Systematische Theologie

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b. Die Herausbildung der frühchristlichen Theologie in der Alten KircheKircheAlte

Das frühchristliche Verständnis von Theologie formierte sich vor dem Hintergrund der biblischen Überlieferungen und der philosophischen Debatten im sogenannten mittleren PlatonismusPlatonismus. Der Theologiebegriff ist in jener Zeit allerdings noch nicht fixiert und wird kaum verwendet. Frühchristliche Denker wie Justin der MärtyrerJustin der Märtyrer (100–165) oder Clemens von AlexandrienClemens von Alexandrien (150–215) verstehen sich als Philosophen. Für sie ist das Christentum die wahre Philosophie. Dieser Grundzug wird bereits bei den sogenannten ApologetenApologetenApologeten sichtbar. Sie versuchen, im 2. und 3. Jahrhundert die christliche Überlieferung mit der antiken Philosophie zu verbinden, um den Christusglauben gegenüber Einwänden der heidnischen Philosophie sowie des Judentums zu verteidigen. Wichtige Vertreter sind neben Justin Aristides von AthenAristides von Athen (erste Hälfte 2. Jh.) und AthenagorasAthenagoras (133–190). Justin greift hierzu auf die philosophische Logoslehre des mittleren Platonismus sowie der StoaStoa zurück und verbindet sie mit dem Prolog des Johannesevangeliums. Platonismus und Christentum stehen nicht im Widerspruch zueinander, sie stimmen überein, da beiden derselbe LogosLogosLogos zugrunde liegt. Christus ist für Justin der Logos bezie[30]hungsweise die Weltvernunft (griechisch: logos spermatikos, Vernunftkeim), die zunächst bei Gott ist und sich in der SchöpfungSchöpfung in die Welt entäußert. Der Gedanke des Logos erklärt, warum sich auch im Denken der Heiden, zum Beispiel bei SokratesSokrates und Platon, WahrheitWahrheit findet. Sie alle haben Anteil an dem sich in die Welt entäußernden Logos. Freilich ist dieser in Jesus Christus Mensch geworden. In ihm ist folglich der ganze Logos offenbart, in dem Denken der Philosophen hingegen nur Bruchstücke. Die Logoslehre erlaubt es, sowohl die Wahrheit des Christentums mit den Mitteln der Philosophie zu begründen als auch an einer – wenn auch abgestuften – Wahrheit der Philosophie festzuhalten.

Bei den ApologetenApologeten tritt die *KosmologieKosmologie in den Vordergrund des Interesses. PlatonPlaton habe, wie Justin betont, die von ihm in seinem DialogDialogTimaios ausgeführte Schöpfungslehre direkt von MosesMose aus dem ersten Buch der Bibel übernommen. Der KosmosKosmos ist für die frühchristlichen Denker ein geordnetes Ganzes, von Gott geschaffen und von seiner Weltvernunft durchwaltet. Das Urteil Adolf von HarnacksHarnack, Adolf von (1851–1930), die Dogmenbildung der Alten KircheKircheAlte stelle eine verfremdende und überformende *Hellenisierung des Christentums dar, hat an den kosmologischen Spekulationen der Apologeten seinen Anhalt.

Wichtige Zentren der frühchristlichen KulturKulturfrühchristliche waren das ägyptische Alexandria und Nordafrika. In der Metropole am Nildelta formierte sich das Denken des griechisch sprechenden christlichen Ostens, in Nordafrika das des lateinischen Westens. Clemens von AlexandrienClemens von Alexandrien sowie OrigenesOrigenesOrigenes (185–254) markieren den Höhepunkt der apologetischen Strömung im Osten. Auch sie verstehen sich noch als Philosophen. Das Christentum ist ihnen die wahre Philosophie. Origenes führte nicht nur die Logoslehre zu ihrem Höhepunkt, er schuf mit seinem Werk Vier Bücher von den Prinzipien (lateinisch: De principiis) die erste umfassende Darstellung der Inhalte des christlichen Glaubens. Allerdings ist dieses Werk lediglich in einer lateinischen Übersetzung aus dem vierten Jahrhundert von Rufinius von AquileiaRufinius von Aquileia (ca. 345–411/412) überliefert. Origenes, der ein hochgebildeter Schriftsteller war – er studierte vermutlich bei dem neuplatonischen Philosophen Ammonius SakkasAmmonius Sakkas (gest. 241/42), dem Lehrer PlotinsPlotin (205–270) –, verfasste neben seinem systematischen Werk zahlreiche exegetische Abhandlungen, die für die Herausbildung der HermeneutikHermeneutik eine zentrale Rolle spielen. In den Vier Büchern von den Prinzipien[31]entwickelt er auf der Grundlage der platonischen Philosophie ein umfassendes theologisches System. Es nimmt seinen Ausgang bei der Trinitätslehre und geht dann weiter zur SchöpfungSchöpfung, deren AbfallAbfall von Gott und der durch Christus vermittelten Rückkehr der abgefallenen Welt zu Gott. Die sichtbare Welt ist für Origenes nicht das Werk des göttlichen Schöpferwillens. Sie verdankt sich dem Fall des Menschen.

Der aus Karthago stammende TertullianTertullianTertullian (150–nach 220), der sich in späteren Jahren der rigorosen asketischen Bewegung der *Montanisten anschloss, prägte das theologische Denken im lateinischen Westen des römischen Reiches. Ausgebildet in Jurisprudenz und Rhetorik schärfte er vor allem die lateinische theologische Begriffssprache. Die Grundbegriffe der Trinitätslehre sowie der ChristologieChristologie wurden von ihm geschaffen. Wichtige Charakteristika des westlichen theologischen Denkens begegnen bereits bei ihm: die ethische Zuspitzung des christlichen Glaubens sowie das Interesse an hierarchischen kirchlichen Ordnungsstrukturen. Von Bedeutung wird die sogenannte Glaubensregel (lateinisch: regula fidei). Sie gilt als Zusammenfassung der auf die ApostelApostel zurückgehenden christlichen Überlieferung, der autoritative Geltung zukommt. Deren Träger sind der zweiteilige biblische Kanon sowie die Kirche.

Der römische Kaiser KonstantinKonstantin (zwischen 277 und 288–337) machte das bislang verfolgte und später tolerierte Christentum zur Staatsreligion. Es fungierte von nun an als Integrationsmedium in dem kulturell und religiös heterogenen römischen Reich. Die neue Bedeutung der christlichen ReligionReligionchristliche bildet auch den Hintergrund der dogmatischen Entscheidungen der Alten KircheKircheAlte über das trinitarische und christologische Dogmadas trinitarische und christologische Dogmachristologisches Dogma im 4. und 5. Jahrhundert. Im Jahre 325 berief der römische Kaiser das KonzilKonzil (in Anlehnung an Apg 15 eine Versammlung von kirchlichen Amtsträgern) von Nicäa ein, um die theologischen Streitereien über die Gottheit Christi und dessen Verhältnis zu Gott dem Vater zu schlichten. Im Neuen Testament finden sich sehr unterschiedliche Aussagen über den Christus. Im Johannesevangelium sagt Jesus zum Beispiel, „Ich und der Vater sind eins.“ (Joh 10,30). Wenig später heißt es jedoch im selben Evangelium, „der Vater ist größer als ich“ (Joh 14,28). Wie sind solche divergierenden BekenntnisseBekenntnis des GottessohnGottessohnes zu interpretieren? Im sogenannten arianischen Streit kam der Konflikt der Interpretationen zum [32]Austrag. Der alexandrinische Diakon und PresbyterÄlteste, PresbyterAriusAriusArius (gest. 336) hatte behauptet, Christus sei zwar das höchste der Geschöpfe, aber – wie aus Stellen des vierten Evangeliums hervorgeht – Gott untergeordnet. Der Monotheismus, den der alexandrinische Denker vertrat, ließ neben dem einen Gott keinen zweiten zu. Christus wird dadurch zu einem Gott untergeordneten Mittlerwesen. Der Widerspruch gegen diese christologische Position wurde schnell laut. Auch er konnte sich auf das Neue Testament berufen. Insbesondere Athanasius von AlexandrienAthanasius von AlexandrienAthanasius von Alexandrien (um 298–373) machte gegen Arius geltend, Christus könne den Menschen nur dann erlösen, wenn er selbst ganz Mensch und ganz Gott sei. Der GottessohnGottessohn ist also nicht, wie sein alexandrinischer Widersacher behauptet, ein irgendwann geschaffenes Wesen, er gehört vielmehr von Ewigkeit an zu Gott. Auf dem Konzil von Nicäa wurde die Position des Athanasius durchgesetzt und die Anhänger des Arius exkommuniziert. Christus ist wesenseins (griechisch: homoousios, lateinisch: consubstantialis) mit Gott dem Vater. Allerdings fanden die Konzilsbestimmungen von 325, sie fixierten die dogmatischen Bestimmungen des dreieinigen Gottes, im griechisch sprechenden Osten des römischen Reiches nur wenig Zustimmung. Die Theologen der OstkirchenOstkirchen empfanden die Formulierungen als unbiblisch und häretisch. Erst die Bemühungen der sogenannten drei großen Kappadokier (*NeonizänianismusNeonizänianismus), Basilius von CaesareaBasilius von Caesarea (gest. 378), Gregor von NazianzGregor von Nazianz (gest. 390) und Gregor von NyssaGregor von Nyssa (gest. 395) führten zu einer Klärung. Während das BekenntnisBekenntnis von Nicäa lediglich die WesenseinheitHomoousie, Wesenseinheit, Wesensgleichheit von Gott dem Vater und dem Sohn formulierte, fügte das von Konstantinopel im Jahre 381 die Homoousie des Heiligen GeistesGeistHeiliger hinzu. Dem waren Streitigkeiten über das Verhältnis des Geistes zu Gott vorangegangen.

Die wichtigsten christologische Entscheidungen der Alten Kirchechristologischen Entscheidungen der Alten KircheKircheAlte fielen im 5. Jahrhundert. Schon im Neuen Testament wird Jesus von Nazareth mit Titeln bedacht (*christologische Hoheitstitelchristologische Hoheitstitel), die ihn auf eine Ebene mit Gott stellen. An sie knüpfte die weitere Diskussion an. In den ersten Jahrhunderten sind die Bestimmungen und Aussagen, die man von Christus machte, allerdings noch sehr im Fluss.

Infobox

Entwicklung der ChristologieChristologie in der Alten KircheKircheAlte:

Die frühchristlichen Denker arbeiteten sehr unterschiedliche Modelle und Konzeptionen aus, um die religiöse Bedeutung Jesu zu fassen. Die wichtigsten Modelle sind:


Adoptionschristologien: Gott hat Christus zu seinem Sohn adoptiert, zum Beispiel bei der Taufe durch Johannes (Paul von SamosataPaul von Samosata [gest. nach 272])
GnostizismusGnosis, Gnostizismus: Christus als göttliches Lichtwesen hat nur zum Schein einen menschlichen LeibLeib angenommen
Logoschristologien: Christus ist die InkarnationInkarnation der Weltvernunft (Justin, OrigenesOrigenes)
ModalismusModalismus: Christus ist eine Erscheinungsweise Gottes (SabelliusSabellius [nach 200])
ArianismusArianismus, Arianischer Streit: Christus ist zwar das höchste der Geschöpfe, aber Gott untergeordnet (subordiniert)

Nachdem das Konzil von Nicäa die WesenseinheitHomoousie, Wesenseinheit, Wesensgleichheit von Gott, dem Vater und Gott, dem Sohn dogmatisch verbindlich geregelt hatte, wurde in den folgenden Jahren die Frage virulent, wie vor diesem Hintergrund die PersonPerson Christi selbst zu fassen sei. Mit [33]der Feststellung seines wahren Gottseins ist nämlich noch nichts darüber ausgesagt, wie sich seine Gottheit zu seinem Menschsein verhält und wie beide Aspekte in einer Person zusammen bestehen können. Die Beantwortung dieser Frage führte zur Ausbildung der sogenannten Zwei-Naturen-LehreZwei-Naturen-LehreZwei-Naturen-Lehre. Deren Ausformulierung auf dem Konzil von ChalcedonKonzil von Chalcedon im Jahre 451 wurde ausgelöst durch den nestorianischen Streitnestorianischer Streit. NestoriusNestoriusNestorius (gest. um 450), PatriarchPatriarch von Konstantinopel, bezeichnete MariaMaria als Christusgebärerin (griechisch: christotokos). Den Hintergrund der von ihm gewählten Bezeichnung bildet die Theologie der Antiochener. In der ChristologieChristologie ging es ihnen darum, die beiden Naturen in der Person Christi zu unterscheiden. Christus ist eine Person in zwei Naturen. Offen blieb dabei scheinbar die Frage, wie die Einheit von göttlicher und menschlicher Natur näher zu bestimmen sei. Darauf legten die alexandrinischen Theologen den Finger. Allen voran Cyrill von AlexandrienCyrill von AlexandrienCyrill von Alexandrien (378–444) machte geltend, Christus bestehe zwar aus zwei Naturen, aber nach ihrer Vereinigung in der MenschwerdungMenschwerdung bilden sie eine Einheit. Maria sei deshalb Gottesgebärerin (griechisch: theotokos) zu nennen. In dieser Position schien den Theologen der antiochenischen Schule die Menschheit des GottessohnGottessohnes nach seiner Vereinigung mit der ewigen göttlichen Natur aufgehoben. In dem Menschgewordenen wäre [34]damit nur noch eine Natur, die göttliche. Sie ersetzt gleichsam die Menschheit in Christus. Aber widerspricht eine solche Auffassung des menschgewordenen GottessohnGottessohnes nicht den evangelischen Berichten von ihm, den Aussagen über sein LeidenLeiden, fragten die Antiochener nicht zu unrecht.

 

Die im Jahre 451 in ChalcedonChalcedon zusammengekommenen Theologen lösten den zwischen Alexandria und Antiochien schwelenden Streit durch eine Kompromissformel. Ein zwanzig Jahre zuvor in Ephesus von dem Kaiser einberufenes KonzilKonzil führte noch zu keiner Einigung der Parteien. Die Formel, die man in Chalcedon fand, Christus existiere in zwei Naturen, die in seiner PersonPerson unvermischt und unverwandelt sowie ungetrennt und unzerteilt seien, überzeugte allerdings die Theologen im Osten des Reiches nicht. Bald regte sich Widerstand, da man die dogmatischen Bestimmungen als nestorianisch empfand. Die neuen Kontroversen über die richtige Auffassung Christi kamen erst durch das dritte Konzil von KonstantinopelKonzil von Konstantinopel im Jahre 681 zu einem Abschluss.

Das wichtigste dogmatische Werk des christlichen Ostens stammt von Johannes von DamaskusJohannes von DamaskusJohannes von Damaskus (um 650–754) und trägt den Titel Quellen der Erkenntnis (griechisch: pege gnoseos). In ihm fasste er das Denken der griechischen Theologen der Antike in Form einer Sammlung ihrer Aussagen zusammen.

Literatur

Franz Dünzl: Geschichte des trinitarischen Dogmastrinitarisches Dogma in der Alten KircheKircheAlte, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2006.

Adolf Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, 3 Bde., Darmstadt 1980 (ND der 4. Auflage Tübingen 1909).

Wolf-Dieter Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 1: Alte KircheKircheAlte und Mittelalter, Gütersloh 1995.

Adolf Martin Ritter:DogmaDogma und Lehre in der alten Kirche, in: Carl Andresen/ders. (Hrsg.): Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Bd. 1: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Katholizität, Göttingen 21999, S. 99–283.

[35]Aufgaben

1 Informieren Sie sich in einer neueren Dogmengeschichte über die Lehrentwicklung in der Alten KircheKircheAlte.

2 Informieren Sie sich über die christologischen Streitigkeiten im fünften Jahrhundert sowie die Konzilsbeschlüsse von Chalzedon.

3 Vergleichen Sie Harnacks These, die Dogmenbildung im frühen Christentum sei dessen Hellenisierung, mit neueren Deutungen der dogmengeschichtlichen Entwicklung. Benennen Sie grundlegende Unterschiede.

2.2 Das Zeitalter der großen Summen

Von hoher Bedeutung für die Formierung der Theologie im lateinisch sprechenden Westen des römischen Reiches sowie des Theologieverständnisses im Mittelalter ist Aurelius AugustinAurelius AugustinAugustinus, Aurelius (354–430) aus Nordafrika. Streng chronologisch gesehen gehört der afrikanische Denker in die Alte KircheKircheAlte, aber aufgrund seines überragenden Einflusses auf die Theoriebildungen der westlichen Theologie markiert er den Anfang des mittelalterlichen theologischen Denkens. Genaue Abgrenzungen des medium aevum sind ebenso umstritten und unzureichend wie die Unterscheidung von Früh-, Hoch- und Spätscholastik. In den Jahrhunderten, die man in der Regel mit dem Epochenbegriff Mittelalter zusammenfasst, wurde der Begriff Theologie erst zur Bezeichnung der gedanklichen Bearbeitung der christlichen Lehre. Die altkirchlichen Denker verwendeten hierfür eher den Begriff Philosophie oder gar GnosisGnosis, Gnostizismus (griechisch: Erkenntnis). Mit dem griechischen Lehnwort theologia meinen sie heidnische Mythendichter wie HomerHomer (vermutlich um 850 v. Chr.) und HesiodHesiod (vor 700 v. Chr.).

Bei AugustinAugustinus, Aurelius, dem Bischof der Nordafrikanischen Stadt Hippo Regius, treten die Grundzüge des theologischen Denkens, die für die lateinische Christenheit zentral sind, prägnant hervor: Sünden- und GnadenlehreGnadenlehre, PrädestinationPrädestination, Erwählung, Kirche und SakramentSakramente. Als Denker verknüpfte er die biblische Überlieferung und Platonismusbiblische Überlieferung mit dem PlatonPlatonismusPlatonismus. Gott ist ihm, freilich im Unterschied zu Platon, die ewige WahrheitWahrheitewige. Aus der Verschmelzung von Bibel und Platonismus geht eine Art kontemplatives Denken hervor. Gottdenken ist in erster Linie Weisheit (lateinisch: sapientia). Es richtet sich auf das Unvergängliche und Bleibende und kehrt sich von der Welt des Vergänglichen ab. Der SündenfallSündenfall des Menschen besteht geradezu in seiner Ausrichtung auf das Sinnliche. Dadurch wird die von Gott geschaffene OrdnungOrdnung des KosmosKosmos, der Afrikaner versteht sie in den Spuren Platons und der StoaStoa, verkehrt. Das Vergängli[36]che wird an die Stelle des unveränderlichen Gottes gesetzt. Von sich aus kann der von Gott abgefallene Mensch sich Gott nicht wieder zu wenden. Der späte Augustin vertritt in Auseinandersetzung mit den Pelagianern, einer auf den englischen Mönch PelagiusPelagius (ca. 350–420) zurückgehenden theologischen Strömung, die den freien Willefreier WilleWillefreiern des Menschen betont, nach 396 eine Gnaden- und ErwählungslehrePrädestinationslehre, Erwählungslehre, in der Gott allein das Heil und das Unheil des Menschen wirkt. Von einer FreiheitFreiheit des Menschen im Hinblick auf die Herstellung seines Heils kann keine Rede sein.

Das augustinisch-platonische Denken bestimmte zunächst die Theologen des frühen MittelaltersTheologen des frühen Mittelalters. Die Zentren der theologischen Arbeit, also der Auseinandersetzung mit den biblischen Schriften und deren Kommentierung durch die KirchenväterKirchenväter, waren Klöster, in den Städten Kathedralschulen und später Universitäten. Hier wurden die Lehrmeinungen der alten Theologen gesammelt, kommentiert und überliefert. Auf diese Tätigkeit geht der Begriff ScholastikScholastik (von lateinisch: scholasticus, Gelehrter) zurück. Er bezeichnet sowohl Theologen und Philosophen, deren moderne Unterscheidung dem Mittelalter noch unbekannt ist.

Die von AugustinAugustinus, Aurelius geschaffene Verbindung von biblischem und platonischem Denken wird aufgenommen von Anselm von CanterburyAnselm von CanterburyAnselm von Canterbury (1033/34–1109). Der frühscholastische Denker bezeichnet die Auslegung der christlichen Lehrüberlieferung noch nicht als Theologie. Ganz im Sinne des Bischofs von Hippo Regius geht es ihm um eine gedankliche Durchdringung der Glaubensgehalte. In seinen bekannten Schriften Proslogion (1077/78) und Cur Deus Homo (1098) unternimmt er den Versuch, die ExistenzExistenz Gottes sowie die MenschwerdungMenschwerdung Gottes mit den begrifflichen Mitteln der VernunftVernunft zu begründen. Dadurch soll der Skeptiker, der solchen Glaubenswahrheiten mit dem Herzen zuzustimmen geneigt ist, im Kopf mit Argumenten überführt werden. Die von ihm geglaubte WahrheitWahrheitgeglaubte soll nicht nur eine solche sein, sie soll vielmehr auf einsichtige Weise verstanden werden (lateinisch: fides quaerens intellectum). Den gedanklichen Rahmen hierfür bietet der PlatonPlatonismusPlatonismus. Er ist die Voraussetzung für das sogenannte eine Argument (lateinisch: unum argumentum) von Anselm, mit dem er die Existenz Gottes aus dessen Begriff ableitet. Gott ist ihm das, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann (lateinisch: id, quo nihil maius cogitari potest). Zum Begriff Gottes gehört jedoch dessen Existenz bereits hinzu, da die platonischen IdeeIdeen [37]das wahre Sein darstellen. Denkt man Gott als nicht existierend, dann – so die Konsequenz – hat man nicht ihn gedacht.

AnselmAnselm von Canterbury benutzte zur Durchführung seines philosophisch-theologischen Programms die didaktische FormForm (Philosophie) des Dialogs, Petrus AbaelardusPetrus AbaelardusPetrus Abaelardus (1079–1142) die DialektikDialektik. In seinem Werk Sic et non (Ja und Nein) stellt er konfligierende Lehrmeinungen der KirchenväterKirchenväter mit dem Ziel zusammen, deren Widersprüchlichkeit aufzuweisen. Solche Divergenzen können allein durch Interpretationen gelöst werden und nicht durch eine Berufung auf AutoritätenAutorität. Die von ihm geschaffene Methode regte die sogenannte Quaestionenliteratur (von lateinisch: quaestio, Frage) an. Abaelards Schüler Petrus LombardusPetrus LombardusPetrus Lombardus (1095/1100–1160) schuf mit seiner Schrift Liber sententiarum (Sentenzenbücher, von lateinisch: sententia, Meinung) eines der einflussreichsten Lehrbücher des Mittelalters. Bis hin zu Martin LutherLuther, Martin (1483–1546) wurden dessen Sententien im Lehrbetrieb von angehenden Theologen immer wieder kommentiert und um neue Fragestellungen erweitert. In den vier Teilen der Schrift erörtert der Lombarde durch eine Zusammenstellung von Meinungen der Kirchenväter die Gottes-, Schöpfungs-, Inkarnations- und SakramentslehreSakramentslehre. Jetzt etabliert sich auch der Begriff Theologie zur Bezeichnung der kirchlichen Lehre im Ganzen.

Zu einem Umbruch im WissenschaftsverständnisUmbruch im Wissenschaftsverständnis mit gravierenden Folgen für die Auffassung der theologischen Arbeit kam es im 13. Jahrhundert. Dem lateinisch sprechenden Abendland waren die Schriften des AristotelesAristoteles nur zu einem Teil bekannt. Ein wichtiger Übermittler von dessen Denken war BoethiusBoethius (480/485–524/526). Infolge der Expansion des IslamIslam wurde den lateinischen Gelehrten des Westens im 13. Jahrhundert das Corpus Aristotelicum vermittelt. Die Bekanntschaft mit dem Werk des Stagiriten löste zunehmend das platonische Paradigma des theologischen und philosophischen Denkens ab und führte zu einem neuen Verständnis der Theologie als Wissenschaft. Aristoteles zufolge hat jede Einzelwissenschaft Prinzipien, von denen sie ausgeht. Von welchen, so musste man in dem neuen aristotelischen Wissenschaftsparadigma fragen, geht die Theologie aus, wenn sie eine scientia (lateinisch: Wissenschaft) sein soll? Thomas von AquinThomas von AquinThomas von Aquin (um 1225–1274) gab auf die Frage die Antwort, die Theologie geht von den Glaubensartikeln aus. Diese sind deren Prinzipien. Die Artikel des Glaubens beziehen sich auf das Wissen, welches Gott von sich selbst hat, sind diesem jedoch untergeordnet. Gott hat [38]sein Wissen von sich selbst den Menschen zwar durch seine Offenbarung bekannt gemacht, es ist aber nur dem Glauben und nicht der VernunftVernunft zugänglich. Die Theologie ist folglich eine untergeordnete oder subalternierte Wissenschaft.

 

In seinem Hauptwerk, der unvollendet gebliebenen Summa theologica, hat Thomas in Anknüpfung an seinen Lehrer Albertus MagnusAlbertus Magnus (1193/1200–1280) sein neues Verständnis von Theologie als Wissenschaft etabliert. Die Aufgabe der Theologie besteht darin, die Lehrgehalte der Bibel, die nicht der VernunftVernunft zugänglich sind, auf eine vernünftige Weise auszulegen. Der Aquinate verknüpft die ihm überlieferte theologische Lehrtradition mit der aristotelischen Philosophie. Das ist nicht ohne Probleme. Der antike Philosoph kennt nämlich weder einen transzendenten Gott noch eine Welt, die von diesem aus dem Nichts ins Dasein gerufen wurde. Für den Philosophen ist die Welt anfangslos. Die von dem Aquinaten geschaffene Synthese von Aristotelismus und ChristentumSynthese von AristotelismusAristotelismus und Christentum blieb auch nicht unwidersprochen. 1277, nur drei Jahre nach dem Tod von Thomas, verurteilte der Pariser Bischof Stephan TempierStephan Tempier (gest. 1279) 219 theologische und philosophische Sätze, um den Einfluss der aristotelischen Philosophie auf die Theologie in die Schranken zu weisen.

Die Rezeption des aristotelischen Denkens, die in dem System von Thomas einen ersten Höhepunkt erreicht hatte, führte zu zahlreichen Kontroversen über philosophische und theologische Fragen. Der Platoniker AnselmAnselm von Canterbury hatte die Existenz Gottes aus dessen Begriff abgeleitet. Vor dem Hintergrund des aristotelischen [39]Denkens ist ein solcher Beweis des Daseins Gottes unverständlich. In der Summa theologica des Thomas findet dann auch der später ontologischontologisch genannte Beweis von AnselmAnselm keine Berücksichtigung. An dessen Stelle treten bei dem Aquinaten kosmologische Beweisverfahren, also solche, die von der WeltWelt als Wirkung auf Gott als deren UrsacheUrsache (Philosophie) zurückschließen. Intensive Debatten werden von den mittelalterlichen Denkern über die Frage geführt, ob Allgemeinbegriffen wie Mensch Realität zukommt.

Infobox

UniversalienstreitUniversalien, Universalienstreit:

UniversalienUniversalien, Universalienstreit (lateinisch: universalia) nennt man Gattungs-, Allgemeinbegriffe oder auch Eigenschaften. Schon im frühen Mittelalter wurde darüber diskutiert, ob solchen Begriffen Realität zukommt. Vor dem Hintergrund des PlatonPlatonismusPlatonismus legt es sich nahe, Allgemeinbegriffen wie Mensch oder GerechtigkeitGerechtigkeit Realität zuzusprechen. Ähnlich wie den IdeeIdeen Platons kommt ihnen im Unterschied zu den Einzeldingen wahre Realität zu. Diese Position nennt man RealismusRealismus: Real sind allein die nichtsinnlichen Wesenheiten. Den Einzeldingen kommt lediglich eine abgeleitete Weise von Realität zu. Die Gegenposition hierzu nennt man NominalismusNominalismus oder auch via moderna (moderner Weg) im Unterschied zum Realismus der via antiqua (alter Weg). Für den Nominalismus haben nur die Einzeldinge Realität, während Allgemeinbegriffe bloße Nomen, also Wörter sind. Letztere werden als Begriff von der SeeleSeele repräsentiert.

Das theologische System des Thomas, in dem AristotelismusAristotelismus und Christentum unter Beibehaltung grundlegender platonischer Überzeugungen kunstvoll miteinander verbunden waren, wurde im 13. Jahrhundert der Kritik unterzogen. Die aus der Philosophie PlatonsPlaton übernommene Annahme, der Bestand der Welt sei von EwigkeitEwigkeit her in den IdeeIdeen gleichsam festgelegt, empfand man zunehmend als Beschränkung der Allmacht Gottes. Der platonische Schöpfergott kann in der Tat keine andere Welt schaffen als die, die in dem Ideenkosmos präfiguriert ist. So lehrten es sowohl AugustinAugustinus, Aurelius als auch Thomas. Die von Gott geschaffene Welt ist in ihren Grundstrukturen rational. Andernfalls wäre es unmöglich, von dem Geschaffenen auf seinen intelligenten Welturheber als UrsacheUrsache (Philosophie) zu schließen. Im späten Mittelalter werden diese Überzeugungen vor dem Hintergrund der Rezeption der aristotelischen Philosophie unplausibel. Gott ist, wie die spätmittelalterlichen Autoren betonen, in seinem Handeln an keine Vorgaben gebunden, auch nicht an die Ideen als Garanten ewiger Wahrheiten. In seinem Oxforder Kommentar zu den Sentenzen des Lombarden unterscheidet Johannes Duns ScotusJohannes Duns ScotusJohannes Duns Scotus (um 1270–1308) zwischen einer absoluten und einer geordneten Macht Gottes (lateinisch: potentia Dei absoluta et ordinata). Mit der Differenzierung soll das intrikate Problem der Allmacht Gottes begrifflich geklärt werden. Im Rückgriff auf die genannte Unterscheidung lässt sich sagen, Gott handelt zwar stets nach einer OrdnungOrdnung, aber diese ist von ihm selbst gesetzt. Es steht ihm also völlig frei, sie jederzeit zu ändern und nach einer anderen Ordnung zu handeln. Der spätmittelalterliche Theologe Wilhelm von OckhamWilhelm von OckhamWilhelm von Ockham (1285–1349) hat diese Unterscheidung ebenso aufgenommen wie der in Tübingen lehrende Gabriel BielBiel, Gabriel (1415–1495). Die Differenzierung zwischen einer absoluten und einer geordneten Macht Gottes steigert freilich die *KontingenzKontingenz des göttlichen Handelns, und zwar ebenso im Hinblick auf das Weltverhalten wie das Heil des Menschen. Die [40]Wahrheiten der Mathematik sowie die der christlichen Heilslehre finden ihre Begründung im Willen Gottes. Gott kann jederzeit eine andere Ordnung setzen, da sein WilleWille durch nichts gebunden ist. Im Horizont eines solchen Gottesverständnisses werden Welt- und Heilserkenntnis unsicher.

Das hat Folgen für das Verständnis der Theologie als Wissenschaft. Duns ScotusJohannes Duns Scotus weist die Begründung des Thomas zurück. Theologie ist keine untergeordnete Wissenschaft. Bei einer solchen müssten die Prinzipien evident sein. Das ist bei den Glaubensartikeln allerdings nicht der Fall. Theologie als praktische WissenschaftTheologie ist folglich als eine praktische Wissenschaft zu begreifen und nicht als eine theoretische, spekulative Disziplin. Sie handelt von Gott, dem höchsten Guthöchstes Gut, summum bonum (lateinisch: summum bonum), unter dem Gesichtspunkt der LiebeLiebe zu ihm.

Literatur

Volker Henning Drecoll: Die Entstehung der Gnadenlehre Ausgustins, Tübingen 1999.

Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 1986.

Wolf-Dieter Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 1: Alte KircheKircheAlte und Mittelalter, Gütersloh 1995, S. 549–636.

Charles Lohr: Art.: Theologie II/3. Theologie im lateinischen Christentum des Mittelalters, in: TRE, Bd. 33, Berlin/New York 2002, S. 276–279.

Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a.M. 1987, S. 226–240.

Miriam Rose: Thomas von Aquin, Summa theologiae, in: Christian Danz (Hrsg.): Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Portrait, Darmstadt 32012, S. 85–91.

Christoph Schwöbel: Art.: Theologie I. Begriffsgeschichte, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 8, Tübingen 42005, Sp. 255–266.