Enrico Caruso

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Gesangsstudium

W

er vor der Erfindung und Verbreitung des Grammophons und des Radios Musik hören und genießen will, ist auf Live-Musikdarbietungen angewiesen. In Italien wird überall musiziert und gesungen: bei Taufen, Geburtstagsfeiern, Hochzeiten, Begräbnissen, in Kirchen, in Restaurants und auf der Straße. An prominenten Stellen Neapels entstehen sogenannte caffè-concerto, Konzert-Cafés: in Santa Lucia, auf Plätzen und Hauptstraßen, am Hafen, im Stadtzentrum. In einem von ihnen, dem Caffè del Commercio am Hafen, spielt ein gewisser Pietro Mascagni Klavier. Nach Berichten von neapolitanischen Zeitgenossen ist der junge Caruso ab 1889, nach dem Stimmbruch, überall als Sänger anzutreffen, nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch um Erfahrungen zu sammeln. Er wird als „blasser, magerer junger Mann mit nachdenklichen Augen und einem stets melancholischen Ausdruck“ beschrieben.

1890 erleidet sein Vater einen Schlaganfall mit partiellen Lähmungserscheinungen. Dieser weitere traumatische Vorfall in der Familie bestärkt Errico in seiner Absicht, sich im Leben aus eigener Kraft, und zwar als Sänger, durchzusetzen. Den Vater wird er allerdings von seiner Kunst auch dann nicht überzeugen können, als er bereits ein berühmter Sänger ist. In einem Interview vertraute Caruso 1905 in Ostende einem Journalisten an, daß der Vater zwar einige triumphale Erfolge des Sohnes selbst miterlebt hat, sie ihn aber von der Richtigkeit der Berufswahl des Sohnes nicht überzeugen konnten.

Vorderhand singt Caruso in Neapel aber noch in den Kaffehäusern und den großen Badeanstalten Neapels, hin und wieder auch in privaten Salons. Es ist unvermeidlich, daß er irgendwann entdeckt wird. Wie sich herausstellt, ist er in dieser Phase seiner Entwicklung stimmlich durchaus gefährdet, denn keiner von den Gesangslehrern, die ihn hören, kann ihm sagen, ob er ein Tenor oder ein Bariton ist.

In der Badeanstalt Bagni Risorgimento in der Via Caracciolo ist der Besitzer angesichts der zu geringen Anzahl von Umkleidekabinen auf eine ingeniöse Idee verfallen: Um seinen Kunden das Warten zu verkürzen, verpflichtet er engagementlose alte und junge Sänger, Komiker und Dialektschauspieler, die kurze Szenen aufführen. Der Teller mit der diskreten Serviette am Fuße des Podiums wird von jenen Gästen gefüllt, die die Darbietungen wahrnehmen. Hier lernt Caruso 1891 den Bariton Eduardo Missiano kennen. Der singt zwar noch auf keiner Opernbühne, kann es sich dank seines wohlhabenden Elternhauses aber leisten, bei Maestro Guglielmo Vergine zu studieren, einem bekannten Gesangslehrer in Neapel. In einem Brief berichtete Caruso einem Kollegen rückblickend über seine Gesangsausbildung:

Ich begann mit zehn Jahren [...] in den Kirchen zu singen. Ich war die Freude aller Gläubigen, zumindest nehme ich das an, denn ich erhielt von ihnen niemals ein Zeichen der Ablehnung.

Außerdem ernährte ich mit den Einkünften aus meinen liturgischen Gesängen zwei Familien, die mich bis zum letzten ausnützten. Mit neunzehn Jahren entschließe ich mich, bei einem Maestro zu studieren, den ich nach elf Stunden verließ, weil es mir schien, daß er das Problem, mit dem ich mich abmühte, nicht zu lösen vermochte: Bariton oder Tenor?

Vielleicht war ich damals für das Studium wenig geeignet. Der Bariton Missiano brachte mich kurz darauf zu seinem Lehrer, Herrn Vergine, der zuerst fand, daß ich zu jung war, dann, daß ich zuwenig Stimme hatte: nach zwei Lektionen entschloß er sich endlich, mir Stunden auf der Grundlage eines regulären Vertrages zu geben. Damals war meine Stimme so dünn, daß meine Studienkollegen mich ‚der Wind, der durch die Fenster pfeift’ nannten.[18]

Nach dem ersten Vorsingen ist Vergine hinsichtlich Carusos Stimmpotential skeptisch. Missiano studiert mit Caruso zwei Stücke ein, und zwar aus Bizets I pescatori di perle[19] und aus Mascagnis 1890 uraufgeführter Erfolgsoper Cavalleria rusticana. Das zweite Vorsingen überzeugt Vergine und führt zu dem erwähnten, alles andere als „regulären“ Vertrag, aufgrunddessen Caruso, der kein Geld für den Unterricht aufbringen kann, sich verpflichtet, seinem Lehrer 25% seiner gesamten Einkünfte aus den ersten fünf Jahren seiner professionellen Sängerkarriere zu überlassen.

Dieser Vertrag wird zu einem zwei Jahre dauernden Gerichtsverfahren führen, denn Vergine, der Carusos Karriere selbstverständlich genau verfolgt, versucht ihn in sittenwidriger Weise so auszulegen, daß er ein Karrierejahr mit 365 gesungenen Vorstellungen definiert. Demgemäß hätte Caruso sein ganzes berufliches Leben lang ein Viertel seiner Einkünfte dem halsabschneiderischen Lehrer abliefern müssen. Als er 1899 in Rom singt, kommt es zur Aussöhnung mit Vergine und einem Vergleich. Vergine begnügt sich mit der einmaligen Zahlung von 20.000 Lire, der Vertrag wird vernichtet.

Vergine erteilt Gruppenunterricht, jeder Schüler muß seine Übungen vor allen anderen singen. Die Beurteilung der gesanglichen Fortschritte erfolgt nicht nur durch den Lehrer, sondern auch durch die Schüler untereinander. Die Gruppendynamik bewirkt, daß Caruso von den größer dimensionierten Stimmen einiger Kollegen beeindruckt ist und seine Zukunftsaussichten selbst als gering einschätzt. Er setzt während des Gesangsstudiums jedenfalls weiterhin seine Erwerbstätigkeit als Mechaniker wie auch als Sänger bei allen möglichen Veranstaltungen und Feierlichkeiten fort.

Wie kompetent Vergine als Lehrer in fachlicher und psychologischer Hinsicht ist, zeigt seine Äußerung über Carusos Stimme: „Sie ist wie das Gold auf dem Grunde des Tiber. Es ist es kaum der Mühe wert, nach ihr zu suchen.“ Daß in der Literatur immer wiederholt wird, Caruso habe zu Beginn seiner Karriere keine oder kaum eine Stimme gehabt, resultiert aus derlei Unsinn. Daß die Stimme in seiner Jugend lyrisch war, später nachdunkelte, an Volumen gewann und zunehmend dramatisch wurde, ist eine normale physiologische Entwicklung, die durch eine exzellente Gesangstechnik unterstützt wird. Daß aber aus nichts eine Carusostimme entstand, ist schlicht unsinnig.

Brüderlich geteilter Militärdienst

I

nzwischen schwebt über Carusos Haupt das Damoklesschwert der Einberufung als Soldat. Der Militärdienst in Italien dauert zu jener Zeit drei volle Jahre, er würde Carusos Bestrebungen nach einer Sängerkarriere im Keim ersticken. Caruso ist inzwischen mit Don Rafiluccio Domineck bekannt geworden, einem Beamten der Musterungskommission, der jungen Künstlern, die zu den Waffen gerufen werden, bei den Einberufungsverfahren hilft und sie im Gegenzug zu Auftritten in den Salons des wohlhabenden Bürgertums und bei Adeligen in seinem Zuständigkeitsbezirk heranzieht. Gagen für die Darbietungen der hoffnungsvollen jungen Künstler gibt es keine, doch können sie sich wenigstens an den reich gedeckten Tischen sattessen.

Trotz guten Willens auf beiden Seiten reichen Don Rafiluccios Wohlwollen und Einfluß nicht aus, um den Wehrdienst von Caruso abzuwenden. Er wird eingezogen und muß widerstrebend nach Rieti zum XIII. Artillerieregiment einrücken. Es ist nur zu verständlich, daß er befürchtet, durch die lange Unterbrechung die entscheidende Phase seiner Gesangsausbildung zu versäumen.

Der Soldat Caruso gibt seinen Vorgesetzten keinen Anlaß zur Zufriedenheit. Er bringt für das Kasernenleben keinerlei Begeisterung auf und fügt sich nicht in den Drill ein. Ein musikliebender Major namens Giuseppe Nagliati hört den stimmbegabten Soldaten in der Exerzierhalle singen und fragt ihn nach seinem Beruf. „Ich unterbreche schlagartig meine Arbeit und mein Lied und antworte ihm überrascht: ‚Nun, ich möchte zur Oper ...‘ Der Major ging weg, ohne etwas zu sagen. Am Abend ließ er mich rufen und teilte mir mit, daß er einen Lehrer für mich gefunden habe. In den fünfunddreißig Tagen, die ich in Rieti war, erhielt ich ständig Gesangsstunden, sodaß ich nichts von meinem geliebten Studium versäumte.“[20]

Der Lehrer ist ein gewisser Baron Costa. Der ist froh, ein derart offensichtliches Gesangstalent in die Hände zu bekommen und beginnt, mit Caruso die Partie des Turiddu in Cavalleria rusticana einzustudieren. Er soll sie bei einer Liebhaberaufführung singen. Bei dieser Gelegenheit überzeugt Caruso seinen Major, daß er als Sänger mehr zu leisten imstande ist denn als Soldat. „‚Sie können nicht gleichzeitig Soldat und Sänger sein‘, erklärte er mir. ‚Ich habe es daher so arrangiert, daß Ihr Bruder Giovanni sofort hierher kommt, um Ihren Platz einzunehmen.‘“[21]

Das geschieht. Später wird Giovanni seinen berühmten und reichen Bruder an diesen Gefallen erinnern, auch weil er, wie zu sehen sein wird, durch den Militärdienst in Lebensgefahr gerät. Der Tenor wird seine bekannte Großzügigkeit walten lassen und dem aufopferungsbereiten Bruder regelmäßige monatliche Zahlungen in nicht unbeträchtlicher Höhe zukommen lassen.

Nach etwas mehr als einem Monat ist für Caruso der Spuk vorbei. Er kehrt nach Neapel zu Maestro Vergine zurück und nimmt sein Studium wieder auf.

Am 13. Oktober 1894 wird Carusos Name zum ersten Mal in der Presse erwähnt. In Fortunio, einem in Neapel erscheinenden Musik- und Theatermagazin, ist zu lesen, daß er zusammen mit einem Bariton Bonini, einem Geiger Corrado und zwei singenden Damen, Amalia und Fanny Zamparelli, an einem Konzert im Teatro Excelsior in Neapel mitgewirkt hat. Näheres wird nicht mitgeteilt.

 

Der Autodidakt

E

s dauert nicht lange, bis Vergine auf die Idee verfällt, seinen Schüler zu einem ersten professionellen Vorsingen zu schicken. Er hat dafür Nicola Daspuro ausersehen, eine schillernde, einflußreiche Figur im Musikleben Neapels. Daspuro ist nicht nur Journalist, sondern auch der Vertreter des Verlegers Sonzogno in Neapel sowie Impresario. Im Konkurrenzkampf mit dem überlegenen Verleger Ricordi hat er für das Teatro Mercadante, dessen Leiter er 1893 wird, die berühmtesten Sänger der Zeit gewonnen, darunter die Sopranistinnen Gemma Bellincioni und Adelina Stehle, sowie die Tenöre Angelo Masini, Roberto Stagno und Francesco Tamagno. Daspuro ist zwar nicht begeistert, sich angesichts dieser kassenfüllenden Zelebritäten mit einem Anfänger abgeben zu müssen, doch Vergine schildert die stimmlichen Vorzüge seines Schülers so beredt, daß Daspuro ihn anhört: „Am nächsten Morgen erschienen Vergine und Caruso im Mercadante, und Caruso sang mir vor. Er gefiel mir ausgezeichnet; seine Stimme war wirklich schön. Den größten Eindruck machte mir aber sein klarer Vortrag und sein voller warmer Akzent.“[22]

Daspuro beauftragt seinen Dirigenten Giovanni Zuccani damit, ein zweites Vorsingen zu beurteilen. Das Ergebnis ist vielversprechend. Die Stimme ist schön timbriert, die Aussprache deutlich, der Vortrag eloquent, der Sänger hat Persönlichkeit und Geschmack, und auch wenn seine Höhe noch sehr zu wünschen übrig läßt, scheint eine Karriere im Bereich des möglichen zu sein. Zuccani vertraut Caruso ohne zu zögern die Partie des Guglielmo (Wilhelm) Meister in Mignon von Ambroise Thomas an, eine weise Entscheidung, denn die Rolle kann selbst bei einem gesangstechnisch noch unsicheren Anfänger der Stimme keinen Schaden zufügen. Daspuro erinnert sich:

Wir forderten Caruso auf, sich auf eine Klavierprobe vorzubereiten. Endlich kam der Tag heran, aber ach! – was für ein anderer Caruso war das! Die übersteigerte Empfindlichkeit seines Temperaments, die nervöse Erregung, die die zahlreichen Sänger und Maestri von Ruf, von denen er sich umgeben sah, bei ihm erzeugten, verbunden mit einem Mangel an Vertrautheit mit seiner Rolle, schienen seine geistigen Fähigkeiten zu lähmen. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Vergeblich suchten Zuccani und ich ihn zu ermutigen; die Verwirrung wurde nur schlimmer, er warf den Text durcheinander, begann und endete Phrasen außerhalb der Tempi, und bei den hohen Noten überschlug sich seine Stimme und brach. Maestro Zuccani blieb geduldig und freundlich, aber endlich wurde auch er es müde, den sich abarbeitenden Caruso zu verbessern. Er wandte sich zu mir und erklärte, es sei gänzlich ausgeschlossen, diesen Tenor vor die Rampe zu stellen. Empört über Zuccani verließen Vergine und Caruso weinend das Theater.

Daspuro beschreibt den jungen Tenor auch abseits von Vorsing- und Bühnenstress. Er sei „possenreißerisch und heiter, ein lauter Schelm mit goldenem Herzen, ganz Güte und unbegrenzte Großherzigkeit.“ Daß Caruso aufgrund dieses Erlebnisses die Rolle später in seiner Karriere nie singen wird, ist absehbar. Es ist nicht das letzte Mal, daß Caruso ein Opfer seiner Nerven wird. Jahre später berichtet er von einem ähnlichen Zwischenfall.

Ich werde nie vergessen, wie ich am San Carlo abgelehnt wurde. Ich hätte im Faust für einen kranken Tenor einspringen sollen. Kaum setzte ich bei der Probe zu Salve dimora [Salut, demeure chaste et pure] an, packte mich so die Angst, daß ich nicht bis zum Ende kam. Zu Vergine gewandt, sagte der Dirigent Scalisi: ‚Der muß noch in der Schule bleiben. Für mich ist der nichts!‘ Und nichts war es eine ganze Weile lang. Seit damals begann ich allein zu studieren und meine Fehler zu korrigieren; mir ein Repertoire aufzubauen und für mich zu proben und wieder zu proben und mir die Töne für meine Stimme so zurechtzulegen, wie ich es wollte. Denn, glauben Sie mir, die Gesangslehrer können viel machen, darüber braucht man nicht zu diskutieren, aber der Sänger, der Künstler muß sich selbst formen und ich verdanke alles mir selbst, meinem Studium und meiner Willenskraft, die es mir erlaubt hat, allmählich, vom ersten Engagement zu achtzig Lire für zwei Wochen zu den heutigen Gagen zu gelangen. Wenn man bedenkt, daß der gute Maestro Vergine, als ich ihm vorgestellt wurde, ausrief: ‚Was wollt ihr? Das ist keine Stimme! Und jetzt singe ich sogar ... als Baß.[23]

Letztere Anspielung geht auf einen Vorfall zurück, als Caruso in einer La bohème-Vorstellung in Philadelphia 1913 anstelle des heiser gewordenen Bassisten die Arie des Colline ‚Vecchia zimarra, senti‘ im vierten Akt singt.

Carusos Angaben über sein Selbststudium ist, wenn auch mit Einschränkungen, Glauben zu schenken. Er adaptiert die Anleitungen, die er von Gesangslehrern wie Vergine, vor allem aber von seiner Lebensgefährtin Ada Giachetti, einer ausgezeichneten Sopranistin, erhält, für seine Zwecke. Man muß auch bedenken, daß es zu Ende des 19. Jahrhunderts für einen angehenden Sänger noch keine Möglichkeiten gibt, sich an anderen Vorbildern zu orientieren als jenen, die gerade in der jeweiligen Stadt auftreten. Es gibt noch keine Tonaufnahmen, die man hätte studieren oder imitieren können, man ist also auf Gesangslehrer und aktive lokale Vorbilder, hauptsächlich aber auf das eigene Talent und eigene Erfahrungen angewiesen.

Caruso ein baritenore?

C

arusos Stimme ist aufgrund ihres baritonalen Klanggepräges für die damalige Zeit im Tenorfach ungewöhnlich, entspricht aber den Anforderungen der in einer ihrer zahlreichen „Krisen“ befindlichen Kunstform Oper. Betrachtet man diese Krisen näher, die unweigerlich mit der Prophezeiung des Niedergangs der Gesangskunst einhergehen, erkennt man, daß sie nichts anderes sind als Umstellungsphasen, Anpassungen an jene Ausdrucksmittel, die von neuen Komponistengenerationen eingesetzt werden.

So war im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts für gewisse Rollen der baritenore en vogue, der baritonal gefärbte Tenor, für den Rossini den Otello und Bellini den Pollione in Norma schrieb. Ihn kann man sich mit ähnlichen vokalen Mitteln ausgestattet wie Caruso vorstellen. Mit einem einzigen Unterschied: Der erste Interpret des Pollione und des Otello, Domenico Donzelli (er wurde 1790 geboren und starb in Carusos Geburtsjahr 1873) sang die Höhe nicht mit Bruststimme, sondern wechselte ab dem g’ ins falsettone. Das falsettone – sprachlich und tonstärkemäßig eine Vergrößerungsform von falsetto – hat man sich als verstärktes Falsett mit großem rundem Ton vorzustellen, das ähnlich der voix mixte nie gefistelt oder gekreischt klang und Timbre, Volumen, Leuchtkraft, Süße und Modulationsmöglichkeiten besaß.

An das falsettone ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, seit der Tenor Gilbert-Louis Duprez (1806-1896) das mit Bruststimme gesungene hohe C im Jahre 1837 „erfunden“ und eingeführt hatte, selbstverständlich nicht mehr zu denken (auf Rossinis hypersensibles Gehör wirkte dieser Ton noch „wie der Schrei eines Kapauns, dem die Gurgel durchgeschnitten wird“). Die Tenorkollegen hatten Duprez imitiert, es wurde mit mehr dramatischem Impetus vorgetragen, die Akzente wurden heftiger, als Folge wurden die Tempi angezogen. Die Tenöre klangen zunehmend „tenoraler“ und heller, was auch auf den Kompositionsstil der neuen Opern durchschlug.

Eine gegenläufige Entwicklung ergab sich mit dem Aufkommen der Opern von Thomas, Gounod und später Bizet in Frankreich und der giovane scuola italiana mit Puccini, Mascagni, Leoncavallo, Giordano, Cilea und Franchetti. Von idealisierten, romantischen Figuren verwandelten sich die Tenöre mehr und mehr in reale, bürgerliche Menschen. Die Tessitura[24] der Tenorpartien wurde zusehends wieder tiefer.

In dieser Situation haben es die bereits auf der Bühne aktiven Tenöre äußerst schwer, sich umzustellen. Tatsächlich werden, besonders in Italien und Spanien, Opern wie Carmen, Cavalleria rusticana und sogar Pagliacci von hell timbrierten, leichten Tenören gesungen, von jenen Sängern, deren Karrieren auf Erfolge in Opern von Rossini, Bellini oder Donizetti gründen. Deshalb sind Carusos berühmte Tenorkollegen alle wesentlich heller timbriert als er, selbst Francesco Tamagno, der Protagonist der Uraufführung von Verdis Otello, ein dramatischer Tenor mit trompetenartiger Schallkraft, hat ein viel helleres, „tenoraleres“ Timbre als Caruso.

Zwar kristallisiert es sich wegen des anfänglichen Fehlens einer natürlichen, sicheren Höhe erst allmählich heraus, daß Caruso tatsächlich ein Tenor ist, doch wird sich bald herausstellen, daß er nicht nur der einzige Tenor seiner Generation ist, der den neuen Anforderungen ideal gerecht wird, sondern daß er wie kein zweiter in der Lage sein wird, gleichzeitig auch das lyrische romantische Repertoire abzudecken.

Beginn der professionellen Tenorkarriere

T

rotz der erwähnten traumatischen Erlebnisse und der hartnäckigen Höhenprobleme bleibt Caruso aus persönlicher Überzeugung im Tenorfach. Dabei kommen ihm Glücksfälle zu Hilfe, denn als er am 2. Jänner 1895 in der Kathedrale von Caserta ein Tantum ergo singt, hört ihn ein Orchestermusiker und empfiehlt ihn einem begüterten jungen Amateurkomponisten namens Morelli[25], der aus eigener Tasche die Aufführung einer selbstverfaßten Oper finanziert. Diese commedia lirica heißt L’amico Francesco und wird am 15. März 1895 am Teatro Nuovo in Neapel uraufgeführt. Der zweiundzwanzigjährige Caruso übernimmt, auch aus Gründen der überschlanken Erscheinung nicht sehr glaubhaft, die Rolle des etwa fünfzigjährigen Adoptivvaters des über sechzigjährigen Baritons Ciabò. Vier Vorstellungen sind geplant, der in der Presse kolportierte Erfolg kann nicht so groß sein, denn es finden nur zwei Aufführungen statt. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß der Komponist durch finanzielle Zuwendungen das Wohlwollen der Kritiker gefördert haben könnte. Morelli, der in den Zeitungskritiken als begabter Komponist gerühmt wird, zahlt Caruso korrekterweise 80 Lire für alle vier Vorstellungen aus und legt noch 50 Lire als Belohnung dazu. „Außerdem versicherte der Komponist Caruso, daß er ihn für die Premiere seine nächsten Oper, an der er gerade arbeite, wieder engagieren würde. Doch diese Oper sollte nie gegeben werden, denn kurz darauf starb Morelli.“[26] Das hätte er sicher nicht gesagt, wenn Caruso keinen persönlichen Erfolg errungen hätte. Bestätigt wird dies durch die Erwähnung von Carusos Name in der Presse, denn die Leistungen der übrigen Sänger werden in den Rezensionen nicht besprochen.

Bei der zweiten Vorstellung sind der Impresario Carlo Ferrara und der Sängeragent Francesco Zucchi, genannt „Ciccio“ [der Dicke], anwesend. Sie erkennen Carusos Potential und engagieren ihn vom Fleck weg für eine Opernsaison im Teatro Cimarosa in Caserta, einer 25 km nördlich von Neapel gelegenen Provinzstadt (sie hat heute 70.000 Einwohner). Die Truppe besteht aus der Gattin des Impresarios, Frau Ferrara-Moscati, die Sopranistin ist, einer Altistin namens Molinari, dem Bariton Enrico Pignataro[27] und dem Bassisten Sternaiolo.

Bereits zwei Wochen später, am 28. März 1895, steht Caruso als Gounods Faust auf der Bühne. Er tritt in zehn Vorstellungen dieser italienisch gesungenen Oper auf und erhält pro Abend zehn Lire, die Hälfte der von Morelli bezahlten Gage. Doch das ist in dieser Phase seiner Karriere von sekundärer Bedeutung. Jetzt gilt es, Bühnenerfahrung zu sammeln, ein Repertoire aufzubauen und sich einen Namen zu machen. Letzteres gelingt. Er erhält alles in allem gute Kritiken.

In dieser Spielzeit werden auch zwei zeitgenössische Werke dargeboten, Mascagnis Cavalleria rusticana und Pietro Musones Camoëns. Carusos Leistung als Turiddu wird vom Publikum gefeiert, von der Presse aber geteilt aufgenommen. Man bekrittelt den „Zwiespalt zwischen seiner Stimme und seiner Musikalität; sein Spiel nannten sie abscheulich.“[28] Trotz aller Bemühungen kann er Musones heute verschollene Oper nicht vor einem Mißerfolg bewahren.

 

Die Saison endet, höchstwahrscheinlich vorzeitig, nach einem Monat. Um eine Erfahrung und einen Bewunderer, nämlich den Bariton Enrico Pignataro, reicher, kehrt Caruso mit einem Reingewinn von zwölf Centesimi nach Neapel zurück. Pignataro ist hier am Teatro Bellini als Valentino in Faust engagiert, und als der ursprünglich verpflichtete Tenor erkrankt, empfiehlt er Caruso als Einspringer. Am 9. Juni steht er als Faust erstmals auf der Bühne des Teatro Bellini und heimst einen Erfolg ein, der so groß ist, daß er sofort als Rigoletto-Herzog (ab 21. Juli) und Alfredo in La traviata (ab 25. August) engagiert wird. Er kennt beide Partien noch nicht und studiert sie umgehend ein.

Carusos Gage ist inzwischen von zehn auf fünfundzwanzig Lire pro Abend gestiegen, die Kritiken sind fast alle ausgezeichnet, nur wenige Kritiker äußern Vorbehalte. Einer von diesen, Ettore Iovinelli, geht so weit, dem jungen Tenor in der Zeitschrift Cosmorama sogar „geringe künstlerische Intelligenz und Schüchternheit“ zu attestieren. Das spielt aber insofern keine Rolle, als der glückliche Zufall wieder auf Carusos Seite ist. Bei einer der Vorstellungen ist im Theater Adolfo Bracale anwesend, der als Cellist im Orchester des Khediven von Ägypten spielt und in Nordafrika auch als Impresario tätig ist. Er kann Caruso für eine Ägyptentournée gewinnen, an der auch die Sopranistin Elena Bianchini-Cappelli und der Bariton Vittorio Ferraguti teilnehmen werden. Die Tournée wird einen Monat dauern – den ganzen Oktober 1895 –, aufgeführt werden Cavalleria rusticana, Rigoletto, Amilcare Ponchiellis La Gioconda und Giacomo Puccinis Manon Lescaut. Caruso erhält dafür ein Gesamthonorar von sechshundert Lire, damals sein persönlicher Einnahmenrekord.