Systematische Theologie

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2.5 Der ReligionsbegriffReligionsbegriff als methodische Grundlage der Systematischen Theologie im 19. Jahrhundert

Um 1800 kam es wie in allen Wissenschaften so auch in der Theologie zu einer zunehmenden Professionalisierung und AusdifferenzierungProfessionalisierung und Ausdifferenzierung. Jetzt erst bildet sich ein Verständnis von Theologie als Fachwissenschaft im Unterschied zur Religion heraus. Zugleich avanciert der ReligionsbegriffReligionsbegriff zur methodischen Grundlage der Theologie. Er ersetzt sowohl die überlieferte natürliche TheologieTheologienatürliche als auch die Schriftlehre des alten Protestantismus. Beide konnten sich vor der aufgeklärten Kritik nicht mehr halten. Die Theologiegeschichtsschreibung bezeichnet diese Umformung, die mit dem gesellschaftlichen Wandel sowie dem Nachlassen der Präge[61]kraft der christlichen Konfessionsgegensätze seit der Aufklärung verbunden ist und zu einem neuen Typus von Theologie führte, als Übergang vom Alt- zum NeuprotestantismusNeuprotestantismus.

Infobox

Alt- und NeuprotestantismusNeuprotestantismus:

Die Unterscheidung von Alt- und NeuprotestantismusNeuprotestantismus stammt von Ernst TroeltschTroeltsch, Ernst. Er hat sie im Zusammenhang seiner Studien zur Bedeutung des Protestantismus für die Genese der modernen Welt unter anderem in seiner Schrift Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906) herausgearbeitet. Die Unterscheidung zielt nicht allein auf eine bloße Epochenscheidung, sie hat einen kategorialen und normativen Status. Den Ausgangspunkt bildet die Frage nach der geschichtlichen Einordnung der ReformationReformation, Reformationszeit sowie die Beobachtung des Abstands dieser Epoche zur Welt des 20. Jahrhunderts. Der Protestantismus der Moderne sei „dem Altprotestantismus gegenüber ein vielfach grundverschiedenes Gebilde, das daher auch im Namen als Neuprotestantismus unterschieden werden muss und das die schwere Frage der religiösen ZukunftZukunft der europäisch-amerikanischen Völker immer deutlicher aus sich heraus entwickelt, je mehr der KatholizismusKirchekatholische, Katholizismus in seine mittelalterliche dogmatisch-philosophische Tradition sich wieder einspinnt und nur für Zwecke politischer Machtgewinnung sich modernisiert“ (Troeltsch 2004, 134).

Die reformatorische Epoche „trägt das Doppelgesicht der Herkunft vom Mittelalter und des Hinweises auf eine neue Geisteswelt und vereinigt noch beides in dem lebendigen Schaffen der großen Meister, vor allem in der Persönlichkeit LuthersLuther, Martin, der am reichsten ist an Ideen und am ärmsten an Organisation“ (TroeltschTroeltsch, Ernst2004, 133f.). Vor dem Hintergrund dieser Deutung der ReformationReformation, Reformationszeit lassen sich die seit der Aufklärung hervortretenden Elemente, die ihre geschichtliche Wurzel in den von den Reformationskirchen verfolgten Täufern und Spiritualisten sowie dem in der englischen Revolution umgeprägten CalvinismusCalvinismus haben, genauer bestimmen und in ihrem Beitrag zu einer neuen Bestimmung des Begriffs des Protestantismus würdigen. Der moderne Protestantismus hat für Troeltsch nicht so sehr seine Wurzeln in der Reformation, er wurde vielmehr durch die Aufklärung geprägt und erstmals von Gotthold Ephraim LessingLessing, Gotthold Ephraim und Johann Salomo SemlerSemler, Johann Salomo sowie John LockeLocke, John und Pierre BayleBayle, Pierre (1647–1706) formuliert. Sein normativer Gehalt ist „die FreiheitFreiheit des Geistes und GewissensGewissen, die persönliche GefühlsreligionReligionGefühls-, die Unabhängigkeit von DogmaDogma und Theologie, die Erprobung des Religiösen im Sittlichen, die ewige Gegenwart der religiösen WahrheitWahrheitreligiöse und ihre Freiheit gegenüber allem Geschichtlichen“ (Troeltsch 2004, 193). Diese neue Form des Protestantismus markiert gegenüber der Reformation und dem Protestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts einen Bruch, der das Ende des mittelalterlichen Ideals einer geschlossenen kirchlich geleiteten Kulturidee in Folge der englischen Revolution und ihres misslungenen Versuchs, einen christlichen Staat zu errichten, zur Voraussetzung hat und der „Sebastian FranckFranck, Sebastian näher als seinem Helden Luther“ (ebd.) steht.

Der Begriff ‚NeuprotestantismusNeuprotestantismus‘ ist für TroeltschTroeltsch, Ernst ein normativer geschichtsphilosophischer Deutungsbegriff, der eine modernitätsgeleitete Umformung des Protestantismus, die ebenso seine Theologie wie seine SozialethikEthikSozial- umfasst, beinhaltet und der der veränderten gesamtgesellschaftlichen Situation in der Moderne infolge gesellschaftlicher Ausdifferenzierungsprozesse Rechnung tragen soll. Die geschichtliche Reflexion der Genese des modernen Protestantismus dient der eigenen Selbstvergewisserung und vor allem seiner Standortbestimmung in einer sich wandelnden Gesellschaft. Als wesentliche Gehalte des Protestantismus identifiziert Troeltsch den Gedanken eines ewigen WertesWert der individuellen Persönlichkeit. In deren Bewahrung und Rettung angesichts der mit der Moderne verbundenen Ambivalenzen sowie ihrer freiheitsgefährdenden Tendenzen besteht die Aufgabe der protestantischen Religion in der modernen KulturKulturmoderne.

Die theologischen Kontroversen im 19. Jahrhundert arbeiten sich an dem durch die AufklärungAufklärung virulent gewordenen Problem von Offenbarung und Geschichte ab. Das geschieht vor dem Hintergrund einer neuen Grundlegung der Theologie im ReligionsbegriffReligionsbegriff. Mit ihm ist eine Neuformulierung des Theologiebegriffs verbunden. Das GottesbewusstseinGottesbewusstsein und sein Verhältnis zur [62]Geschichte rücken in den Fokus der Debatten. Exemplarisch für diese Transformationen sind die kritische TranszendentalphilosophiePhilosophieTranszendental- Immanuel KantsKant, Immanuel, die Theologie Friedrich SchleiermachersSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1768–1832), die in der Mitte des Jahrhunderts entstehende historische TheologieTheologiehistorische sowie die Konzeption Albrecht RitschlsRitschl, Albrecht (1822–1889). Diese Theologen verbindet das Anliegen, die Theologie als eine Wissenschaft zu konzipieren.

Literatur

Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus Bd. 1–2, Gütersloh 1990. 1993.

Wolfhart Pannenberg:ProblemgeschichteProblemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst bis zu Barth und Tillich, Göttingen 1997.

Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit. Bd. 1: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert, Tübingen 1997.

Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, (1906/1909/1922) (Kritische Gesamtausgabe = KGA, Bd. 7), hrsg. v. Volker Drehsen in Zusammenarbeit mit Christian Albrecht, Berlin/New York 2004.

a. Immanuel KantKant, Immanuel

KantsKant, Immanuel Bedeutung für die Philosophie und die Theologie im 19. und 20. Jahrhundert lässt sich lediglich mit PlatonPlaton und AristotelesAristoteles vergleichen. Im Anschluss an seinen Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? von 1784 könnte man sagen: Seine überragende Leistung besteht in der von ihm vorgenommenen Aufklärung der VernunftAufklärung der VernunftVernunft. Kant hat diese über sich selbst und die Grenzen ihres Wissens aufgeklärt. Erkenntnis ist allein im Bereich der Erfahrung möglich. Mit der genannten Grenzziehung sind sowohl für die Theologie als auch für die Philosophie einschneidende Konsequenzen verbunden. Sie waren es vor allem, die den jüdischen Aufklärungsphilosophen Moses MendelssohnMendelssohn, Moses in seinen Vorlesungen über das Daseyn Gottes von 1785 von dem „alles zermalmenden Kant“ sprechen ließen (Mendelssohn 1989, 469).

In seinem Hauptwerk Kritik der reinen VernunftVernunft von 1781 hat der Königsberger Denker die Reichweite des Wissens kritisch vermessen. Intersubjektiv geltende Erkenntnis, so das Resultat der Prüfung, ist ausschließlich an die Sphäre der Erfahrung gebunden. Gegenstände, die über diesen Bereich hinausgehen, kann der Mensch nicht erkennen. Überschreitet die Vernunft indes jene Grenze, dann gerät sie in einen Abgrund und verliert sich in phantastischen Spekulationen. Von Erkenntnis kann nur dann gespro[63]chen werden, wenn Anschauung und BegriffAnschauung und Begriffe zusammen kommen. Jene resultiert somit aus zwei Quellen (Zweiquellentheorie der ErkenntnisZweiquellentheorie der Erkenntnis). Mit seinem Verständnis von Erkenntnis nimmt KantKant, Immanuel eine VermittlungVermittlung der beiden philosophischen Hauptrichtungen des 18. Jahrhunderts – des RationalismusRationalismus und des EmpirismusEmpirismus – vor. Für den Rationalismus basiert alle Erkenntnis auf dem begrifflichen Denken. Durch die Zergliederung von Begriffen gelangt man zu begründetem Wissen. Dem widerspricht der Empirismus. Er behauptet, zur Erkenntnis kommt der Mensch nicht durch Begriffsanalyse, da sie sekundär ist, sondern durch Erfahrung. Kant hingegen kritisiert beide Positionen: Erkenntnis kommt weder nur durch Begriffsanalyse noch allein durch Erfahrung zustande, sie verdankt sich dem Zusammenwirken von Anschauung und Begriff.

Wenn der Mensch etwas erkennt, dann verbindet er Begriffe mit Anschauungen. Die für die ErkenntnisErkenntnis notwendigen Begriffe werden im menschlichen Geist nach bestimmten Regeln (KategorienKategorien (Philosophie)) geformt und auf Anschauungen angewandt. Dadurch entsteht für jeden Menschen erst die objektive Welt der Gegenstände. Das erkennende SubjektSubjekt bildet also in seiner Erkenntnis die Wirklichkeit nicht ab, es schafft vielmehr selbst durch die in ihm liegenden Kategorien erst diejenigen objektiven Gegenstände, die es erkennt. KantKant, Immanuel nimmt in seiner ErkenntnistheorieErkenntnistheorie gewissermaßen eine Wendung des Gesichtspunktes vor, die auf den ersten Blick schwer nachzuvollziehen ist. Die objektive Gegenstandswelt und ihre Einheit werden durch den subjektiven Erkenntnismechanismus erzeugt. Das ist freilich allein unter der Voraussetzung möglich, dass in jedem Subjekt derselbe allgemeine Erkenntnisapparat angelegt ist. Das erkennende Subjekt – Kant nennt es transzendentalestranszendental – ist folglich selbst schon ein allgemeines beziehungsweise ein objektives.

 

Der Mensch kann damit nur das erkennen, was er nach Regeln konstituiert, die er im Erkenntnisprozess bereits mitbringtErscheinungen und Dinge an sich. Die Gegenstände der Erkenntnis in ihrer TotalitätTotalität sind die Welt der Erscheinungen. Von ihr unterscheidet KantKant, Immanuel die Dinge an sich. Sie können nicht erkannt werden, da der Mensch lediglich Erscheinungen erkennen kann. Die zuletzt genannte Unterscheidung zwischen ErscheinungErscheinung und Dingen an sich steht im Interesse der MoralphilosophiePhilosophieMoral-. Der Gedanke der FreiheitFreiheit ist für den Königsberger Philosophen nur dann widerspruchsfrei zu denken, wenn zwi[64]schen der phänomenalen und der intelligiblen Welt strikt unterschieden wird.

Mit KantsKant, ImmanuelVernunftkritikVernunftkritik sowie dem eben angedeuteten Verständnis von objektiver Erkenntnis ist eine wichtige Konsequenz verbunden. Sie besteht in der bereits erwähnten Beschränkung der geltenden Erkenntnis auf den Bereich der Erfahrung. Alles, was über die Erfahrung hinausgeht, kann damit nicht erkannt werden. Nun gehört jedoch der GottesgedankeGottesgedankeGottesgedanke zu den Gegenständen, die per definitionem nicht zur Erfahrung gehören. Von Gott hat der Mensch zwar einen Begriff, so dass er ihn denken kann, aber eben keine Anschauung. Wo diese fehlt, da kann man auch nichts erkennen, da jede objektive ErkenntnisErkenntnis, objektive aus dem Zusammenspiel von Begriff und Anschauung resultiert. Mit Kants Zweiquellentheorie der ErkenntnisZweiquellentheorie der Erkenntnis ist folglich die Konsequenz verbunden, dass der Gottesgedanke aus dem Bereich der objektiven Erkenntnisgegenstände ausscheidet. Gott wird für die Vernunftkritik zu einem völlig unerkennbaren Gegenstand, dessen ExistenzExistenz sich überdies mit Gründen weder behaupten noch bestreiten lässt.

Das Resultat der VernunftkritikVernunftkritik ist nun nicht ohne Folgen für die Philosophie und die Theologie. Die gesamte philosophische und theologische Tradition ging mehr oder weniger davon aus, dass Gott irgendwie zu erkennen sei. Diese Überzeugung hat KantKant, Immanuel kritisch aufgelöst. Gott kann von der menschlichen VernunftVernunft nicht erkannt werden. Trifft das aber zu, dann ist sowohl der Theologie als auch der MetaphysikMetaphysik ihr Gegenstand entzogen. Die negative Bilanz ist jedoch nicht Kants letztes Wort in Sachen Religion und Gott geblieben. Sie sind zwar keine Themen der theoretischen Philosophie mehr, wohl aber der praktischen. Der Königsberger Philosoph entwickelt sein Verständnis der Religion in der praktischen Philosophie. Theologie ist allein als EthikotheologieEthikotheologieEthikotheologie, also im Horizont der MoralMoral, möglich, und nicht als theoretische Gotteserkennnis. Was versteht er nun unter Religion, und wie ist sie dem sittlichen Bewusstsein zugeordnet?

Die Religion ist für ein Folgeproblem der MoralphilosophiePhilosophieMoral- zuständig. Diese Zuordnung von MoralMoral und Religion ist in der Kritik der praktischen VernunftVernunft (1788) und in einer eher religionsdogmatischen Weise in der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1793 ausgeführt. Zunächst: Es geht in KantsKant, Immanuel Religionsphilosophie nicht darum, die Moral durch die Reli[65]gion zu begründen oder zu legitimieren. Die Moral ist für ihn völlig autonom. Sie hat ihren Grund allein in der Vernunft des Menschen und fußt auf dem SittengesetzSittengesetz. Der Gottesgedanke spielt damit für die Begründung der Moral keine Rolle. Sodann: Der Übergang von der autonomen Vernunftmoral zur Religion ergibt sich für Kant daraus, dass der Mensch zwar ein Vernunftwesen ist, aber eben nicht nur. Der Mensch ist in seinem Handeln nicht allein durch allgemeine Vernunftgründe bestimmt, sondern stets auch durch sinnliche Handlungsantriebe und Neigungen. Sittlich handeln heißt nun aber für den Königsberger Philosophen, ausschließlich der Stimme der Vernunft, also dem moralischen GesetzGesetz ‚in mir‘, Folge zu leisten. Die sinnlichen Handlungsantriebe und Neigungen müssen durch die Vernunft unterdrückt und dem SittengesetzSittengesetz untergeordnet werden. Wenn ein Mensch seinen Willen dem allgemeinen Sittengesetz unterordnet und sich in seinem Handeln ausschließlich von allgemeinen Vernunftgründen bestimmen lässt, dann ist sein WilleWille ein guter Wille. Nur so ist er frei beziehungsweise autonom. Er unterstellt sich einem Gesetz, das er sich selbst gibt.

Mit der Verwirklichung der Sittlichkeit durch den Menschen ist allerdings ein Problem verbunden. Die sittlichen Handlungen des Menschen gehören für KantKant, Immanuel in die OrdnungOrdnung der FreiheitFreiheit. Von ihr unterscheidet er die NaturordnungNaturordnung. In ihr ist alles durch einen UrsacheUrsache (Philosophie)-Wirkungs-Mechanismus miteinander verbunden. Von Freiheit kann daher in der Naturordnung keine Rede sein. Die Natur folgt unabänderlich ihren Gesetzen. Bei den Handlungen des Menschen soll das anders sein. Vom ihm ist zu fordern, dass er sittlich handeln und nicht seinen natürlichen Neigungen und Trieben folgen soll.

Wenn aber die sittliche Welt der FreiheitFreiheit und die kausale der Natur sich geradezu ausschließen, der Mensch jedoch in seinem sittlichen Handeln auf die kausale OrdnungOrdnung der Natur einwirkt, dann ist nicht so ohne Weiteres klar, wie die beiden Welten – die der Freiheit und die der Naturnotwendigkeit – zusammenstimmen können. Ihre Verträglichkeit lässt sich weder von der Seite der Natur noch von der der Freiheit aus einsehen oder begründen. Gleichwohl muss der Mensch in jeder sittlichen Handlung bereits voraussetzen, dass beide Ordnungen kompatibel sind. Andernfalls wäre das sittliche Handeln sinnlos, es würde in der Natur nichts bewirken. Auf das eben genannte Problem der Zusammenstim[66]mung von Natur und Freiheit bezieht KantKant, Immanueldas Postulat Gottesdas Postulat Gottes. Gott repräsentiert dem Handelnden die für die Verwirklichung der Sittlichkeit unumgängliche Voraussetzung einer Übereinstimmung von FreiheitFreiheit und Natur. Ihm entspricht das höchste Guthöchstes Gut, summum bonum, der Endzweckgedanke der reinen praktischen VernunftVernunft.

Es ist wichtig zu sehen, dass in der Kantischen Religionsphilosophie der GottesgedankeGottesgedanke erst bei der Realisierung des sittlichen Handelns ins Spiel kommt, und eben nicht im Hinblick auf dessen Begründung. In ihm vergegenwärtigt der Mensch sich die Voraussetzungen seines sittlichen Handelns. Der Mensch muss sich Gott denken, wenn er seine sinnliche Existenzform mit der Moralität des SittengesetzesSittengesetz zusammenbringen will. Zugleich dient die GottesvorstellungGottesvorstellung dem sittlich Handelnden zur Vergewisserung der Realisierung seiner sittlichen Aufgabe, die Welt entsprechend des Sittengesetzes zu gestalten.

KantKant, Immanuel ordnet die Religion der Realisierung der MoralMoral zu. Insofern wird man sagen können, jene ist eine FormForm (Philosophie) der SelbstdeutungSelbstdeutung des sittlichen Bewusstseins. Religion ist die Weise, in der Moral für das sinnliche Vernunftwesen Mensch Wirklichkeit wird. Kants Leistung besteht somit in einer neuen Begründung der Religion, nachdem sich die alte metaphysische nicht mehr als tragfähig erwiesen hat. Religion ist kein Feld der theoretischen Spekulation, sondern eine Angelegenheit des praktischen Lebens. Die Geltungsgrundlage der Religion ist die VernunftVernunft. Die Geschichte tritt zurück. In ihr verwirklicht sich zwar die Religion, aber ihre wahre Begründung liegt in der Vernunft. Deshalb gibt es vielerlei Glauben(sarten), aber nur eine wahre ReligionReligionwahre. Mit dem Christentum, Kant bezeichnet es als „Revolution in Glaubenslehren“, tritt die MoralreligionReligionMoral- in die Geschichte ein. Hier kämpft sie mit dem sinnlichen Glauben um die Oberherrschaft, um diese, woran der Königsberger Meisterdenker keinen Zweifel lässt, am Ende zu erlangen.

[67]Literatur

Christian Danz/Rudolf Langthaler (Hrsg.): Kritische und absolute TranszendenzTranszendenz. Religionsphilosophie und Philosophische Theologie bei KantKant, Immanuel und Schelling, Freiburg i. Br./München 2006.

Claus Dierksmeier: Das Noumenon Religion. Eine Untersuchung zur Stellung der Religion im System der praktischen Philosophie KantsKant, Immanuel, Berlin/New York 1998.

Ottfried Höffe: Immanuel KantKant, Immanuel, München 21988.

Immanuel KantKant, Immanuel: Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1984.

Moses Mendelssohn: Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes, in: ders.: Schriften über Religion und Aufklärung, Berlin (Ost) 1989, S. 467–471.

Aufgaben

1 Informieren Sie sich über Grundzüge der kritischen Transzendentalphilosophie KantsKant, Immanuel in einer Einführung.

2 Begründen Sie in Form von fünf Thesen, warum Moses Mendelssohn KantKant, Immanuel einen ‚alles Zermalmenden‘ nennt.

3 Lesen Sie die Vorrede der ersten Auflage von KantsKant, Immanuel Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen VernunftVernunft. Welche Aussagen macht Kant hier über Religion, und wie verhalten sie sich zueinander?

b. Friedrich SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst

Was KantKant, Immanuel für die Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts bedeutet, das ist Friedrich Daniel Ernst SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst für die auf ihn nachfolgende Theologie. Man hat ihn den Kant der Theologie genannt (David Friedrich StraußStrauß, David Friedrich [1808–1874]). Sein Werk markiert eine grundsätzliche Neuorientierung in der protestantischen TheologieTheologieevangelische, protestantische. Ihm kommt das Verdienst zu, die Theologie auf eine völlig neue Grundlage gestellt zu haben. Fragt man, worin seine epochale Bedeutung für die neuere Theologie des Protestantismus besteht, so wird man sagen müssen, in seiner Bestimmung der Religion als eine eigenständige KultursphäreReligion als eine eigenständige Kultursphäre. In seiner Konzeption schlägt sich die um 1800 einsetzende Ausdifferenzierung der Gesellschaft in unterschiedliche Funktionssysteme ebenso nieder wie die ‚Innenverlagerung‘ der Religion in Folge von Kants Kritik an der überlieferten Metaphysik. Das religiöse Bewusstsein wird zur methodischen Basis der Theologie. Letztere beschreibt nicht mehr Gott an sich selbst, ihr Gegenstand ist das GottesbewusstseinGottesbewusstsein des Menschen.

Die Grundlage der Theologie ist das religiöse Bewusstsein. SchleiermachersSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst religionstheoretische Grundeinsicht besteht darin, dass die Religion sowohl von dem Denken als auch von dem moralischen Handeln unabhängig ist. Sie stellt ein eigenständiges Phänomen dar. Diesen Gedanken hat er bereits in seinem Erstlingswerk, den Reden Über die Religion von 1799 ausgesprochen, er [68]liegt auch seinem späteren dogmatischen Hauptwerk Der christliche Glaube (1821/22. 2. Aufl. 1830/31) zugrunde. Die Begründung der Eigenständigkeit der Religion nimmt auf der einen Seite das Anliegen der ErkenntniskritikErkenntniskritikKantsKant, Immanuel auf, kritisiert aber auf der anderen dessen Versuch, Religion im Horizont des moralischen Bewusstseins zu begründen. Mit Kant ist er der Meinung, die theoretische Metaphysik komme als Fundament von Religion und Theologie nicht in Frage. Die Kritik des menschlichen Erkenntnisvermögens, wie sie der Königsberger Philosoph in der Kritik der reinen VernunftVernunft ausgeführt hat, wird von ihm geteilt. Das Gottesverhältnis ist kein theoretisches Verhältnis zu einem Gegenstand. Gegen Kant macht Schleiermacher geltend, Religion könne nicht als ein Anhängsel der MoralMoral verstanden werden. Eine solche Verschränkung von Religion und Moral, wie sie Kant in seinen religionsphilosophischen Schriften vorgeführt hatte, hebe die Eigenständigkeit der Religion auf, da sie mit der Moral identisch wird.

das Wesen der ReligionDas Wesen der Religion, so SchleiermachersSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst berühmte Formulierung in der zweiten Rede der Reden, ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und GefühlGefühlAnschauung undAnschauung und Gefühl. Durch beide Bestimmungen unterscheidet sich die Religion von den Welteinstellungen des Denkens und des Handelns und bildet eine eigenständige Weise der Welt- und SelbstdeutungSelbstdeutung des Menschen. Zwar hat die Religion den gleichen Bezugspunkt wie Denken und Handeln, nämlich das UniversumUniversum, aber die Weise, wie sie sich auf diese Totalitätsidee bezieht, unterscheidet sich von beiden. Sie verhält sich weder theoretisch noch praktisch zu dem Universum, sondern anschauend und fühlend. Religion, so kann man den Gedanken zusammenfassen, ist eine spezifische Weise der WahrnehmungWahrnehmung des eigenen Lebens und der Welt, die sich in besonderen Formen darstellt.

 

Mit der Neubestimmung der Religion als Anschauung und GefühlGefühlAnschauung undAnschauung und Gefühl sind weitreichende Konsequenzen verbunden. Die gewichtigste liegt wohl darin, dass in SchleiermachersSchleiermacher, Friedrich Daniel ErnstReligionstheorieReligionstheorie der GottesgedankeGottesgedanke zurücktritt. An seine Stelle tritt der Begriff des UniversumsUniversum. Er meint eine Totalitätsdimension. Damit bricht der Theologe mit dem seit der Antike geläufigen Verfahren, die Religion zu bestimmen. Mit seiner These, Religion könne auch dort vorliegen, wo es nicht zur Ausbildung der GottesvorstellungGottesvorstellung kommt, knüpft er an die Position an, welche Johann Gottlieb FichteFichte, Johann Gottlieb (1762–1814) 1798/99 in seinen Schriften zum Atheismus[69]streitAtheismusstreit vertreten hatte. Für das religiöse Leben ist die Ausbildung einer Gottesvorstellung nicht konstitutiv. Sie ist eine einzelne Anschauungsart, das heißt eine bestimmte Weise der Symbolisierung des Universums. Aus der Herabstufung der Gottesvorstellung für den Begriff der Religion folgt freilich nicht, dass sie nicht für das Christentum grundlegend ist. Die christliche ReligionReligionchristliche stellt sich als Gottesverhältnis dar.

Religion hat ihren Ort im menschlichen Bewusstsein. Ihr Wesen ist Anschauung und GefühlAnschauung und GefühlGefühlAnschauung undAnschauung und Gefühl. Durch beide Bestimmungen ist sie sowohl von der Metaphysik als auch von der MoralMoral unterschieden. Aus der Unterscheidung des religiösen Bewusstseins vom Wissen folgt, dass es sich nicht auf transzendente Gegenstände bezieht. Solche müssten nämlich dem Wissen zugänglich ein. In der Religion geht es vielmehr um das Verhältnis des Endlichen zum Unendlichen und umgekehrt. Hierauf zielt der Anschauungsbegriff. In der religiösen Anschauung wird etwas Konkretes in einen Unendlichkeitshorizont eingerückt. Das religiöse Bewusstsein verknüpft die Sphären des Endlichen und Unendlichen miteinander. Auch durch das zweite Bestimmungsmerkmal der Religion – den Begriff des GefühlsGefühl – soll der Unterschied zwischen der Religion und den Vermögen des Denkens und des Handelns unterstrichen werden. Religion fällt in das Innere des SubjektsSubjekt und ist aus diesem Grund von allem begrifflichen Wissen unterschieden. Sie ist nicht Lehre, DogmaDogma oder BekenntnisBekenntnis, sondern eine eigene Weise der Selbst- und WeltdeutungWeltdeutung des Menschen.

SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst hat zeitlebens an seiner religionstheoretischen Einsicht in die Eigenständigkeit der Religion festgehalten. In der ersten Auflage der Reden Über die Religion ist der Anschauungsbegriff der grundlegende Begriff seiner ReligionstheorieReligionstheorie. An dieser Gewichtung hat er in den Folgejahren Modifikationen vorgenommen. Bereits in der zweiten Auflage der Reden von 1806 tritt der Anschauungsbegriff zurück, und der Gefühlsbegriff wird mehr und mehr zum zentralen Bestimmungselement der Religion. Die spätere GlaubenslehreGlaubenslehreGlaubenslehre versteht Religion als eine Bestimmtheit des GefühlsGefühl und erläutert es durch den Begriff eines *unmittelbaren SelbstbewusstseinsSelbstbewusstsein. Die Abgrenzung der Religion von Denken und Handeln bleibt somit auch im späteren Werk erhalten. Sie wird jedoch gedanklich vertieft. Religion ist der Eintritt des höheren Selbstbewusstseins in das niedere. Jenes wird als Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit bezeichnet. Gemeint [70]ist damit eine Art SelbsterfassungSelbsterfassung des Menschen. Er wird sich seiner eigenen Endlichkeit inne und stellt dies dar, wobei die religiösen Darstellungsformen geschichtlich bedingt sind.

In seiner DogmatikDogmatik ordnet SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst das Christentum in die Religionsgeschichte einUmformung der Prolegomena der Dogmatik. Es ist eine monotheistische Religion, die sich dadurch von anderen unterscheidet, dass alles in ihr durch die von Jesus von Nazareth vollbrachte ErlösungErlösung, Erlösungswerk bestimmt ist. Das christlich-religiöse Bewusstsein ist auf Jesus Christus bezogen. Die Aufgabe der Dogmatik ist es, die Bestimmtheit des christlichen Bewusstseins in der Rede darzustellen. Sie ist keine spekulative Wissenschaft, sie beschreibt Religion als eine Angelegenheit des Menschen. In der GlaubenslehreGlaubenslehre Schleiermachers ersetzt der ReligionsbegriffReligionsbegriff die Lehre von der Heiligen Schrift. Hatten die altprotestantischen Theologen in den Prolegomena ihrer Dogmatiken das SchriftprinzipSchriftprinzip als Erkenntnisquelle der dogmatischen Aussagen abgehandelt, so tritt nun die Religion an diese Funktionsstelle. Die Glaubenslehre beschreibt das durch Jesus Christus bestimmte religiöse Bewusstsein des Christen in seinem systematischen Zusammenhang. Schon SemlerSemler, Johann Salomo hatte die theologischen Lehrsysteme als geschichtlich bedingt und partikular eingestuft. Dem folgt Schleiermacher, indem er die Dogmatik den historischen Disziplinen der Theologie zuordnet. Die Glaubenslehre beschreibt die zu dem gegenwärtigen Zeitpunkt in der evangelischen KircheKircheevangelische geltende Lehre, die geschichtlich wandelbar ist.

Im Zentrum der DogmatikDogmatik steht die Lehre von Jesus Christus, die ChristologieChristologieChristologie. Den Nazarener versteht SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst als Urbild des Glaubens. Bereits die Einleitung zur GlaubenslehreGlaubenslehre entwickelt die Grundzüge der Urbild-Christologie. Wenn die Religion in dem Eintritt des höheren SelbstbewusstseinsSelbstbewusstsein in das niedere besteht, so ist der Gedanke eines Höchstmaßes denkbar. Es besteht in der durchgängigen und dauerhaften Herrschaft des höheren über das niedere Selbstbewusstsein. Die materiale Durchführung der Christologie in der Glaubenslehre nimmt diese Strukturbeschreibung der Religion auf und überträgt sie auf Jesus Christus. Er ist das Urbild der FrömmigkeitFrömmigkeit. In dem IndividuumIndividuum Jesus von Nazareth ist es geschichtliche Wirklichkeit geworden. Mit seiner Urbild-Christologie und der Behauptung der Realisierung des Urbildes in Jesus hat Schleiermacher Glaube und GeschichteGlaube und Geschichte wieder zusammengeführt. Das seit der AufklärungAufklärung virulente Problem hat in seiner Christologie eine neue Lösung erfahren. Der Glaube [71]als Bestimmtsein durch Christus ist auf den geschichtlichen ErlöserErlöser bezogen. Er ist der Stifter eines neuen Gesamtlebens, das sich in der Geschichte in Gestalt der Kirche verwirklicht.

Literatur

Hermann Fischer: Friedrich Daniel Ernst SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, München 2001.