Reiten wir!

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

An Bord herrschte nun Aufruhr.

Natürlich hatten die Wachen das fliegende Ungetüm gesichtet. Einige von ihnen stiegen auf das Dach der Waggons und schossen in den Himmel. Ikstrom flog hin und her, als könnte er so den Schüssen ausweichen, und vor ihr hatten auch Budge, Hobble-Frank und Tante Droll das Feuer eröffnet.

Erst einer, dann ein weiterer Mann wurden auf dem Dach des Zugs getroffen und taumelten hinab, rollten über den staubigen Boden neben den Schienen und blieben reglos liegen. Ellen sah Dampfwolken von einem Hügel weiter vorne aufsteigen – das musste Parsons sein.

Budge hatte nicht zu viel versprochen – mehr Ablenkung konnte sein Kumpane, den er in den Zug eingeschleust hatte, kaum haben.


Was in den nächsten Augenblicken geschah, sollte Ellen immer wieder im Geiste durchspielen, und doch sollte sie nie zu einem eindeutigen Schluss kommen, was wirklich geschehen war.

Es stürzte noch ein Mann vom Zug. Daran erinnerte sie sich genau, denn sie musste ihm ausweichen.

Dann wurde Budge getroffen.

Er ritt vielleicht zehn Meter vor ihr, riss plötzlich einen Arm hoch. Sein Pferd verlangsamte und er kippte zur Seite.

Ellen hielt ruckartig ihr Pferd an und kam zum Stehen, als er gerade zu Boden fiel. »Bill!«, rief sie aus, sprang von ihrem Pferd und ging bei ihm in die Hocke.

»Der Zug!«, rief er aus und klang fast wütend.

Gerade verschwand die Spitze des Zuges in einer Kurve hinter dem nächsten Hügel, doch Ellen erhaschte einen Blick darauf, wie ein Mann zwei schwarze Koffer aus einem Fenster warf, während über ihm ein wildes Feuergefecht ablief – und Ikstrom weiter über dem Zug flog. Hobble-Frank und Tante Droll mussten sich auf der anderen Seite des Zuges befinden und nichts von den Taschen gesehen haben.

»Du bist getroffen!«, sagte Ellen vorwurfsvoll.

»Es ist nicht schlimm«, sagte Bill, und Ellen sah schnell, dass er recht hatte. Ein oberflächlicher Streifschuss am Arm. Sie riss den Ärmel seines Hemdes ab und verband die Wunde fest, dann half sie ihm auf.

»Ich habe die Koffer gesehen – sie sind in der Kurve vom Zug geworfen worden.«

Trotz der Verletzung lächelte Bill. »Genau wie geplant.«

Stöhnend stieg er wieder auf sein Pferd, Ellen auf ihres. Sie trabten weiter die Schienen entlang.

»Der Zug wird jetzt beschleunigen. Niemand an Bord weiß, dass die Geldkoffer ausgetauscht worden sind.«

Sie umrundeten den Hügel, und Ellen sah, dass er recht hatte. Der Zug verschwand in der Ferne. Auf dem Dach waren noch immer Wachen zu sehen, doch sie hatten das Feuer eingestellt.

Vom Hügel kam Parsons herunter, mit über die Schulter gelegter Flinte.

Von weiter vorne ritten Hobble-Frank und Tante Droll heran.

Sie trafen sich direkt dort, wo die beiden Geldkoffer aus dem Zug geworfen worden waren.

Nur lagen sie dort nicht mehr.

Und der Himmel war leer.


»Es war hier!«, rief Ellen aus. »Ich habe es genau gesehen! Zwei schwarze Koffer! Und …« Sie versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, was sie dann gesehen hatte.

»Und was?«, fragte Budge, der den Blick nicht vom Boden abwenden konnte.

»… ich bin mir nicht sicher.«

Budge schaute nun in den Himmel. »Wohin ist er verschwunden?«

Hobble-Frank schaute zu Tante Doll. »Hast du ihn wegfliegen sehen?«

Der Angesprochene schüttelte nur den Kopf. »Er war plötzlich weg.«

»Vielleicht ist er abgestürzt?«, mutmaßte Ellen.

»Warum sollte ein Vogel abstürzen?«, fragte Parsons.

Alle Blicke wanderten zu ihr.

»Vogel?«, fragte Budge.

»Sein Falke ist die ganze Zeit über dem Zug gekreist, hat sogar die Wachen angegriffen. Der kann froh sein, dass er von keiner Kugel getroffen wurde – weder von den Wachen, noch von mir.«

Ungläubig schaute Ellen nacheinander die drei Männer an. »Es war Ikstrom. Auf diesem Fluggerät. Ihr habt es doch auch gesehen?«

Die drei drei nickten.

»Verflucht.« Ellen riss die Zügel herum und ritt die Bahnstrecke entlang zurück, wie sie gekommen war, und die anderen folgten ihr.


Am Fuß des Hügels, den Ikstrom hinabgerast war, hing immer noch der Staub in der Luft.

Bei den Felsen neben den Schienen fanden sie das zertrümmerte Gefährt. Alles Holz war gesplittert, das Metall verbogen, die beiden Flügel hingen in Fetzen.

Und von Ikstrom gab es keine Spur.

»Sein Falke!«, rief Ellen aus. »Er war heute morgen nicht da! Es hätte mir doch auffallen müssen … Es war der Falke, der am Fuß des Hügels gewartet hatte. Er muss abgesprungen sein … dann ist der Falke in die Luft geflogen, und … und …«

»Aber wie konnten wir alle die gleiche Illusion sehen?«, fragte Tante Doll.

»Das Pulver!«, entfuhr es Ellen. »Er hat den Kaffee gekocht, und ich habe ihn mit dem Beutel hantieren sehen.« Sie lachte auf und schüttelte den Kopf. »Er hat uns diese Idee in den Kopf gesetzt, dass er mit diesem Ding fliegen könnte, und dann hat er uns heute Morgen etwas verabreicht, das es uns wirklich hat sehen lassen. Dieser Feenstaub hatte sicher keine magischen Kräfte.« Sie schaute zu Parsons. »Du warst schon weg, als er den Kaffee gekocht hat. Deswegen hast du gesehen, was wirklich geschehen ist.«

Hobble Frank nahm ein Stück Metall und drehte es in den Händen. »Wegen des Zuges haben wir den Aufprall nicht gehört. Er muss abgesprungen sein, zu seinem Pferd geeilt, das irgendwo hier unten versteckt war, dann ist er um den Hügel herum zum Abwurfort geritten, während sein Falke gekreist ist, hat die Geldkoffer mitgehen lassen …«

»… und ist davongeritten«, schloss Tante Doll.

»Ich dachte, mit seinem verrückten Gefährt hätte ich das perfekte Ablenkungsmanöver gefunden … ich habe es vor einigen Tagen selbst fliegen sehen«, sagte Budge fassungslos. »Aber auch da wird er mir sein Pulver verabreicht haben, um mich gutgläubig zu machen.«

»Ein gelungenes Ablenkungsmanöver war es wirklich«, sagte Ellen. »So gut, dass es sogar uns alle getäuscht hat.«


»Hobble-Frank und ich haben entschieden, dass wir von einer Verhaftung absehen«, verkündete Tante Doll. »Erstens waren wir selbst an diesem Überfall beteiligt, auch wenn er ein hehres Ziel verfolgt hat, zweitens bist du schon gestraft genug. Allerdings können wir wegen unserer Komplizenschaft beim Sheriff von Reno kein gutes Wort für dich einlegen, denn die Wachen im Zug werden dich wahrscheinlich erkannt haben.«

»Euch auch«, erinnerte Ellen.

Hobble-Frank zuckte mit den Schultern. »Wir wollten sowieso woanders hin.«

Budge nickte ihnen noch einmal zu. »Es war mir eine Freude, meine Herren. Die Dame.« Dann wendete er sein Pferd, und er und Parsons ritten nach Norden.

»Wir sollten vielleicht nicht die gesamte Strecke die Schienen entlang reiten«, meinte Hobble-Frank. »Falls der Zug mit seinen Wachen wieder vorbeikommt.«

Sie beschlossen, in einer geraden Linie nach Osten zu reiten und sich an die kleinen Farmen im Hinterland zu halten.

Kaum, dass sie wieder in einem gemächlichen Tempo unterwegs waren, begannen die beiden über Bewässerung zu streiten und die Möglichkeit, mitten in der Wüste eine große Stadt aufzubauen.

Ellen ließ sich zurückfallen, schaute nach Süden und glaubte, am Horizont eine Bewegung zu sehen. Etwas kreiste dort.

Vielleicht ein Falke.

DIE JAPANISCHEN ANGELEGENHEITEN EINES TOTEN GENTLEMANS
SELINA HARITZ

Winsten Colten war ein Gentleman, wie er im Buche stand. Er war stets akkurat gekleidet, Einstecktuch und Taschenuhr in der Weste, das Hemd sorgfältig geplättet und gesteift, der Bart mit Öl gepflegt und frisch gestutzt und selbst die Schuhe frei von Staub.

Sein Gesicht war friedlich. Ich hoffte, dieser Gesichtsausdruck zeugte davon, dass er sich über seinen Tod nicht allzu gegrämt hatte. Das Blut aus der Schusswunde in der Brust würde man aus dem Gehrock nicht mehr entfernen können. Ich sah zu, wie Mister Atkins, meinen – nun ehemaligen – Gast mit einem Helfer zusammen auf die Trage hob. Ich trat zu ihm hin und schloss mit zittrigen Fingern sein Jackett. Selbst die mit dem Union Jack versehenen silbernen Knöpfe waren blank poliert.

»Hatte er sonst noch etwas bei sich, Miss?«, fragte Atkins, als spräche er zu einer trauernden Witwe. »Nein«, antwortete ich, ohne weiter darüber nachzudenken. Erst, als die Tür hinter den beiden Totengräbern und ihrer schweren Last zufiel, erinnerte ich mich wieder an den braunen Lederkoffer, den Mister Colten zu Beginn unseres Treffens neben der Chaiselongue abgestellt hatte. Wie eine Katze schlich ich um ihn herum, ehe ich mir ein Herz fasste und ihn auf den Schreibtisch hob.

Es klopfte und ehe ich den Zutritt verweigern konnte, war die Türe schon geöffnet und Anne, eines meiner Mädchen, stand im Zimmer. Ich ersparte ihr die Ansprache zum Thema ›Was wäre, wenn ich gerade einen Kunden gehabt hätte‹ und sah sie stattdessen nur stumm an. Der Tod von Mister Colten saß mir noch immer in den Knochen. Sie stellte ein Tablett mit einem Glas und einer Flasche Whiskey vor mir auf den Tisch. Ich betrachtete die zarten Finger, die mir kurz darauf fürsorglich über die Wange strichen: »Soll ich jemanden für Sie rufen, Miss?«

 

»Ein guter Gedanke! Anne, such doch bitte Mister Morrison und frag ihn, ob er Zeit für mich erübrigen kann.« Ich sah ihre Verwunderung in den großen blauen Augen, sagte aber nichts weiter dazu. »Sicher. Sonst noch etwas, Miss?«

»Nein.« Sie lächelte aufmunternd und mir entging, dass sie den Raum verließ, da ich den Koffer anstarrte. Ich trank entschlossen einen Schluck Whiskey, und als er meine Kehle hinab brannte, öffnete ich das Gepäckstück.

Eine Stunde später saß George-Harker Morrison mir am Schreibtisch gegenüber. Er war bei weitem kein Gentleman wie Mister Colten, doch ich musste ihm zugutehalten, dass er im Gegensatz zu meinem treuen Kunden nicht in diesem Zimmer erschossen worden war. Ich wusste, dass Morrison seinen Revolver, der lässig im Holster steckte, gut beherrschte und auch nicht zögerte, davon Gebrauch zu machen, wo andere es vielleicht noch mit Worten versuchten. Er roch nach Tabak und Lagerfeuer, Whiskey und Pferd. Der Stetson ragte ihm tief in das bartstoppelige Gesicht; die Grundform eines Moustaches ließ sich gerade noch erahnen.

Ich holte die silberne, etwa vierzig Zentimeter hohe goldene Statue aus dem Koffer heraus. Sie bestand aus zwei Tieren. Ein stolzer Kranich, der mit langen Beinen auf dem Rücken einer Schildkröte stand, welche jedoch den Kopf und die Beine eines Drachen hatte. Ich gab sie Morrison, der sie vorsichtig in den Händen hin- und her drehte. »Ein Räuchergefäß«, fasste er seine Gedanken zusammen und strich mit den Finger über die metallenen Federn des Vogels. Er klappte den Flügel des Kranichs beiseite und zeigte mir eine kleine Kammer, in der das Rauchwerk gelegt werden konnte. Ich vermutete, dass der Rauch aus dem Schnabel herausqualmen würde. Mich erwartungsvoll anblickend, stellte er die Statue wieder auf den Tisch und rückte seine Weste zurecht. Ich erzählte ihm, was sich in meinem Zimmer zugetragen hatte:

Es war gegen halb vier, ich half gerade Mary, das Parfüm für den Abend auszusuchen, als es unten im Saloon laut wurde. Zunächst wartete ich ab, ob es sich nur um eine der üblichen Streitereien der Männer handelte, oder um eine Angelegenheit von größerem Ernst. Als dann das erste Glas splitterte, ging ich entschlossen die Treppe herunter. Ein Cowboy drückte den armen Mister Colten dergestalt auf den Tresen, dass lediglich seine Fußspitzen noch den Boden berührten. Der Barmann, Mister Irwing, räumte Flaschen aus dem Weg, anstatt einzugreifen. Ich beschloss, darüber später mit ihm zu reden. Die anderen Gäste beobachteten das Geschehen mit gesteigertem Interesse, niemand jedoch rührte sich. »Aber meine Herren«, ergriff ich das Wort und trat weiter auf sie zu: »Ist das denn wirklich notwendig?« Einige der Gäste lüfteten ihre Hüte, als ich an ihnen vorüberging.

Mister Slater – jetzt, wo er sich zu mir umdrehte, erkannte ich ihn – stellte sein Opfer auf die Füße und hob ebenfalls seinen Hut: »Entschuldigung, Miss.« Er rüttelte etwas an Mister Coltens Weste, um sie wieder notdürftig in Form zu bringen. »Mit uns sind die Pferde durchgegangen.« Ich sah Coltens bleiches Gesicht und war mir sicher, dass mehr hinter der Angelegenheit steckte. »Nachdem das geklärt ist …« Ich beendete den Satz nicht, sondern rechnete anhand der Scherben meinen Verlust zusammen. Die letzten Monate lief es nicht allzu gut und jede Schlägerei riss ein weiteres Loch in meine sowieso schon leere Geldkassette. Mehr als zwei Gläser und verschütteten billigen Whiskey hatte es jedoch nicht gekostet. Also lächelte ich und hakte mich bei Slater unter. Er roch unangenehm schwitzig. »Aber abgesehen von dieser Lappalie eben: Es freut mich, Sie nach so langer Abwesenheit wieder hier zu haben! Wie war die Reise? Sie waren schon etwas weiter fort, oder?« Mit einem Augenaufschlag dirigierte ich Mister Colten nach oben in mein Zimmer, während ich mir und Slater ein Glas Port einschenkte.

Der Westmann trank das Glas in einem Zug leer. »Netter Versuch, mich abzulenken, Miss«, grinste er breit und legte seinen Arm um meine Taille. Er drückte mich an sich; nicht so, dass es unangenehm war, aber doch so, dass ich die unausgesprochene Warnung verstand. »Ich werde hier unten auf ihn warten, keine Sorge.« Damit entließ er mich, gab mir – zu meiner Empörung – einen Klaps auf den Po und bestellte sich noch ein weiteres Glas Port.

Kaum war ich zurück im Zimmer – mein Gast saß kerzengerade auf der Chaiselongue, die Melone in den Händen – platzte es aus mir heraus: »Mein lieber Mister Colten, was haben Sie denn mit diesem Verbrecher zu schaffen?«

»Ach, Miss …«, seufzte er, knetete seinen Hut und sah betrübt zu mir auf. »Ich befinde mich in einer prekären Lage, aber das ist Ihnen sicherlich nicht entgangen.« Erst jetzt fiel mir auf, dass er einen Koffer neben sich stehen hatte; so nah, als wollte er ihn beschützen. Ich setzte mich ihm gegenüber und schlug ein Bein über das andere. Mir war nicht daran gelegen, ihn zu verführen. Mister Colten war noch nie zu mir gekommen, um mit mir zu schlafen. Stattdessen redeten wir viel. Wir diskutierten das Zeitgeschehen, Neuigkeiten aus der alten Welt, Nachrichten aus der neuen. Er wusste stets, wie der aktuelle Goldpreis stand, wo vor Kurzem lukrative Minen eröffnet wurden, oder wo es ein Unglück gegeben hatte. Wir sprachen nie über seine Arbeit – umso mehr erstaunte es mich, dass er diesmal sogleich damit anfing. »Mein Arbeitgeber Hendrix & Garns schickte mich kürzlich zu einer Mine nahe Oath Hallow. Dort angekommen, berichteten mir die Arbeiter über seltsame Ereignisse und Spukgeschichten, die ich es selbst nicht glauben konnte. Ich beschloss, diesen Spuk und seinen Wahrheitsgehalt gründlich zu prüfen, denn bisher hat sich wohl noch jede Spukgeschichte als wissenschaftlich erklärbar erwiesen, wenn man sie nur gründlich erforschte.« Er tippte zur Bestätigung mit seinem Zeigefinger auf die Holzplatte des Tisches und sank dann nach hinten zusammen, um sich erschöpft anlehnen zu können. »Der Vorsteher der Mine, entschuldigt die Wortwahl, Miss, ein schmieriger Typ versuchte mich von meinem Vorhaben abzuhalten. Doch ich wischte die Warnungen beiseite. Ach, Miss …« Er lehnte sich wieder nach vorne und sah mich kummervoll an. »Hätte ich nur auf ihn gehört und mich nicht aufgespielt, um den Männern zu zeigen, was durch einfaches logisches Denken herauszufinden sei.«

Ich beendete meine Erzählung und schenkte mir selbst noch Whiskey nach. Dann sah ich Morrison an: »Er kam nicht dazu, mir zu erklären, was er herausfand, oder wie diese Geschichte endete.« Ich nickte in Richtung des notdürftig geflickten Fensters und dann zu dem Blutfleck auf dem Boden. Verzweiflung überkam mich. Der Gesichtsausdruck von Colten, Augenblicke vor seinem Tod. Als täte es ihm Leid, mich in diese Angelegenheit hineinzuziehen. Außerdem ging mir durch den Kopf, dass ich nicht wusste, wann ich genug Gewinn erwirtschaftet haben würde, um das Fenster ersetzen zu lassen – geschweige denn wie ich den Ruf wieder loswerden sollte, mein Geschäft sei nicht sicher. Ich erstickte die Tränen mit einem weiteren Schluck und fuhr fort: »Ich weiß, dass Slater während des Mordes unten im Saloon saß und auch mit niemandem gesprochen hatte, der in seinem Auftrag …« Ich brach ab und kippte den Rest des Getränks meine Kehle herunter. »Alles, was ich habe, ist der Inhalt des Koffers. Der mir mehr Rätsel aufgibt, als er löst. Und das unbestimmte Gefühl, dass die Jameston-Brüder darin verwickelt sind.« Diese Haderlumpen hatten bei den allermeisten krummen Geschäften der Town ihre Finger im Spiel – in dem anderen Teil war es Morrison. »Ich benötige Begleitung für eine Reise«, sprach ich schließlich zögerlich, mir noch immer nicht sicher, wem ich derzeit trauen durfte. Morrison sah mich kurz an, nickte und hob sein Glas zu einem Toast. »Ich möchte morgen früh aufbrechen«, ergänzte ich. Wieder nickte er, stieß mit mir auf das besiegelte Geschäft an und trank das Glas in einem Zug leer.

Es war mitten in der Nacht, als mich jemand an der Schulter berührte und mir sogleich mit einer großen Hand den Mund zuhielt. Ich roch den alkohol- und tabakgeschwängerten Atem von Morrison direkt über mir. Vor Schreck und Empörung war ich nicht dazu fähig, zu schreien und stattdessen jetzt hellwach. »Die Jamestons wollen Euch besuchen, Miss, besser wir brechen sofort auf«, erklärte er sein ungehöriges Eindringen und half mir aus dem Bett. Er schlich an mein Fenster, um durch den Spalt zwischen den Läden hindurch zu schielen, während ich mir Bluse und Hosenrock anzog. Vorsorglich hatte ich gestern bereits zwei Satteltaschen mit dem Nötigsten gepackt, was unseren Aufbruch wesentlich beschleunigte.

Wir schlichen durch den Hinterausgang nach draußen. Als Morrison mir auf mein Pferd half, knallte es plötzlich, als trat jemand eine verschlossene Tür ein. Ich stellte mir kurz die Frage, wie Morrison in mein Zimmer hineingekommen war. Aber: Details.

Wider Erwarten verließen wir die Stadt nicht im gestreckten Galopp, sondern langsam und leise. Erst als wir in der offenen Prärie angekommen waren, trieben wir unsere Pferde an. Der Gedanke, die Gebrüder Jameston im Nacken zu haben, weckte ungeahnte Kräfte in mir.

Zielsicher lenkte mein Beschützer uns zwischen ein paar Felsformationen, ehe er anhielt und abstieg. »Es ist zu dunkel«, beschied er und half mir von meinem treuen Gefährten herunter. Wenig später saß ich an einem kleinen Lagerfeuer. Morrison hielt mir auffordernd seine geöffnete Hand entgegen und erst, als ich meine hineinlegte, bemerkte ich ihr Zittern. »Die Jamestons sind ein faules Pack. Sie werden erst zum Tagesanbruch losreiten uns zu suchen; außerdem wissen sie nicht, wohin wir unterwegs sind.« Er strich sanft über meinen Handrücken und mir wurde bewusst, dass auch er es nicht wusste. Ich erklärte leise: »Ich möchte nach Desertbrook. Eine Freundin von mir lebt dort. Sie kennt sich mit allerlei seltsamen Dingen aus.« Er nickte: »Wir brechen mit der Dämmerung auf. Schlafen Sie etwas, Miss.« Er bettete meinen Kopf in seinem Schoß und fuhr mir durch die Haare.

Immer wenn ich wach wurde, sah ich ihn über mir sitzen, eine Pfeife zwischen den Lippen und die braunen Augen aufmerksam in die Umgebung gerichtet.

Am Morgen wurde ich vom Geräusch einer kleinen Kaffeemühle geweckt. Morrison hatte die Glut noch einmal zusammengeschoben und kochte in zwei Blechtassen Wasser. Eine Packung Arbuckle‘s Ariosa stand neben ihm. Kurz vor dem Siedepunkt schüttete er das Pulver hinein, wartete kurz und nahm die Tassen mit einer zügigen Bewegung aus der Glut. Anschließend goss er einen Schluck kaltes Wasser aus der Feldflasche nach, damit der Kaffee sich besser absetzte. Schweigend tranken wir und ich streckte mich ausgiebig, um die harte Nacht aus den Knochen zu vertreiben. Der Arbuckle weckte mich zunehmend auf; ein Kanten Brot beruhigte den Magen. Morrison verwischte die Spuren unseres Lagers so gut, dass ich glaube, nur ein Apache hätte noch herausfinden können, dass wir hier waren.

Wir ritten, bis die Sonne fast senkrecht auf uns herunterbrannte. Meine Haut, die sonst eher das Nachtleben und die geschlossenen Gebäude der Stadt zu schätzen wusste, färbte sich zunehmend rot. Wohingegen die meines Begleiters sich daran nicht zu stören schien. Wir hielten an und ich wollte mich gerade erschöpft aus dem Sattel fallen lassen, da schreckte Morrison herum und betrachtete mit abgeschirmten Augen den Horizont. Ich tat es ihm gleich, doch vermochte ich nichts zu entdecken. »Wir werden verfolgt«, kommentierte er lediglich und gab seinem Pferd die Sporen.

Ich war keine geübte Reiterin und so mussten wir nach anfänglicher Eile die Geschwindigkeit meinen Fähigkeiten anpassen. Umso mehr legte sich Morrison ins Zeug, es unseren Verfolgern so schwer wie möglich zu machen. Ich fing an mich zu fragen, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, den Jameston-Brüdern die Tasche von Mister Colten vorzuenthalten, denn nur darum konnte es gehen; jetzt wo der Gentleman tot war. Es war eine Dummheit, mich gegen sie zu stellen. Aber auch eine Sache der Ehre. Ich sah es als letzten Wunsch des Verstorbenen an, dass ich und nicht sie diese Statue besaßen. Außerdem nahm ich es noch immer persönlich, dass sie die Frechheit besessen hatten, einen meiner Gäste in meinem Geschäft zu erschießen.

Morrison trieb uns vorwärts und gestattete uns erst zur Abenddämmerung eine Rast. »Noch so ein Tag und ich gebe ihnen freiwillig dieses elende Räuchergefäß«, kommentierte ich die Entbehrungen; halb im Scherz, halb ernst. Er nickte knapp: »Erlauben Sie, Miss, dass ich uns einem kleinen Risiko aussetze, um die Verfolger aufzuhalten?« Er sah mich dabei nicht an, sondern beobachtete die Umgebung mit zusammengekniffenen Augen. »Bevor ich euch morgen vom Pferd falle, um Himmels Willen: Ja.«

 

Es war mitten in der Nacht, da hörte ich die Tiere unruhig schnauben. Ich widerstand dem Bedürfnis, mich nach Morrison umzusehen. Das Feuer brannte recht hoch und qualmte heftiger als gestern. Ich presste mich tief in meinen Mantel und versuchte gleichmäßig und leise zu atmen. Kaum hatte ich mich etwas beruhigt, hallte ein Schuss durch die Dunkelheit. Meine Ohren klingelten, so nah war er abgefeuert worden. Die Pferde bäumten sich auf; wieherten. Ich hielt mir den Mund zu, um nicht zu schreien und drückte mich tiefer in den Boden. Ein weiterer Schuss folgte. Ich sah Wolle aus der Decke von Morrison fliegen und im Feuer glühwürmchengleich verbrennen. Die Pferde zerrten an ihren Stricken. Schatten huschten an mir vorbei; ein weiterer Schuss peitschte durch die Nacht und wie ein Stein ging jemand, wohl nur fünf Fuß neben mir, zu Boden. Ich hielt mit zittrigen Fingern meinen kleinen Revolver bereit. Noch ein Schuss, ein Mann schrie auf, blieb aber stehen. Sie ergriffen die Flucht, direkt an mir vorbei. Ich fasste mir ein Herz und betätigte den Abzug. Ich weiß nicht, ob ich traf, denn kaum hatte sich die Patrone auf den Weg gemacht, kniff ich vor meiner eigenen Courage die Augen zusammen.

Die Falle war aufgegangen. Einer der Vier, Frank, der älteste der Brüder, lag tot vor uns im Staub. Ich erkannte ihn an seinem leicht untersetzen Bauch, dem zu kleinen Hut und der schlecht sitzenden Hose. Von den anderen fehlte, abgesehen von einer Blutlache, jede Spur.

Der Rest der Reise verlief, wenn auch in Eile, so doch ohne weitere Zwischenfälle. Wir ritten zum Abend in die Stadt hinein und ich hoffte, dass es Ellen nicht bereits wieder fortgetrieben hatte. Sie neigte dazu – ganz wie ihre Eltern – nicht lange an einem Ort zu verweilen.

Der Saloon von Miss Pinky begann sich zu füllen. Wir gingen, nachdem wir die Tiere vor der Tür angebunden hatten, hinein. Ich hörte das fröhliche, aber falsche Spiel eines HonkyTonk-Pianos aus der Ecke. Einige der müden Goldgräber sahen kurz zu mir und dem grimmig dreinblickenden Begleiter auf und widmeten sich dann schnell wieder ihrem dünnen Bier. Morrisson besaß diese Gabe, so auf Menschen einzuwirken, dass sich niemand traute, ihn länger anzusehen.

Er steuerte die Bar an und bestellte mit rauer Stimme zwei Bourbon. Obwohl der Barmann die Augen hob – es war schließlich nicht üblich, dass eine Dame Alkohol in einem Saloon trank – stellte er uns ohne zu fragen zwei Gläser hin. »Hopkins, seien Sie so gut und schütten Sie den Fusel weg, geben meinen lieben Gästen etwas von der anderen Flasche.«

»Miss Pinky!« Ich strahlte die Besitzerin des Saloons an und wir begrüßten uns herzlich, während Hopkins den Wünschen seiner Hausdame nachkam.

»Was führt Dich her, Liebes? Und wer ist der hübsche Kerl, der Dich begleitet?« Sie drückte mich und führte uns an einen Tisch abseits der üblichen Gäste. Schwer ließ ich mich auf den Stuhl fallen und bereute es sogleich. Jeder Muskel schmerzte. »Das ist George-Harker Morrison, ein alter Freund.« Der Vorgestellte nickte kurz und sah, anders als Männer das üblicherweise taten, Pinky nicht in ihr ausladendes Dekolleté, sondern in die Augen. »Sehr erfreut, sie kennenzulernen, Mister«, antwortete sie und reichte ihm die behandschuhte Hand. Er nahm sie, führte sie kurz, einen Diener machend, an die Lippen und ließ sie dann wieder los. Ich hatte Zeit, Pinkys ausgefallene Mode zu bewundern. Das Mieder saß eng und drückte den Busen dekorativ nach oben, die Röcke stellten ihre Hüften hervor, die Spitze umspielte die blasse Haut. Selbst der Hut mit seinen violetten Federn passte perfekt.

»Wie also kann ich euch helfen, außer natürlich mit einem guten Schluck und einem weichen Bett für die Nacht?« Ich lächelte dankbar. »Oh, ein weiches Bett, das wäre fantastisch!«

»Das sollt ihr haben und ein warmes Bad noch dazu. Wie geht es dem Geschäft?« Ich seufzte: »Ehrlich gesagt, schlecht. Wenn es so weiter geht muss ich die ersten Mädchen entlassen.« Ich mied Morrisons Blick. Ich hatte es ihm bisher nicht erzählt, noch es groß in der Town herumgetrascht. Ich straffte stattdessen die Schultern: »Aber deswegen sind wir nicht hier. Ist Ellen noch bei Dir?«

»Ja, das ist sie, es ist ihr noch nicht warm genug für die Reise. Sie hat die kleine Wohnung unter dem Dach bezogen.« Die Schwingtür öffnete sich und ein paar Goldgräbern kamen lachend und prahlend herein. »Pinky, ich habe Geld gemacht«, dröhnte einer von ihnen. »Schwing deinen hübschen Hintern herüber und lass es mich zwischen deinen Brüsten ausgeben!« Der Sprecher stand mitten im Raum und mein geschulter Blick sagte mir, dass er einen Teil des Geldes bereits im Store für den einen oder anderen Schluck ausgegeben hatte. Wir Frauen nickten uns wissend zu. Pinky rollte kurz die Augen, setzte dann aber ein strahlendes Lächeln auf und verabschiedete sich von uns mit einem Nicken. »Mister Flynn!«, sprach sie den Mann an, hakte sich bei ihm ein und ging, um dem Mann bei seinem Problem behilflich zu sein.

Wir hingegen stiegen, durch den Tumult unbeachtet, die Treppen hinauf bis zum Dach. Ich klopfte an der Tür und wartete auf das ›Herein‹. Es roch nach Kräutern, die in Sträußen unter dem Dachstuhl trockneten. Ellen saß in einem Schaukelstuhl am Fenster, eine grob gestrickte Decke über ihren Beinen und beobachtete die Straße. »Guten Abend. Ich hoffe, wir stören nicht?« Die Angesprochene hob ihren Blick und verneinte mit einer kleinen Bewegung ihres Kopfes. »Was kann die alte Ellen für dich tun, Liebes?« Sie reichte mir zur Begrüßung beide Hände und drückte sie fest. Morrison hob seinen Hut ab und blieb in der Türe stehen.

»Ich habe etwas … geerbt und wollte fragen, ob du mir helfen kannst, es zuzuordnen. Ein Mann wurde deswegen getötet und andere jagen mich nun.«

»Ein Mann …?«, fragte Ellen mit zusammengezogenen Augenbrauen. Trotz ihres Alters war sie noch immer von schnellem Verstand. »Ein Kunde, ja, aber einer, den ich als Freund bezeichne; ein Gentleman noch dazu. Er wurde in meinem Zimmer erschossen«, fügte ich zur Erklärung und Verteidigung an. Zwar lebte Ellen über einem Bordell, aber sie hieß es dennoch nicht gut, dass ich diesem Beruf nachging. »Dann zeig mir mal, was so wertvoll ist, dass dafür getötet wurde.« Ich holte das Räuchergefäß hervor und reichte es ihr in die von Wetter und Alter geprägten Hände.

Sie betrachtete es eine Weile: »Ich schätze, es stammt aus Japan. Der Kranich, oder auch ›Tsuru‹, wie die Japaner sagen, steht auf einer Schildkröte: ›Kame‹. Beides Symbole für langes Leben. Nach einem japanischen Sprichwort lebt der Kranich ein Jahrtausend, die Schildkröte sogar zehn Jahrtausende.« Ich verzog meine Lippen; ›langes Leben‹ hatte diese Statue Mister Colten offensichtlich nicht beschert. »Sie ist», fuhr Ellen fort, »hier im Westen eine Rarität. Aber ich wüsste nicht, warum deswegen jemand derart …« Sie unterbrach sich und betrachtete die filigrane Statue eine Weile mit zusammengekniffenen Augen. Plötzlich fasste sie beherzt an den Kranich und drehte ihn, die Schildkröte festhaltend, gegen den Uhrzeigersinn. Ehe ich erschrocken ausrufen konnte, sah ich, dass die beiden Teile sich voneinander lösten. Fünf weitere Umdrehungen später hatte Ellen den Kranich von seinen Beinen getrennt und zeigte mir den unteren Teil. Er bestand neben der Schildkröte aus zwei hohlen Beinröhren. In der einen Röhre steckte ein gerolltes Papier. Gemeinsam fischten wir es heraus und entrollten es auf dem Tisch.

Ich sog überrascht die Luft ein, als ich eine Ansammlung von japanischen Schriftzeichen sah, die sich um eine kleine, einfache Karte schmiegten. Ellen erhob sich, für ihr Alter erstaunlich geschwind. Sie legte die Decke von ihren Knien über die Stuhllehne und holte ein Vergrößerungsglas aus einem fein verzierten Kästchen. Stehend und im Dämmerlicht, das durch das Fenster hereinkam, betrachtete sie die Schriftzeichen. Morrison hatte sich derweil kaum bewegt. Aufmerksam beobachtete er uns und lauschte auf den immer mehr zunehmenden Lärm, der aus dem Saloon zu uns heraufkam. »Mister«, sprach Ellen ihn unvermittelt an: »Wollen Sie uns wohl unten einen Tee besorgen?« Sie deutete auf die Blechkanne, die auf dem Tisch stand. Der Angesprochene sah zu mir hinüber, und als ich mit den Schultern zuckte, nahm er schweigend die Kanne und verließ uns. Ellen wartete, bis seine Schritte leiser wurden und flüsterte dann: »Traust Du ihm?« Ich ertappte mich dabei, wie ich mir nachdenklich durch die Haare fuhr: »Was den Schutz meines Lebens angeht: unbedingt. Warum? Was steht auf der Schriftrolle?«