Christian Springer
Enrico Caruso
Tenor der Moderne
epubli GmbH, Berlin
Enrico Caruso. Tenor der Moderne
Christian Springer
published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
Copyright: © Christian Springer
ISBN 978-3-8442-3096-3
Einleitung
I
Neapel – Musikmetropole und Geburtsstadt Carusos
Scarlatti und politisch motivierte Opernkunst
Goldenes Zeitalter und Niedergang der Opernmetropole Neapel
Errico Caruso
Ordnungssinn – Sauberkeit – erste Musikkontakte
Erste öffentliche Auftritte
Gesangsstudium
Brüderlich geteilter Militärdienst
Der Autodidakt
Caruso ein baritenore?
Beginn der professionellen Tenorkarriere
Erste Auslandsreise
Karriere in Neapel – Ignoranz in Caserta
Die Füchse Schottlands in Sizilien
Über Neapel und Salerno nach Mailand
II
Palermo – Leopoldo Mugnone – ein neuer Vorname
Ein Tenor zwischen zwei singenden Schwestern
Von Gott geschickt?
Ada Giachetti
Debut in Mailand – Uraufführungen
Genua
Ein Kind mit unbekannter Mutter
eine weitere Schicksalspremiere
Oper in St. Petersburg – Beginn der Internationalen Karriere
Argentinien – schönste Tenorstimme der Gegenwart
Triumphe in Rom
Lungenentzündung in St. Petersburg – ‚Zar der Tenöre‘ in Moskau
Argentinien
Auftritte mit Ada
Ein Sänger im Haus genügt
Der Konkurrent Bonci und seine Machenschaften
III
Wendepunkt der Operngeschichte
Scala-Debut
Wagner und eine weitere Uraufführung
Auftritt bei der Verdi-Gedenkfeier
„Wenn dieser Neapolitaner weiter so singt, wird die ganze Welt von ihm reden!“
Toscaninis Revolution
Der endgültige Durchbruch
Buenos Aires – der Wagner-Tenor Caruso
Warschau – Bologna – Triest – Nie wieder Neapel!
Monte Carlo
Rückkehr nach Mailand – eine weitere Uraufführung
Erste Schallplattenaufnahmen
Erste Spielzeit in London
IV
Schon wieder Eine Uraufführung
Neue Plattenaufnahmen
Tränen in Rom
Lissabon – erster Met-Vertrag
Im Aufnahmestudio
Südamerika
Oper in New York
Die Met vor Carusos Debut
In Mailand im Plattenstudio
Caruso in New York
Debut und erste Met-Saison
Beginn der amerikanischen Plattenkarriere
Debuts und letzte Plattenaufnahmen in Europa
Auftritte in Paris, Barcelona, Prag, Dresden, London
Villa Bellosguardo
V
Herbstsaison in Berlin und London
Zweite Met-Saison
Plattenaufnahmen
Erste Met-Tour
Paris – London – Begegnung mit einer Legende – Ostende
Erste Krise
Tagesablauf und Rituale
Der Mensch Caruso
Dritte Met-Saison – Chorstreik im Faustspielhaus
Küsse, Knoblauch und Unfälle
Im Plattenstudio
Met-Tournée mit Präsidentenphoto und Erdbeben
Ein Kompliment in London
Europatournée
Vierte Met-Saison – Skandal im Affenhaus und Justizgroteske
Neue Platten
Konkurrenz für die Met
Bonci versus Caruso
Wieder in Europa
VI
Stimmbandoperation – Probleme mit Ada – Misserfolg in Budapest
Fünfte Met-Saison
neue Künstler an der Met – Luisa Tetrazzini
Neue Rollen
Wieder im Studio
Vertragsbruch und Met-Tour
Schicksalsschläge
Erklärungsversuche
Mögliche Folgen
Der deutsche Kaiser als Carusos Diener
Die „neue“ Met – Sechste Met-Saison
Tour de force
Eine äusserst unangenehme Angelegenheit
Vom Arztgeheimnis
Rückkehr zur Normalität
Plattenaufnahmen
Siebente Met-Saison und neue Platten
Zurück im Studio
Met-Tour
VII
Die Mano nera
Triumph in Paris
Vergebliche Sportbemühungen – Unfälle in Deutschland
unbeholfenes Liebesleben
Achte Met-Saison – Eine Erstaufführung und eine Uraufführung
Erneut im Plattenstudio
Siebenmonatige Krise
Comeback
Neunte Met-Saison
Neue Plattenaufnahmen
Saisonabschluss in Paris
Vorwürfe aus der Heimat – private Morddrohung
Frühherbstliche Europatournée mit erotischer Carmen
Zehnte Met-Saison
Wieder im Studio
Rückkehr nach Europa
Caruso als Gesangstheoretiker
Katzen im Hotel?
VIII
Letzte Europtatournée – Nieder mit Deutschland!
Ein wunderbarer Abschied
Elfte Met-Saison – eine neue Rolle – Debut als Bassist
Plattenaufnahmen
Abschied von London
Kriegssommer – Kopfschmerzen – Gauner und Kretins
Der römische Triumphator
Zwölfte Met-Saison
Neue Platten
Toscaninis leiser Met-Abschied
Neuer Met-Vertrag
Monte Carlo
Südamerika, Debut als Bariton
Paris, Mailand
Dreizehnte Met-Saison
Neue Platten
Met-Tour und sommerlicher Erholungsversuch
IX
Plattenaufnahmen
Vierzehnte Met-Saison
Nochmals im Studio
Zitternde Beine und Kokain
Im Aufnahmestudio
Krieg und kein Met-Vertrag
Wieder im Plattenstudio
Met-Tour
Südamerika-Tournée – Nationalismen – ein zerstörtes Opernhaus
Kriegsnachrichten und ein neuer Sekretär
Fünfzehnte Met-Saison
Eine neue Bekanntschaft
Caruso und der Film
Sommer in den USA
Einige Plattenaufnahmen
„Doro“
Neue Platten
Kriegsende und sechzehnte Met-Saison
Rosa Ponselle
Neuerliche Aufnahmetermine
Ungebetene Gäste – Ernennung zum Polizeihauptmann
25-Jahr-Jubiläum
X
Erster gemeinsamer Sommer in Italien
Schwarzhemden und proletarische Volkskommissare
Neue Plattenaufnahmen
Übermut der Steuerbehörde
Mexiko – gesundheitliche Probleme
Siebzehnte Met-Saison – die letzte neue Rolle
Im Plattenstudio
Caruso als Arzt und Opernbesucher
Gastspiel in Kuba – Bombenattentat – Zahnschmerzen als böses Omen
Ein weiteres Omen kommenden Unheils
Sommer 1920 – Polizisten und Geistesgestörte – Krise
Letzte Plattenaufnahmen
Letzte Tournée
Achtzehnte Met-Saison
Rücktritt und Gatti-Casazzas Tränen
Der Kreis schliesst sich
Letzte heroische Auftritte
Die Katastrophe
XI
Operationen und Rekonvaleszenz
Rückkehr nach Italien
Scheinbare Genesung
Das Ende
Carusos Krankheit
Abschied
Nemo propheta in patria
Was blieb
Anhang
Bibliographie
Auftrittschronologien
Diskographien
Bildnachweis
Für Sergio
K
ein Sänger vor ihm hat gesungen wie er. Die Schallplatte hat sich als Massenmedium durch ihn etabliert. Frank Thiess, der Erfinder des Begriffs „innere Emigration“, hat neben zahlreichen kleineren Arbeiten und Vorträgen über ihn auch einen umfangreichen Roman über ihn verfaßt. Thomas Mann, ein Emigrant wie er, hat ihm in seinem Roman Der Zauberberg ein Denkmal gesetzt. Oskar Bie hat ihm in Die Oper, einem ansonsten Komponisten und ihren Bühnenwerken vorbehaltenen musikgeschichtlichen Werk, ein eigenes Kapitel gewidmet, nicht als Nachruf, sondern über ihn auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Der Transportarbeiter Alfred Arnold Cocozza wurde aus Begeisterung für seine Platten Sänger. Als solcher nannte er sich dann Mario Lanza. Ein Film, in dessen Mittelpunkt er stand, verhalf Lanza dann zum internationalen Durchbruch. Werner Herzog hat einen monumentalen Film geschaffen, dessen handlungsauslösendes Moment er ist. Jeder Gesangs- oder Musikhistoriker, der über Sänger schreibt oder aus irgendwelchen Gründen in die Geschichte italienischen Operngesangs zurückblickt, kommt um ihn nicht herum. Daß zu ihm umfangreiche Fach- und Populärliteratur in allen Weltsprachen vorliegt, versteht sich von selbst. Alles scheint sich in der Gesangsgeschichte irgendwie um ihn zu drehen.
Um Enrico Caruso.
Man kann fragen, wen man will: musikalische und unmusikalische Menschen, Operninteressierte und Opernverächter, junge und nicht mehr ganz so junge Leute aus allen Berufen und Schichten, Gebildete und weniger Gebildete. Alle kennen den Namen Caruso.
Nicht alle mögen wissen, wie Caruso mit dem Vornamen geheißen hat, ob er Chansons oder Volksmusik, Kunstlieder oder Schlager, Oratorien oder Opern gesungen hat, ob er in Varietés oder Konzertsälen, als Straßensänger oder in Opernhäusern aufgetreten ist, ob er ein Baß oder ein Tenor war, wann und wo er geboren wurde, wo er gelebt und gewirkt hat, wie er ausgesehen hat, ob es von ihm Tonaufnahmen gibt. Dennoch ist und bleibt der Name Caruso von dauerhaftem Glanz und magischer Ausstrahlung.
García, Rubini, Donzelli, Nourrit, Duprez, Mario, Tamberlick, Campanini, de Reszke, Tamagno, allesamt musikgeschichtlich bedeutende Tenöre, wurden zu ihren Glanzzeiten wie höhere Wesen verehrt und mit exorbitanten Gagen verwöhnt. Sie hatten, jeder auf seine Art, ganz besondere Meriten. Doch ihr Glanz ist verblaßt. Musikhistoriker kennen, schätzen und bewundern sie, beschreiben ihre Stimmen, ihre Gesangstechnik, ihren Stil, ihre Interpretationen, und versuchen, ihre Eigenschaften für heutige Opernbegeisterte zu anschaulichem Leben zu erwecken. Dennoch bleiben sie – sich von Orpheus, dessen unwiderstehlichem Gesangszauber sich selbst wilde Tiere, Steine und sogar Hades, der Gott der Unterwelt, nicht entziehen konnten, dabei kaum unterscheidend – mythische Schatten versunkener Epochen, nur für wenige Experten konkret vorstellbar.
Von allen bedeutenden zeitgenössischen Tenorkollegen Enrico Carusos – von dem als Rivalen geltenden Alessandro Bonci, von Fernando de Lucia („la gloria d’Italia“), dem um zwölf Jahre älteren Kollegen, der bei Carusos Begräbnis sang, von Francesco Marconi, Giovanni Battista de Negri, Giuseppe Anselmi („il tenore delle donne“), Giovanni Zenatello, Giuseppe Borgatti, Francesco Tamagno bis hin zu Aureliano Pertile, um nur einige berühmte Italiener zu nennen – existieren Tondokumente, nach denen heute kaum ein Hahn mehr kräht. Eine Handvoll Sammler und Gesangshistoriker beschäftigen sich mit diesen Aufnahmen, ziehen Rückschlüsse, stellen Vergleiche an und gewinnen daraus Erkenntnisse über Gesangsstil, Interpretationsdetails und Aufführungspraxis vergangener Zeiten. Vom Gros der Operninteressierten der Digitalära werden sie aber links liegengelassen, sowohl wegen ihrer bisweilen mangelhaften Tonqualität als auch wegen des oft als altmodisch oder gar befremdlich empfundenen Gesangsstils dieser Sänger aus der Steinzeit der Schallträger.
Enrico Caruso bildet die Ausnahme. In Abwandlung eines von Oskar Bie auf Verdis Falstaff gemünzten Satz ist und bleibt Caruso ein Entzücken ohnegleichen für Kenner. Er ist deshalb auch für die Plattenindustrie nach wie vor von Interesse. Seine veröffentlichten und sogar Teile seiner nicht zur Veröffentlichung freigegebenen Aufnahmen werden von verschiedenen Plattenfirmen immer wieder nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Drehzahlen der Original-Matrizen der Schellacks überspielt, gefiltert, digital aufbereitet und in neuen Editionen auf den Markt geworfen. Trotz ihres Alters von derzeit mindestens zweiundachtzig Jahren sind sie nach wie vor Bestseller. Sogar durchaus fragwürdige Unternehmungen wie das Unterlegen von Caruso-Aufnahmen mit stereophoner Orchesterbegleitung finden ihre Abnehmer. Der Caruso-Mythos lebt also auch in seiner akustischen Form unvermindert weiter, was selbst dem Opernuninteressierten spätestens dann bewußt wird, wenn er erfährt, daß es Carusos einschmeichelnder Gesang ist, mit dem unappetitliche Fertigpizzas in TV-Werbespots beworben werden.
Die Gründe für den Caruso-Mythos sind aber keineswegs in der Geschäftstüchtigkeit oder der überspieltechnischen Versiertheit seiner Verwerter, sondern einzig in Carusos eminenter Kunst zu suchen, die auch jene begeisterte, die Tenöre ansonsten achselzuckend in die Kategorie „notwendiges Übel“ einreihten. So stürzte der sonst unaufgeregte Richard Strauss, nachdem er Caruso erstmals gehört hatte, völlig außer sich in dessen Garderobe und prägte das bekannte Wort: „Er singt die Psyche der Melodie.“ Der große Dirigent Leo Blech, der von diesem Vorfall berichtet, befand selbst: „Er war jenseits alles Technischen. Es gab da nur noch klingende Seele, die sich in unvergeßlichen dynamischen Abstufungen und stimmlichen Färbungen offenbarte“, nicht ohne zu präzisieren: „Caruso besaß die Fähigkeit, einen vergessen zu lassen, daß er – sang. Er besaß das Geheimnis, bis zur letzten Konsequenz ‚dramatisch‘ zu singen. Er gestaltete Menschenschicksale in Melodien, Tönen, Klängen. Sein Gesang war mehr als ‚Gesang‘, er war immer, immer Ausdruck, dramatischer Ausdruck, niemals lyrischer. So unendlich fein war sein Stilgefühl.“[1]
Obwohl das Wort heutzutage inflationär und seines ursprünglichen Sinnes beraubt verwendet wird, und obwohl es nur auf einen „Menschen mit schöpferischer Begabung, der im Unterschied zum Talent nicht nur im Rahmen des Überkommenen Vollendetes leistet, sondern neue Bereiche erschließt und in ihnen Höchstleistungen vollbringt“[2] gemünzt ist, ist man geneigt, Caruso „Genie“ zu bescheinigen. Wohl aus diesem Grund haben viele Gesangsexperten übereinstimmend zwei Dinge festgestellt: Erstens, daß Caruso nicht nur der zweifelsfrei beste Tenor und Interpret von Tenorpartien seiner Zeit, sondern vermutlich der gesamten Operngeschichte war, und zweitens, daß bis zu seinem Erscheinen auf den Bühnen der Welt niemand so gesungen hat wie er, daß aber nach ihm – und zwar bis ins 21. Jahrhundert – die meisten Tenöre seines Faches so singen, genauer und einschränkend gesagt: so klingen wollen wie er. Auch wenn ihnen das in ihrem Epigonentum nicht gelingt, so begeben sie sich doch, willentlich oder unwillentlich, in ein aussichtsloses Konkurrenzverhältnis zu ihm. Daß Caruso tatsächlich unerreichbar ist, zeigen dokumentierte Aussagen von Größen der jüngsten Vergangenheit wie Plácido Domingo und Luciano Pavarotti.
Worin ist dieser Mythos begründet? Wie ist er zustandegekommen? Unter welchen künstlerischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten? Man mag damit argumentieren, daß Caruso der Nachwelt 238 veröffentlichte Tondokumente hinterlassen hat, die den Mythos verständlich machen und rechtfertigen, obwohl postuliert wurde: „Kein mechanisches Instrument vermag den Zauber der Persönlichkeit zu erhalten.“[3] Doch auch von vielen der oben genannten großen Tenöre existieren Tondokumente, anhand derer die akustische Realität ihrer unbestreitbaren Größe überprüfbar wird. Trotzdem erreichen sie in keinem Moment den Mythos Carusos. Warum? Wieso sind sie fast vergessen und wieso wirkt der Caruso-Mythos so lange und so intensiv nach?
Frank Thiess sagte in einem Vortrag über Caruso – er wurde aus Anlaß des 70. Geburtstages Carusos 1943, mitten in der schrecklichen Kriegszeit, in Frankfurt am Main gehalten, und verdient schon deshalb Beachtung, weil sich Interessierte zusammenfanden, die sich ungeachtet der Umstände auf die Suche nach einer verlorenen Zeit begaben –, daß der Tenor „seine Zuhörer gleichsam in einen höheren Zustand des Lebens zu versetzen gewußt hat“[4]. Er sagte weiters, daß „der emphatische Ruhm, der ihn [Caruso] umgibt, in seiner Heftigkeit und gelegentlichen hysterischen Übersteigerung berechtigter ist, als man im allgemeinen annimmt“ und daß „von dem Wunder einer begnadeten Stimme Magie“ ausgeht, fügt aber sogleich hinzu: „Jede Magie aber endet mit der Erfüllung ihres Zweckes“ und erklärt das: „Das Wirken eines Sängers verströmt sich im Augenblick. Er hat keine Zukunft, er kennt nur Gegenwart.“ Damit trifft er ins Schwarze und geht ins Detail: „Gerade bei ihm entspräche also die überwältigende Wirkung im Augenblick einem Verlöschen in der Zeit. Wenn dies nicht so ist, muß es wohl mit Carusos Ruhm eine besondere Beschaffenheit haben. Carusos Kunst muß irgendeine verborgene und geheimnisvolle Verbindung mit dem Geiste gehabt haben [...], andernfalls es nicht denkbar wäre, daß er uns heute noch soviel bedeuten könnte.“[5] Das erwähnte Wort von Richard Strauss ist also abzuwandeln: Nicht die Psyche der Melodie, so nett das auch gemeint sein mag, sang Caruso, sondern den Geist der Musik, darin einer der ganz wenigen wirklich Großen wie Maria Callas oder Fjodor Schaljapin.
All diesen Fragen soll hier nachgegangen werden, wobei der Blick hin und wieder von den Aspekten des Sängers und seiner Karriere abgewandt und auf kulturelle, gesellschaftliche und politische Geschehnisse und Konstellationen der Zeit, sowie auf verschiedene Informationen abseits von Oper und Gesang gerichtet werden soll, die nicht nur für Carusos Arbeit, sondern auch für die Epoche und die Kulturen, in denen er wirkte, relevant sind.
Dem deutschsprachigen Leser Fakten aus einem geographisch nahen und als Urlaubsziel beliebten, jedoch nach wie vor fremden Kulturkreis kommentarlos vorzusetzen, die ihm möglicherweise wenig sagen oder deren Erläuterungen er sich nur unter Mühen beschaffen kann, wäre wenig sinnvoll. Daß Caruso in den Uraufführungen von Cileas Adriana Lecouvreur, Giordanos Fedora oder Puccinis La fanciulla del West aufgetreten ist, wird keinen Operninteressierten überraschen oder in Verlegenheit bringen, sind Details über diese immer wieder aufgeführten Opern doch bekannt oder wenigstens leicht greifbar. Die Mitteilung, daß Caruso 1901 in der Uraufführung von Mascagnis Le maschere oder 1902 in jener von Franchettis Germania mitwirkte, mag zwar von dürrem Informationswert sein, doch was ist Le maschere? Eine Verismo-Oper mit sizilianischen Bauern wie Cavalleria rusticana? Und wer ist Franchetti, wo wurde er ausgebildet, was und wie schrieb er, wovon handelt seine Oper Germania? Und was ist Giordanos Il voto oder Mala vita, wovon handeln diese Werke? Ähnliche Fragen nach dem „wer“, „was“, „wann“, „wie“ und „warum“ stellen sich bei Carusos Zusammenarbeit mit Gunsbourg, Conried oder Gatti-Casazza, mit Mugnone, Mancinelli oder Toscanini, bei seinem Zusammenleben mit Ada Giachetti, seiner Arbeit mit Rina Giachetti oder Rosa Ponselle. Sogar Plattenaufnahmen von Alessandro Moreschi, dem einzigen akustisch dokumentierten und gleichzeitig letzten Kastraten der Gesangsgeschichte, berühren Carusos Karriere. All diese Namen sind vielen Operninteressierten bekannt, doch wie war der Werdegang dieser Künstler, ihre Wirkungsgeschichte, welche Wechselwirkung bestand zwischen ihnen und Caruso? All das soll betrachtet werden, um dem Mythos Carusos auf die Spur zu kommen.
Ergänzt wird das Caruso-Bild durch Abrisse aus der Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte der Oper in Neapel, St. Petersburg, Buenos Aires oder New York. Exkursionen zur Geschichte der Met, zu Hammersteins Konkurrenzopernhaus oder zu Themen wie „Caruso und der Film“ runden es ab.
Ob es Carusos früher Tod war, der ihn auf der Höhe seiner Karriere abberief, ihm dadurch die Bitterkeit des Abstiegs ersparte und ihn so zum alterslosen Liebling der Götter machte, ob es sein durch intensive Arbeit erreichtes überragendes Können war, ob es eine glückliche künstlerische Konstellation zu einem bestimmten Zeitpunkt der Operngeschichte war, ob es die unvergleichliche Klangpracht seiner Stimme, seine exzellente Gesangstechnik, die zeitlose Modernität und die Verve seines Interpretationsstils, seine Persönlichkeit voll neapolitanischer Exuberanz oder seine intensive Bühnenwirkung war, was seinen Ruhm begründete, soll im folgenden untersucht und anhand der vorliegenden historischen und akustischen Fakten belegt werden.
Francis Robinson leitete seinen Bildband über Caruso mit den scheinbar banalen Worten ein: „This is the first book about Caruso by somebody who never heard him.“ Seitdem sind zahlreiche Bücher über Caruso erschienen, alle aus der Feder von Autoren, die sich in zunehmender zeitlicher Distanz von der Hauptperson ihrer Werke befinden. Manche davon – an ihrer Spitze das an bislang unbekannten Detailinformationen aus erster Hand reiche Buch von Enrico Caruso jr. – haben neue Fakten und Aspekte zum bekannten Caruso-Bild hinzugefügt und mit liebgewonnenen Legenden aufgeräumt, manche haben unbekannte biographische und künstlerische Details beschrieben, manche haben das Fehlen des direkten akustischen Erlebnisses durch größere Akribie und Objektivität bei ihrer Arbeit kompensiert, allen aber ist das Bestreben gemeinsam, das Phänomen Caruso zu ergründen. Bemerkenswert ist, daß es in Carusos Heimat nach der Erstveröffentlichung der in Italien ungeheuer populären, von Carusos Sohn Enrico jr. allerdings wenig geschätzten[6] Biographie Enrico Caruso. Storia di un emigrante von Eugenio Gara im Jahre 1947 dreiundvierzig Jahre gedauert hat, bis sich Pietro Gargano und Gianni Cesarini ans Werk machten, um Leben und Arbeit des großen Tenors aus neapolitanischer Sicht darzustellen. Die seit beinahe einem Vierteljahrhundert von der Associazione Museo Enrico Caruso in Mailand angekündigte Biographie läßt nach wie vor auf sich warten. Seit Erscheinen der Arbeit von Gargano und Cesarini sind, abgesehen von dem über 700 Seiten starken Band von Enrico Caruso jr., verschiedene Bücher über und von Kollegen erschienen, die eng mit Caruso zusammengearbeitet haben und in denen von ihm die Rede ist. Deren Aussagen über Caruso fließen hier erstmals in eine deutschsprachige Caruso-Biographie ein. Daß auch Oskar Bies berühmte Darstellung Carusos sowie Julius Korngolds Nachruf erstmals ausführlich zitiert werden, versteht sich von selbst, scheinen beide Texte doch bislang in keinem Caruso-Buch auf.
Auf der Suche nach größtmöglicher Objektivität der Darstellung des Menschen Caruso kann sein Charakter abseits jener Piedestale, auf die ihn mancher Hagiograph zu postieren suchte, nur so widersprüchlich beschrieben werden, wie ihn die dokumentierbare Realität zeigt: großzügig und kleinlich, sensibel und verletzend, heiter und schwermütig, bescheiden und großsprecherisch, altruistisch und egoistisch, gerecht und ungerecht, kommunikativ und zurückgezogen, selbstsicher und von tiefen Selbstzweifeln gequält, nachsichtig und hart, gelassen und nervös, fürsorglich und rücksichtslos, von exquisitem Geschmack in seinen Interpretationen und von bisweilen unsicherem Geschmack in Fragen der Mode, sich heroisch unverletzlich gebend, aber gleichzeitig angsterfüllt vor jedem Auftritt, jovial und unnahbar, um seine Gesundheit besorgt und kettenrauchend, mit einem Wort: einfach und kompliziert, von ungeschminkter, durch und durch menschlicher Ambivalenz, die den großen Sänger nur umso sympathischer erscheinen läßt.
Man ist jedenfalls mit Hans Castorp, dem Helden des Romans Der Zauberberg von Thomas Mann, einer Meinung, wenn es in dem mit Fülle des Wohllauts überschriebenen Kapitel heißt: „Und Zärtlicheres gab es auf Erden nicht, als den Zwiegesang aus einer modernen italienischen Oper [...], – als diese bescheidene und innige Gefühlsannäherung zwischen der weltberühmten Tenorstimme, die so vielfach in den Alben vertreten war, und einem glashell-süßen kleinen Sopran, – als sein ‚Dammi il braccio, mia piccina‘ und die simple, süße, gedrängt melodische kleine Phrase, die sie ihm zur Antwort gab ...“ Nicht der geringste Zweifel besteht darüber, daß Thomas Mann von Enrico Caruso sprach. Wie alle Welt vor und nach ihm war er völlig hingerissen, „wenn jener tenorale Abgott in Schmelz und Glanz schwelgte, die weltbeglückende Stimme in Kantilenen und hohen Künsten der Leidenschaft sich verströmte.“