WILDER FLUSS

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WILDER FLUSS
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WILDER FLUSS
Cheryl Kaye Tardif

übersetzt von Ilona Stangl

This Translation is published by arrangement with Cheryl Kaye Tardif. All rights reserved.

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

Für meine Freundin und Schwester, Bobbi Del Hathaway

... die immer »auf ihr Herz hört«!

Bobbi ist eine Frau von immenser Entschlossenheit, die sich mit Würde und Mut tapfer dem MS-Monster stellt und nie ihre Lebensqualität aufgibt.

Du bist Inspiration für alle, die dich kennen, und wir alle können uns ob deiner Freundschaft und Courage dankbar schätzen.

Danke, dass ich mir deine ›Del‹ leihen durfte.

Ohne dich würde der Wilde Fluss nicht fließen!

~ in Liebe, Cheryl

Impressum

Überarbeitete Ausgabe

Originaltitel: THE RIVER

Copyright Gesamtausgabe © 2019 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert

Übersetzung: Ilona Stangl

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2019) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-008-3

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

WILDER FLUSS

TEIL EINS

Unterströmungen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

TEIL ZWEI

Unter Wasser

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

TEIL DREI

Unterwelt

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Über die Autorin

Lieber Leser …

Eine Freundin meiner Mutter träumte eines Nachts davon, sie würde einen geheimnisvollen Fluss in Kanada entlangreisen. Als mir meine Mutter später von den Gerüchten erzählte, die sich um diesen Fluss, an dessen Namen sie sich nicht mehr erinnern konnte, rankten, war ich gefesselt und eine schaurige Geschichte begann sich in meinem Kopf zusammenzubrauen. Nun war es daran, diesen einen Fluss zu finden.

Der South Nahanni River in den schroffen Northwest Territories Kanadas ist eine der spektakulärsten Sehenswürdigkeiten überhaupt, von unvorstellbarer Schönheit und voller verborgener Gefahren. Man trifft dort auf unglaublichen Artenreichtum in Flora und Fauna – ganz zu schweigen von dem Reichtum an Legenden ›mit einem langen Bart‹, wie mein Mann sagen würde.

Er könnte also der Fluss sein, von dem die Freundin meiner Mutter gesprochen hatte – oder eben auch nicht. Nichtsdestotrotz birgt der Nahanni River zahlreiche Geheimnisse. Entlang seiner Ufer wurden vor Jahrzehnten kopflose Skelette und Leichen entdeckt und über die Jahre verschwanden dort immer wieder spurlos Menschen. Oft spricht man sogar vom ›Bermudadreieck Kanadas‹.

Obwohl WILDER FLUSS mit Tatsachen verflochten ist, basiert dieser Roman auf Fakt und Fiktion.

Ich lasse Sie selbst bestimmen, was davon Sie glauben möchten. Brechen Sie auf zu einem Abenteuer auf dem …

WILDEN FLUSS

TEIL EINS
Unterströmungen

Ich möchte Gottes Gedanken kennen;

alles andere sind Nebensächlichkeiten.

~ Albert Einstein

Kapitel 1

»Sie hört immer auf ihr Herz«, krächzte eine Stimme.

Erschrocken von der plötzlichen Unterbrechung hob Professor Del Hawthorne ihren Kopf und schnappte nach Luft.

Was zum …?

Ein Mann stand in der Tür ihres Hörsaals und rang nach Luft. Er war Ende siebzig und trug eine schmuddelige Wildlederjacke über einem Anzughemd, das wohl irgendwann einmal blütenweiß gewesen sein musste. Es war zerrissen und voller Flecken, die verdächtig nach getrocknetem Blut aussahen. Seine maßgeschneiderte schwarze Hose war unterhalb der Knie abgerissen.

Er kam in den Raum gestolpert und schlug die Tür zu.

Del warf Peter Cavanaugh, ihrem jungen Anthropologieprotegé, einen alarmierten Blick zu. Sie erhob sich langsam von ihrem Pult und wandte sich an den alten Mann.

»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«

Sein strähniges graues Haar bedeckte einen Teil seines Gesichts und schrie förmlich nach Shampoo und einem Haarschnitt. Die fleckige, zerfurchte Haut erinnerte sie an verwitterte Zedernrinde. Doch es waren seine glasigen, wenngleich seltsam vertrauten Augen, die ihr Herz einen Schlag aussetzen ließen.

Kannte sie diesen Mann?

»Sir?«

Seine Augen blitzen gefährlich auf. »Sie hört immer auf ihr Herz!«

Del schluckte.

Sie bekam nicht jeden Tag den Lieblingsspruch ihres Vaters zu hören – und schon gar nicht, wenn es nicht ihr Vater selbst war, der ihn aussprach. Stattdessen kamen die Worte aus dem Mund eines Mannes, der so aussah, als käme er geradewegs aus der Irrenanstalt.

Wie zum Teufel ist er am Sicherheitsdienst vorbeigekommen?

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Verdammt!

Nach sechs Uhr waren für gewöhnlich nur noch zwei Sicherheitskräfte im Anthropologieflügel und wahrscheinlich drehten sie gerade ihre Runde oder waren am Snackautomaten.

Sie sah zu Peter hinüber.

Der junge Mann hatte Angst. Bewegungslos stand er am anderen Ende des Zimmers und hatte den Kopf auf seine Brust gesenkt.

 

»Die Campus-Security wird bald hier sein«, sagte er leise.

Der Mann wandte sich Peter mit halb geschlossenen Augen zu. »Wer ist das?«

Del trat zögerlich nach vorne. Vorsichtig legte sie ihre Hände auf die Tischkante des Pults, um die Aufmerksamkeit des Mannes nicht auf sich zu lenken.

Wo ist der verdammte Knopf?

Der Sicherheitsdienst hatte an der Schreibtischunterseite eines jeden Fakultätsmitglieds Auslöseknöpfe für stillen Alarm montiert. Die Zeiten hatten sich geändert. Schulen, Colleges und Universitäten waren allzu häufig Zielscheiben für mordlüsterne, geistesgestörte Psychopathen geworden.

Sie drückte den Knopf und holte tief Luft. Hoffentlich war dies heute nicht der Fall. »Die Security wird jede Minute hier sein.«

Der alte Mann riss seinen Kopf herum, einen flehenden Ausdruck in seinen Augen. »Erkennst du mich denn nicht wieder?«

»Sollte ich das?«

Welche Reaktion sie auch immer erwartet hatte, es war nicht die, die sie bekam. Statt ihre Frage zu beantworten, sackte der Mann wirr murmelnd auf dem Boden zusammen. Mit seiner rechten Hand griff er zittrig in die Falten seiner Jacke.

Del hämmerte nun mehrfach auf den Alarmknopf ein.

Wo zum Teufel bleibt der Sicherheitsdienst?

Entsetzt sah sie, wie der Mann etwas Sperriges aus seiner Jacke zog.

Eine Waffe?

Wie aus dem Nichts stürmten zwei bewaffnete Wachmänner in den Raum.

Dann brach die Hölle los.

Im einen Moment stand sie noch hinter ihrem Schreibtisch. Im nächsten lag sie auf dem Boden – und Peter Cavanaugh auf ihr.

In der Erwartung, dass jeden Augenblick Schüsse fallen könnten, wartete sie und hielt den Atem an. Nichts. Stattdessen waren polternde Geräusche und ein paar ächzende Laute zu hören.

Schließlich rief einer der Wachmänner: »Wir haben ihn, Professor.«

Del atmete erleichtert auf.

»Alles okay?«, fragte Peter, sein unschuldiges, jungenhaftes Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt.

Sie stöhnte. »Äh, Mr. Cavanaugh? Die Security hat ihn unter Kontrolle, Sie können jetzt wieder von mir herunter – Sie erdrücken mich.«

Peters Gesicht nahm den köstlichen roten Farbton eines Hummers an.

»Wollte nicht, dass Sie angeschossen werden«, murmelte er und half ihr zurück auf die Beine.

Sie klopfte ihre Kleidung ab und blickte zur Tür.

Der Sicherheitsdienst schleppte den Eindringling hinaus in den Flur.

Plötzlich hörte sie den Mann rufen: »Delly! Ich bin’s!«

Nur ein einziger Mensch hatte sie je Delly genannt.

»Halt!«

Sie lief aus dem Hörsaal zu ihm.

»Ich habe sie gesehen«, zischte er mit wildem Blick. »Ich habe die Zukunft gesehen … keine Menschen … Monster!«

»Professor Schroeder?«, wisperte sie. »Sind Sie das?«

Der alte Mann sah sie eindringlich an. »Du musst den Direktor aufhalten, Delly!«

Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter. »Den Direktor von was? Professor, wir dachten, Sie wären tot. Sie, mein Vater, die anderen Männer …«

Schroeder beugte sich näher zu ihr. »Sie werden deinen Vater töten, Delly.«

»Er – er lebt?«

»Fürs Erste. Die miesen Dreckskerle haben ihn. Du musst die Zelle zerstören. Ich weiß, wie man hineingelangt. Zum geheimen Fluss. Ich weiß, wie man hineingelangt … und wieder heraus.«

»Professor Hawthorne«, mahnte einer der Wachmänner. »Wir müssen ihn nach unten bringen.«

Auf halbem Wege riss Schroeder seinen Kopf noch einmal herum.

»Folge deinem Herzen, Delly. Und denke daran … nur einem

Die Wachmänner schleiften ihn halb in den Aufzug.

»Professor Schroeder!«, schrie sie. »Von was reden Sie da?«

Seine müden braunen Augen loderten auf. Wild und ungezähmt, wie bei einem Fuchs, der in der Falle sitzt.

»Es steht alles im Buch. Zerstöre die Zelle, Delly. Finde den Fluss und halte den Direktor auf, bevor er die Menschheit vernichtet.«

Die Türen des Aufzugs schlossen mit einem zischenden Geräusch.

Del lehnte sich gegen die Wand vor ihrem Klassenzimmer. Ihre Beine schmerzten und zitterten. Als alles vor ihr zu verschwimmen begann, schloss sie ihre Augen und hieß die Dunkelheit willkommen.

Sie werden ihn töten, Delly.

War ihr Vater wirklich noch am Leben?

Jemand nannte ihren Namen. Peter.

Er stand neben ihr und hielt etwas gegen seine Brust gedrückt. Was es auch immer war, er hielt es so fest, als lägen die Schätze der ägyptischen Pharaonen in seinen Händen.

»Das hat er fallen lassen«, sagte er und reichte ihr ein Buch. »Danach hat der alte Kerl gegriffen. Sind Sie in Ordnung, Professor?«

Sie nickte. »Bis morgen, Peter.«

Del kehrte in den leeren Hörsaal zurück, zog die Tür fest hinter sich zu und schloss ab. Sie schaffte es gerade noch durch den Raum, bevor ihre Beine unter ihr nachgaben. Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen, atmete ein paar Mal tief durch und griff dann nach dem ledergebundenen Buch, das Peter ihr gegeben hatte.

Der Einband war verschmutzt und ging stellenweise ab. Er war völlig leer, bis auf ein leicht erhabenes Symbol, das man nur schlecht erkennen konnte.

Ein Kreuz vielleicht.

Sie zeichnete das Symbol mit dem Finger nach.

Professor Schroeder, was ist Ihnen nur zugestoßen?

Arnold Schroeder war ein renommiertes Anthropologie-Genie. Wann immer er Dels Vater besucht hatte – und er hatte ihn oft besucht – hatte er Del unter seine Fittiche genommen und ihr etwas Neues beigebracht. Er war der Grund, weshalb sie an der University of British Columbia Anthropologie lehrte. Schroeder war ihr Vorbild gewesen.

Nach Dad natürlich.

Del schlug das Notizbuch so vorsichtig auf, dass ihre Fingerspitzen es kaum berührten. Sie blätterte durch die Seiten, las hier und da ein paar Sätze und versuchte, aus Schroeders Notizen schlau zu werden. Die meisten der Einträge im Notizbuch schienen in einer Art Code geschrieben zu sein und es war fast unmöglich, sie zu entziffern. Gerade wollte sie das Buch wieder niederlegen, als ihr ein Name auf einer der Seiten ins Auge sprang.

Dr. Lawrence V. Hawthorne.

Direkt unter den Namen ihres Vaters war ein Datum gekritzelt.

Januar 2001.

Ihre Hand begann zu zittern.

2001?

Sie riss eine Schublade auf und wühlte darin herum.

Schließlich fand sie, wonach sie gesucht hatte – ein Foto, das sieben Jahre zuvor, 1998, aufgenommen worden war. Es zeigte ihren Vater und Professor Schroeder Seite an Seite in Jeans, T-Shirts und mit albernen Fischerhüten. Sie hatten ein ansteckendes Grinsen auf den Gesichtern, als ob sie über irgendeinen Insiderwitz lachten. Das Foto wurde am selben Tag aufgenommen, an dem ihr Vater, Schroeder und zwei Mitarbeiter zum Abenteuer ihres Lebens aufgebrochen waren.

Im Sommer ’98 schlug ein neuer Praktikant bei Bio-Tec Kanada, dem Unternehmen, für das auch Dels Vater tätig war, eine Raftingexkursion auf dem Nahanni River in den Northwest Territories vor. Der Praktikant machte es ihrem Vater mit alten Legenden über unentdecktes Gold und kopflose Skelette und Leichen, die die Flussufer säumten, schmackhaft. Ihren Vater packte die Vorstellung, einen der spektakulärsten Orte Kanadas zu erforschen, und er überzeugte Schroeder und seinen Chef, sie zu begleiten.

Drei Tage später verschwanden die vier Männer spurlos.

Ein Suchtrupp wurde den Nahanni hinuntergeschickt und die Ermittler fanden ein paar Meilen weiter flussabwärts von Virginia Falls ein kopfloses Skelett. Der Großteil der Gebeine war von wilden Tieren abgefressen worden und die Knochen waren stark verwittert, doch ein Forensikexperte konnte die Leiche identifizieren.

Es war Neil Parnitski, Geschäftsführer von Bio-Tec Kanada.

Von Dels Vater jedoch fehlte jede Spur … so auch von den anderen Männern.

Eine Woche später fand das Suchteam ein blutiges Hemd am Ufer sowie Kopfhautgewebe an einem unweit davon gelegenen Felsen. DNA-Tests ergaben, dass ein Großteil des Blutes ihrem Vater zugeordnet werden konnte, während das Gewebe von Schroeder stammte. Die Ermittler betonten auch, dass aufgrund der erheblichen Menge Blutes, die gefunden wurde, nicht einmal ein Arzt ohne medizinische Hilfe hätte überleben können. Sechs Monate später waren die Ermittlungen eingestellt worden und der letzte Vermisste für tot erklärt.

Del strich über das Foto ihres Vaters.

Sie werden ihn töten, Delly.

Schroeders Worte hallten in ihrem Kopf wider und sie konnte das beklemmende Gefühl einfach nicht abschütteln, das ihr allmählich unter die Haut kroch und jede Zelle ihres Körpers packte. Sie starrte durch das Fenster in den dunkelnden Nachthimmel und dachte an den Tag, als ihre Mutter ihr die Nachricht überbrachte, dass ihr Vater, nur wenige Monate nach seinem Verschwinden, für tot erklärt worden war. Sie erinnerte sich an die Beerdigung eine Woche später zurück, wie sie im strömenden Regen vor einem schwarzen, gähnenden Loch stand, und ein leerer Sarg in den schlammigen Boden gesenkt wurde. Die Beerdigung hatte nur drei Tage vor ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag stattgefunden – ein Geburtstag, der ohne großes Trara gekommen und wieder gegangen war.

Del hatte danach nie wieder irgendeinen ihrer Geburtstage gefeiert. Zu viele Erinnerungen.

Nun, da sie das Foto ihres Vaters anstarrte, kamen all der Schmerz und die Trauer, die sie sieben Jahre zuvor gefühlt hatte, mit voller Wucht zurück.

Sie werden ihn töten, Delly.

***

Es war bereits nach acht, als Del an ihrem kleinen Zuhause in Port Coquitlam ankam. Sie parkte ihr Auto unter dem Carport, nahm ihre Aktentasche und ging ins Haus.

»Schatz, ich bin zu Haaause!«

Eine übergewichtige, braun melierte Siamkatze mit nur einem Ohr schoss wie ein Pfeil auf sie zu und rieb sich ungeduldig mit einem schwermütigen Miauen an ihrem Bein.

»Oh, Kayber! Tu nicht so, als würde ich dich nie füttern!«

Del hatte die Katze fünf Monate zuvor in ihrem Garten gefunden. Voller Prellungen und Kratzwunden, und mit einem rechten Ohr, das nur noch an einem dünnen Stück Haut gehangen hatte, machte er den Eindruck, als wäre er in eine Kneipenschlägerei verwickelt gewesen – und hätte den Kürzeren gezogen. Sie hatte ihn vom Fleck weg adoptiert, wobei sie sich aber oft die Frage stellte, ob es nicht eher umgekehrt der Fall war.

Sie warf ihre Aktentasche auf das Sofa, ging in die Küche, streute etwas Katzenfutter in einen Napf und stellte ihn auf den Boden. Dann nahm sie auf dem Sofa Platz, stocherte in den Überresten eines Makkaroniauflaufs herum und schlürfte eine Tasse Vanilletee.

Ihr Blick wanderte über die Fotos auf dem Sims ihres Ziegelkamins und zahlreiche Erinnerungen schossen ihr durch den Kopf. Erinnerungen an gute Zeiten, glückliche Zeiten. Zeiten, als ihr Vater noch am Leben war; bevor er verschwand und eine gähnende Leere in ihrem Leben hinterließ.

Sie stellte den halb leer gegessenen Teller Makkaroni auf den Couchtisch, zog das Notizbuch aus ihrer Aktentasche und fing an, es durchzublättern. Als sie auf eine Seite voller seltsamer Begriffe, Abkürzungen, Zahlen und Symbole stieß, hielt sie inne.

NB … RESISTENT GEGEN … ≠

DC #02541-87654-18 BEW. BASIS … HSZ & SYN. GRF IN

V. SALZ-LSG … GN.

Mehrfach fand sie auch Hinweise auf ihren Vater, verstand aber den Inhalt nicht. Ziemlich weit am Anfang des Buches gab es Seite um Seite reihenweise Zahlencodes. Nach einer Stunde hatte sie gerade einmal ein Drittel des Buches überflogen, als sie einen merkwürdigen Eintrag entdeckte.

BIO-T KAN … SCHLÜSSEL!

Sie zog scharf den Atem ein.

Bio-Tec Kanada?

Ihr Vater hatte für Bio-Tec gearbeitet. Warum hatte Schroeder das notiert? Außer zu Dels Vater, Neil Parnitski und dem Praktikanten hatte Schroeder nie Kontakt zu Bio-Tec gehabt. Er war Anthropologe. Bio-Tec war ein Forschungsunternehmen, spezialisiert auf Biotechnologie.

Del war perplex.

 

Sie schob das Buch beiseite und knipste mit der Fernbedienung in Richtung ihres CD-Players. Als Alexia Melnychuks weiche Stimme im Raum erklang, rekelte sich Del auf der Couch und schloss die Augen.

Kayber, der inzwischen gierig sein Futter hinuntergeschlungen hatte, fasste dies augenblicklich als Einladung auf und sprang hoch auf ihren Bauch. Und seine gesamten zehn Kilo mit ihm.

»Was ist heute nur los, dass alle Kerle meinen, sich auf mich schmeißen zu können?«

Sie musste an Peter Cavanaugh mit seinem Tobey-Maguire-Gesicht denken und unweigerlich lächeln. Es war sein erstes Studienjahr, doch er hatte zu viele Vorlesungen verpasst, da er sich um seine kränkliche Großmutter hatte kümmern müssen. Leider hatte er für die zwei Semester deshalb nur ein ‚unvollständig’ eingetragen bekommen und nahm nun an ihren Sommervorlesungen teil.

Er war zehn Jahre jünger, unglaublich schüchtern und ein kleiner Eigenbrötler – außer, wenn er in Dels Nähe war. Er war ernsthaft in sie verknallt. Sie wusste es. Gott, alle wussten es. Die halbe Fakultät dachte, sie würde mit ihm schlafen, doch das stimmte nicht. Sie war nicht so eine. Im Gegensatz zu ihrer Mutter gehörte sie nicht zu dieser Sorte Frauen, die hinter erheblich jüngeren Männern herjagte.

Del schubste Kayber kurzerhand zur Seite, griff nach dem Telefon und wählte die Nummer ihrer Mutter. Es läutete mehrmals, als schließlich jemand abhob.

»Ja? W-Wer’s dran?«

Ken, die neuste Eroberung und dritter Ehemann ihrer Mutter, hatte wieder getrunken.

Das hat man davon, wenn man den Besitzer eines Nachtklubs ehelicht.

»Ist meine Mutter auch da?«

»Wozu brauchsu sie?«

»Gib sie mir einfach, Ken.«

Sie lauschte, während der Gatte ihrer Mutter durch das Haus stolperte. Er ließ das Telefon fallen und fluchte laut. Auch Del fluchte, als das Geräusch des Aufpralls in ihren Ohren schallte.

»Hallo?«

Herrgott! Warum dauert das so lange? Ist er aus den Latschen gekippt?

Immer noch wartend hörte sie leise, schlurfende Geräusche. Gerade wollte sie auflegen, als die kühle Stimme ihrer Mutter sie begrüßte.

»Maureen Walton.«

»Hi, ich bin‘s.«

»Wer?«

»Delila, Mutter.«

Gnade dir Gott, wenn du vergisst, dich vorzustellen!

Sie konnte es nicht glauben, dass ihre Mutter noch immer diese Masche abzog. Diese Frau war die Formalität in Person. Gute Manieren und Etikette, Leuten die Hand geben, ältere Herrschaften mit ihrem Nachnamen ansprechen und ein Haus haben, das mehr zur Schau als zum Wohnen diente. Dies alles war Teil ihres Versuchs, die nächste Frau Knigge zu werden; oder, Gott bewahre, Martha Stewart.

»Delila, ich habe seit Wochen keinen Ton von dir gehört. Warum bist du nicht vorbeigekommen?«

Del zuckte zusammen, als sie sich an ihren letzten Besuch erinnerte. Den letzten Besuch, als Ken versucht hatte, sie anzugrabschen, als sie im Flur an ihm vorbeiging.

»Ich war beschäftigt.«

»Zu beschäftigt, um deine eigene Mutter zu besuchen?«

Na toll! Da haben wir den Salat.

»Als du mit Grippe und Fieber im Bett gelegen hast, war ich da zu beschäftigt, um dir ein paar Zeitschriften vorbeizubringen?«

In der Stimme ihrer Mutter war Missbilligung zu hören.

»Und als du mit diesem Tyler, oder wie auch immer er heißt, abgehauen bist – war ich da zu beschäftigt, um dieses verlauste Vieh zu füttern?«

Del hielt den Hörer von ihrem Ohr weg und warf Kayber einen reumütigen Blick zu. »Sie wird dir nie verzeihen, dass du in ihre Schuhe gepinkelt hast.«

Um Dampf abzulassen, ließ sie ihrer Mutter ein paar Minuten und hielt dann das Telefon wieder zurück ans Ohr.

Was konnte sie nur erzählen, damit die Frau endlich zu Reden aufhörte?

»Dad … er lebt.«

Am anderen Ende war ein kurzes Keuchen zu hören, gefolgt von Stille.

»Nun, das hat gesessen«, bemerkte sie trocken zu Kayber, der geschäftig seine Fellpflege betrieb.

Sie drückte ihr Ohr fest an den Hörer.

Stille.

»Mutter, bist du noch dran?«

»Natürlich, Delila. Was soll dieser Unsinn mit deinem Vater?«

»Ich hatte heute Besuch. Es war Professor Schroeder.«

»Arnold? Das ist unmöglich, Schatz. Sie fanden einen Teil seines Kopfes.«

»Seines Skalps.«

»Was?«

Del biss genervt die Zähne aufeinander. »Sie fanden ein Stück seines Skalps, Mutter. Und ein paar Haare, das ist alles.«

»Wie auch immer. Er war tot und wurde zusammen mit Neil, Vern und deinem Vater vor sechs Jahren beerdigt.«

Del widerstand dem Drang, sie ein weiteres Mal zu verbessern. Es waren sieben Jahre.

»Vern?«

»Ja, Schatz, der junge Mann. Der Assistent deines Vaters oder was er auch immer war. Zumindest glaube ich, dass er Vern hieß. Oder hieß er vielleicht Victor …«

Die Stimme ihrer Mutter klang abwesend, gedankenverloren.

»Professor Schroeder behauptet felsenfest, dass Dad noch am Leben ist. Er hat mir ein Notizbuch mit einigen seltsamen Aufzeichnungen gegeben. Dads Name …«

»Arnold war schon immer ein komischer Vogel, Delila. Ich würde nicht zu viel auf das geben, was er so von sich gibt. Weiß Gott, wo er die ganze Zeit gesteckt hat.«

»Ich werde ihn zurückbringen, Mutter.«

Eine kurze Pause am anderen Ende.

»Arnold?«

»Nein. Dad.«

»Das kann nicht dein Ernst sein, Delila. Er ist tot!«

»Das ist mein Ernst. Ich bringe Dad wieder nach Hause.«

Sie legte auf, einerseits erleichtert, andererseits verärgert.

Warum war ihre Mutter nur so herzlos? Ihre Eltern waren fast dreißig Jahre verheiratet gewesen. War das denn überhaupt nichts wert? War es der Frau denn völlig egal, dass ihr Ehemann noch immer am Leben sein konnte? Oder wollte ihre Mutter einfach nicht, dass ihre kleine heile Welt plötzlich in sich zusammenbricht?

Del zog ein finsteres Gesicht.

Sie war die Letzte, die von sich behaupten konnte, eine Expertin in Beziehungsangelegenheiten zu sein. Man denke nur, wie lange sie gebraucht hatte, um zu erkennen, das TJ sie betrog. Er war in ihr Haus und ihr Herz gezogen … und hatte beide betrogen.

Niemals würde sie den Tag vergessen, als sie früher nach Hause gekommen war, mit schmerzenden Füßen und sich nach ihrem Bett sehnend – nur, um vorzufinden, dass es schon anderweitig belegt war.

Ihre Nachbarin, Julie Adams, hatte immer gefragt, ob denn wohl die Gerüchte wahr seien, die sich um die Libido eines schwarzen Mannes und die Größe eines ganz bestimmten Teiles seiner Anatomie rankten. Tja, sie hatte es herausgefunden.

Del hatte TJ noch am selben Tag vor die Tür gesetzt.

Mit einem Schulterzucken schüttelte sie die düstere Stimmung ab, die sie zu überkommen drohte, und tätschelte Kayber flüchtig am Kopf. Mit dem Notizbuch und ihrer Aktentasche in den Händen begab sie sich in ihr großes, zweites Schlafzimmer, das gleichzeitig als Büro diente. Sie knipste die Lampe an und wurde sogleich von einem Berg Sommerabschlussprüfungen begrüßt, die danach riefen, benotet zu werden.

Sie stießen jedoch auf taube Ohren. Del schob sie zur Seite, öffnete ihre Aktentasche und zog ein leeres Notizbuch heraus. Ganz oben auf die erste Seite schrieb sie sich eine Erinnerungsnotiz:

Herausfinden, wo Schroeder ist. Ihn besuchen!

Dann versuchte sie sich daran, Schroeders Notizbuch zu übersetzen.

Eine Stunde später gab sie schließlich auf, die hastig gekritzelten Notizen und seltsamen Zahlen zu entschlüsseln. Als sie nach der Korrektur ihrer Examen schließlich ins Bett schlüpfte, war es bereits nach Mitternacht.

Schatten tanzten durch das Zimmer, als sie im Dunkeln lag und sich ihren Vater so vorstellte, wie sie ihn in Erinnerung behalten hatte. Groß, mit goldbraunem Haar und tiefbraunen Augen. Er war immer fröhlich, hatte immer ein Lächeln auf den Lippen.

Sie schloss ihre Augen, die Wimpern feucht von unvergossenen Tränen.

Ich komme, Dad.

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