangkarten, Spielkarten mit dem Schauspieler, der Vinnetou spielt, Zeitschriftencover …« Ich kaufte Fotos von Pierre Brice und schnitt sein Bild aus tschechischen Zeitschriften aus. Und ich sah den Film »Winnetou« im Fernsehen. »Es war ein ziemlich schlechter Film, aber in einigen Punkten interessant«, war meine strenge Teenagerkritik. Die interessanten Punkte waren die internationale Besetzung, die Tatsache, dass der Film in Jugoslawien gedreht war, die Besonderheit, dass die Indianer die Guten waren (im Gegensatz zur typisch amerikanischen Erzählweise) und die »hohe und nasale« Stimme des Schauspielers, der Brice in der tschechischen Version synchronisierte: Im Imaginary Wild West der amerikanischen Filme und TV-Serien hatten Indianer (wie zum Beispiel Tonto, der Gefährte des Lone Rangers) eine tiefe Stimme.

 

Als Brice 2015 im Alter von 86 Jahren verstarb, verfiel ein großer Teil Europas in Trauer; aber nur wenige Amerikaner (außer mir) hatten jemals seinen Namen gehört. Ich bedauere sehr, dass ich nie die Gelegenheit hatte, ihn persönlich zu treffen und ihn für mein »Imaginary Wild West«-Projekt zu interviewen – oder ihn wenigstens einmal als Winnetou in Bad Segeberg gesehen zu haben, dem größten und ältesten der knapp ein Dutzend Karl-May-Festspiele, die jedes Jahr in Europa stattfinden.

Aber ich durfte einen anderen Winnetou treffen – Gojko Mitić, der jugoslawische Schauspieler, der durch seine Rollen als heroischer Indianer in ostdeutschen Westernfilmen zur Berühmtheit gelangte. Mitić spielte 15 Jahre lang den Winnetou in Bad Segeberg. Dort sah ich ihn 2003, ernst und nachdenklich auf seinem nachtschwarzen Pferd, in einem makellosen Lederhemd mit Perlenstickereien, Stirnband und einer langen Schwarzhaar-Perücke.

Jahre später traf ich Mitić auf einem der Karl-May-Festivals, die jedes Frühjahr in Radebeul, Karl Mays Wohnort, stattfinden. Mitić war der Ehrengast des Festivals und hatte sich zu dieser Gelegenheit als Cowboy gekleidet.

Das Festival in Radebeul war – und ist bis heute – Karl May gewidmet, seinem Werk, seinen Figuren und seiner Person. Es beinhaltet aber auch andere Aspekte des Imaginary Wild Wests: Country Musik, Line Dance, Bürgerkriegs-Reenactor, Lager (von denen einige die Fahne der Konföderierten flaggen), eine kleine Westernstadt mit dem Namen »Little Tombstone« und Dutzende von Ständen, die Westernbekleidung, Bücher, Trinkbecher und Kunsthandwerk verkaufen.

Mitić sagte mir, dass all diese unterschiedlichen Blickwinkel und Auffassungen zusammenpassen. All dies sei Teil des Erbes Karl Mays. Während wir uns unterhielten, tippte er sich an seinen (Cowboy-)Hut, um dem Mann zu danken, »der all dies geschrieben hatte.«

OLD FAITHFUL
ROBIN GATES

»Ich konnte die Empfindung nicht los werden, als sei ich der Held eines jener phantastischen Märchen, welche ihre Gestalten der Einbildungskraft des Dichters entnehmen und grad desto interessanter sind, je unmöglicher die Ereignisse genannt werden müssen, welche sie erzählen.«

(Karl May, »Old Firehand«)