Skizzen aus dem Londoner Alltag

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Perspektive, Sandwiches und Grog (warm und kalt) werden nun sehr in Requisition gesetzt, und die blöden Leute, welche durch die Lucke zur Maschine hinabgesehen haben, sind nun sehr froh, endlich einen Gegenstand gefunden zu haben, über den sie mit Jemand sprechen können – und dazu noch einen sehr reichhaltigen Gegenstand – nämlich den Dampf.

»Wunderbares Ding, der Dampf, Sir.« – »Ja! (tiefer Seufzer) Allerdings, Sir.« – »Große Gewalt, Sir.« – »Ungeheuer – ungeheuer!« – »Viel geleistet durch Dampf, Sir,« – »Ja! (ein abermaliger Seufzer, um damit die ungeheure Großartigkeit des Gegenstandes zu bezeichnen, und pfiffiges Kopfschütteln) das darf man wohl sagen, Sir.« – »Und noch in seiner Kindheit, wie man sagt, Sir.« Diese und andere dergleichen neue Beobachtungen und Bemerkungen bilden gewöhnlich die Eröffnung einer Unterhaltung, die bis zum Schlusse der Fahrt dauert, und vielleicht den Grund zu einer oberflächlichen Bekanntschaft zwischen einem halben Dutzend Herren legt, welche, da ihre Familien in Gravesend wohnen, Saisonbillete genommen haben, und regelmäßig jeden Nachmittag an Bord speisen.

1 Genever: Gin

Eilftes Kapitel
Astley's Cirkus.

Nie sehen wir so einen großen, steifen, schwarzen, römischen Anfangsbuchstaben in einem Buche, an einem Ladenfenster, oder auch auf einem Mauerplakate, ohne daß er augenblicklich eine unbestimmte und verworrene Rückerinnerung an jene Zeit in uns hervorriefe, wo wir zuerst in die Mystereien des Alphabetes eingeweiht wurden. Wir bilden uns fast ein, noch die Nadel in der Hand der Lehrerin zu sehen, womit sie den Buchstaben zu folgen pflegte, um ihre Form unserer verwirrten Einbildungskraft noch fester einzuprägen, und stampfen unwillkürlich auf den Boden, wenn wir uns der harten Knochenfinger erinnern, mit denen die ehrwürdige alte Dame, die uns die ersten Grundsätze der Erziehung für wöchentlich neun Pence oder vierteljährig zehn Shilling und sechs Pence beibringen sollte, gewohnt war, unser jugendliches Haupt gelegentlich zu klopfen, um die konfusen Ideen, mit denen es gewöhnlich angefüllt war, in Ordnung zu bringen. Ein ähnliches Gefühl drängt sich uns in vielen anderen Fällen auf, aber es gibt keinen Ort, der die Rückerinnerung an unsere Kindheit uns so genau hervorzurufen vermöchte, als »Astley's Cirkus.« Damals gab es noch kein »königliches Amphitheater«: ebensowenig war bereits ein Ducrow aufgestanden, um das Licht klassischen Geschmacks und portablen Gases über die Sägespäne des Cirkus zu verbreiten; allein der Charakter des Platzes war im Ganzen derselbe – die Stücke des nämlichen – die Späße des Bajazzo ebenfalls – die Stallmeister waren eben so großartig – die Komiker eben so witzig – die Tragiker eben so heiser – und die wohlgearbeiteten Rosse mit demselben Geiste beseelt. Astley's Cirkus hat sich zu seinem Besten verändert, wir dagegen sind schlechter geworden. Unser theatralischer Geschmack ist dahin; und mit Scham müssen wir es gestehen, daß uns jetzt die Zuschauer weit mehr Spaß und Unterhaltung machen, als der Prunk, welchen wir einst so hoch schätzten.

Wir wollen einmal eine gewöhnliche Astley's-Gesellschaft an einem Oster- oder Johannisfeiertage beobachten: – Pa' und Ma', und neun bis zehn Kinder von fünf Fuß sechs Zoll bis zu zwei Fuß eilf Zoll herab, zwischen vierzehn und vier Jahren. Wir hatten gerade eines Abends unsern Sitz in einer Mittelloge eingenommen, als die nächste Loge genau von einer solchen Gesellschaft besetzt wurde, wie wir sie geschildert haben würden, wenn wir unser beau ideal einer Gruppe von Astley's-Besuchen abgezeichnet hätten.

Voran gingen drei kleine Knaben und ein kleines Mädchen, welchen Pa' – in sehr vernehmlicher Stimme unter der Logenthüre – die Anweisung ertheilte, die Vorderbank einzunehmen; dann wurden zwei kleinere Mädchen von einem jungen Frauenzimmer – augenscheinlich der Gouvernante – hereingeführt. Hierauf kamen abermals drei kleinere Knaben – gleich den ersten in blauen Jacken und dergleichen weiten Beinkleidern, mit übergeschlagenen Hemdkrägen – dann wurde ein Kind in einem langen Spitzenröckchen, das alle Zeichen des Staunens von sich gab und seine großen runden Augen so weit als möglich aufriß, über die Bänke herüber gehoben, wobei seine kleinen rothen Beinchen bedeutend zum Vorschein kamen; – endlich Ma' und Pa' und zuletzt der älteste Sohn, ein Junge von etwa vierzehn Jahren, der sich offenbar das Ansehen gab, als ob er gar nicht zu der Familie gehörte.

Die ersten fünf Minuten gingen darüber hin, den kleinen Mädchen die Shawls abzunehmen und ihre Haarschleifen in Ordnung zu bringen. Der sorgsamen Frau Mama entging es nicht, daß einer der kleinen Knaben hinter einem Pfeiler saß, wo er nichts sehen konnte: daher mußte sich die Gouvernante bequemen, hinter den Pfeiler zu kriechen und der Knabe wurde auf ihren Platz gehoben; dann musterte Pa' die Knaben und wies sie an, ihre Taschentücher einzustecken, und nachdem Ma' zuvor der Gouvernante mit Nicken und Winken angedeutet hatte, den Mädchen ihre Kleider mehr über die Schultern herab zu ziehen, erhob sie sich nun auch, um die kleine Truppe Revue passiren zu lassen – eine Inspektion, die ganz zu ihrer Befriedigung auszufallen schien, denn sie sah mit wohlgefälliger Miene auf Pa', der an dem andern Ende des Sitzes stand. Pa' gab den Blick zurück und blies mit vieler Emphase die Naslöcher auf; die arme Gouvernante aber guckte hinter dem Pfeiler hervor und suchte Ma's Augen, mit einem Ausdruck, der ihre Bewunderung für die ganze Familie aussprach. Zwei von den kleinen Knaben, die sich darüber in Erörterungen eingelassen hatten, ob Astley's Cirkus mehr als zweimal so groß als Drury Lane wäre, vereinigten sich endlich darüber, es »George« zur Entscheidung vorzulegen, worüber »George« – der kein anderer als der vorerwähnte junge Gentleman war – sehr ungehalten wurde und ihnen nicht gerade in den artigsten Ausdrücken zu verstehen gab, wie es höchst unschicklich wäre, seinen Namen mit so lauter Stimme an einem öffentlichen Orte zu rufen, worüber alle Kinder recht herzlich lachten und einer der kleinen Knaben der Meinung war, »George fange an, sich schon völlig für einen Mann zu halten,« wozu Pa' und Ma' selbst lachten. George (der einen Spazierstock trug und einen Bart zu cultiviren strebte) murmelte, »daß William stets noch in seiner Unverschämtheit bestärkt würde,« und nahm eine Miene tiefer Verachtung an, die er auch den ganzen Abend über beibehielt.

Die Vorstellung begann und das Interesse, welches die kleinen Knaben daran nahmen, war gränzenlos; Pa' interessirte sich augenscheinlich nicht minder dafür, obschon er sich – jedoch ohne Erfolg – viele Mühe gab, gleichgültig zu erscheinen. Was Ma' anbelangt, so war sie vollkommen außer sich über die Possen des Hauptcomödianten und lachte, daß die ungeheuren Schleifen auf ihrem großen Hute zitterten, worauf die Gouvernante abermals hinter ihrem Pfeiler hervorschielte und, so oft sie Ma's Blicken begegnen konnte, ihr Taschentuch vor den Mund nahm, um pflichtschuldigst ebenfalls in Lachkrämpfe auszubrechen. Als der Mann in dem glänzenden Waffenschmuck schwur, die Dame zu befreien, oder dabei unterzugehen, applaudirten die kleinen Knaben aus Leibeskräften, besonders ein kleines Kerlchen, das dem Anschein nach bei der Familie auf Besuch war und die ganze Zeit über mit einer kleinen Kokette von zwölf Jahren charmirt hatte, die ganz das Modell ihrer Mama in verjüngtem Maßstabe war. Sowohl sie, als die andern kleinen Mädchen, welche im Allgemeinen sogar mehr Koketterie besitzen, als viele ältere – waren ganz besonders erbost, als des Ritters Schildknappe die Kammerzofe der Prinzessin küßte.

Als die Vorstellungen im Cirkus begannen, stieg die Lust der Kinder auf's Höchste, und die Begierde, das, was vorging, genau zu sehen, trug über Pa's Gravität einen so vollständigen Sieg davon, daß er sich in der Loge erhob und eben so laut, als irgend Einer, applaudirte. So oft ein Reiterkunststück vorüber war, bog sich die Gouvernante nach Ma' herum und ließ sich von den Kindern ihre munteren Bemerkungen über das, was vorgegangen war, wieder erzählen, – und Ma' bot der Gouvernante in ihrer Freigebigkeit ihr Riechfläschchen an. Die Gouvernante, schon damit zufrieden, daß man nur Notiz von ihr genommen, zog sich wieder mit verklärtem Gesicht hinter ihren Pfeiler zurück, und die ganze Gesellschaft schien äußerst glücklich zu sein, mit einziger Ausnahme des Vortrefflichsten, der im Hintergrunde der Loge stand. Zu erhaben, sich um die Kinder zu bekümmern, und zu bedeutend, als daß sich Jemand um ihn bekümmert hätte, beschäftigte er sich damit, von Zeit zu Zeit an dem Orte, wo der Bart sein sollte, zu reiben, und stand in seinem Glanz völlig allein.

Wir fordern einen Jeden auf, der zwei- oder dreimal bei Astley's gewesen und demnach im Stande ist, die Beharrlichkeit zu würdigen, mit der genau dieselben Scherze, Abend für Abend und Saison für Saison, wiederholt werden, ob er nicht wenigstens durch einen Theil der Darstellungen unterhalten worden – nämlich durch die Scenen im Cirkus.

Wir unserer Seits gestehen gerne, daß wir, wenn der Kronleuchter mit seinen Gasstrahlen herabgelassen und der Vorhang aufgezogen ist, damit die außerhalb des Kreises Sitzenden um den halben Preis auch etwas sehen, und wenn die Orangenschalen aufgelesen und die Sägespähne mit mathematischer Genauigkeit in einen vollkommenen Zirkel ausgebreitet sind, uns in dieselbe heitere Stimmung versetzt fühlen, wie das jüngste Kind, und stimmen gewiß mit in das Lachen ein, das auf des Bajazzo's gellendes Geschrei »da bin ich!« folgt, wäre es auch nur um der alten Bekanntschaft willen. Wir können uns sogar unseres früheren Gefühls von Ehrfurcht gegen den Stallmeister nicht ganz erwehren, der dem Bajazzo mit einer langen Peitsche folgt, und mit würdevoller Grazie vor den Zuschauern seine Verbeugung macht. Hier ist aber von keinem unserer untergeordneten Stallmeister in Nankinröcken mit braunen Borten die Rede, sondern von dem wirklichen Stallmeister, der die ersten Reiter während ihrer Produktionen zu Fuß begleitet, stets eine auf der Brust mit einem Tischtuche wattirte Militärsuniform trägt und in diesem Costüme unwillkürlich an einen zum Braten hergerichteten Vogel erinnert. Er ist – aber warum wollten wir etwas beschreiben, von dem keine Feder auch nur eine annähernde Idee geben kann? Jedermann kennt ihn, und Jedermann erinnert sich seiner blank gewichsten Stiefeln, seines graziösen Wesens (einige Uebelwollende sind so bösartig, es steif zu nennen), des herrlichen Kopfes mit den schwarzen über der Stirne hoch gescheitelten Haaren und des Antlitzes mit der Miene tiefsten Denkens und poetischer Schwermuth. Dazu steht seine sanfte, angenehme Stimme im vollkommenen Einklange mit seinem noblen Benehmen, wenn er sich mit dem Bajazzo abgibt, und sich herabläßt, seinen Scherz mit ihm zu treiben; und die Art, wie er sich plötzlich im wiedererwachten Gefühl seiner Würde zusammennimmt und ausruft: »Nun, Monsieur Bajazzo, ist es Ihnen gefällig sich zu erkundigen, ob Miß Woolford bald kommt?« wird Jedermann ewig unvergeßlich sein. Der edle Anstand, mit dem er dann Miß Woolford in den Cirkus einführt, und wenn er ihr in den Sattel geholfen, ihrem fee'nhaften Renner rings im Kreise folgt, kann und wird gewiß nie verfehlen, einen tiefen Eindruck in dem Busen jedes anwesenden Dienstmädchens zu hinterlassen.

 

Wenn nun Miß Woolford und das Pferd und das Orchester, alle mit einander Athem schöpfen, so läßt er sich zu einem Dialog mit dem Bajazzo herab, ungefähr wie folgt: – (Bajazzo fängt an) »Herr Patron!« – »Nun, Monsieur Bajazzo?« (stets mit größter Höflichkeit) – »Wissen Sie wohl auch, daß ich in der Armee gedient habe, Herr Patron?« – »Nein, Monsieur Bajazzo.« – »Freilich hab' ich das, Herr Patron; ich kann auch exerciren.« – »Wirklich, Monsieur Bajazzo?« – »Soll ich es Ihnen etwa vormachen, Herr Patron?« – »Wenn Sie Lust dazu haben, Monsieur Bajazzo; lustig, – machen Sie!« (ein Hieb mit der langen Peitsche, und ein »da bedanke ich mich! – das ist nicht meine Liebhaberei!« von Seite des Hanswurstes.)

Nun wirft er sich auf den Boden und macht eine Menge gymnastischer Wendungen, krümmt sich ganz zusammen und wickelt sich wieder auf, macht schreckliche Grimassen, wie einer, der die fürchterlichsten Schmerzen hat, alles zum lauten Ergötzen der Gallerie, bis er durch einen abermaligen Hieb mit der langen Peitsche unterbrochen wird und den Auftrag erhält, nachzusehen »was Miß Woolford wünsche?« Jetzt schreit er zur unaussprechlichen Freude der Gallerie: »Nu, Miß Woolford, nach was darf ich gehen? was darf ich holen? was darf ich bringen? was darf ich suchen? was darf ich tragen, Ma'am?« Auf die mit bezauberndem Lächeln ausgesprochene Bitte der Dame, daß sie die beiden Fahnen wünsche, holt und überreicht er diese unter allerlei Grimassen; und wenn diese Ceremonie beendigt ist, bemerkte der Bajazzo witzig: – »he, he! o Herr Patron, Miß Woolford kennt mich; sie hat mich angelacht.« Abermals ein Hieb mit der Peitsche – das Orchester bricht auf einmal los – das Pferd bäumt sich, und Miß Woolford beginnt wieder ihren Rundritt mit aller Grazie – zum Entzücken sämmtlicher Zuschauer, jung und alt. Bei der nächsten Pause gibt es wieder Gelegenheit zu ähnlichen Witzen, wozu blos noch die weitere Posse kommt, daß, so oft Bajazzo gegen den Stallmeister drollige Grimassen macht, er ihm jedesmal den Rücken zuwendet; und wenn er endlich den Cirkus verläßt, springt er über seinen Kopf weg, nachdem er vorher seine Aufmerksamkeit anders wohin zu richten gewußt hat.

Hat einer unserer Leser wohl je die Classe von Leuten bemerkt, welche sich den Tag über unter den Thüren unserer kleinen Theater aufhalten? Selten wird man vorübergehen, ohne eine Gruppe von drei bis vier Menschen, die sich auf der Straße mit unbeschreiblicher Aufgeblasenheit, wie man sie kaum in den Gesellschaftszimmern der Gasthäuser trifft, und mit der wegwerfenden Miene des Bewußtseins ihrer Wichtigkeit, welche Leuten dieser Gattung so eigenthümlich ist, unterhalten. Sie scheinen stets zu glauben, sie seien auf der Bühne; sie sehen immer die Lampen vor sich. Jener junge Bursch in dem abgetragenen braunen Rocke und den ungeheuer weiten hellgrünen Beinkleidern trägt die Manschetten seines blau gestreiften Hemdes so prahlerisch zur Schau, als ob sie vom feinsten Linnen wären, und stülpt den weißen Hut vom vorletzten Sommer so zuversichtlich über das rechte Auge, als wenn er ihn erst gestern gekauft hätte. Man betrachte die schmutzigen weißen Berliner Handschuhe und das ärmliche seidene Taschentuch, das aus dem Busen seines knappen Rockes hervorsieht. Kann man ihn auch nur einen Augenblick ansehen, ohne zu der Ueberzeugung zu gelangen, daß er derselbe herumwandernde Gentleman ist, der eine halbe Stunde lang einen blauen Oberrock, eine weiße Halsbinde und Beinkleider trägt, um dann wieder in seine abgetragenen dürftigen Kleider zu kriechen; der Abend für Abend von seinem großen Reichthum spricht – mit dem peinlichen Bewußtsein, daß er wöchentlich nur ein Pfund zu verzehren und seine Stiefel selbst zu putzen hat; der von seines Vaters Landhaus prahlt, mit der trübseligen Erinnerung an sein eigenes Hinterstübchen im New-Cut; und der als der begünstigte Liebhaber einer reichen Erbin flattirt und beneidet wird, während er sich erinnern muß, daß der Ex-Tänzer von der Familie erhalten werden muß und nun außer Engagement ist?

Neben ihm wird man vielleicht einen schmächtigen blassen Mann mit langem hageren Angesichte in fadenscheinigen schwarzen Kleidern erblicken, der in Nachdenken versunken mit einem Eschenstocke auf den Theil seines Stiefels klopft, wo sich einst der Absatz befand. Er hat die schwierige Aufgabe, prosaische Väter, tugendhafte Bediente, Pfarrer, Wirthe u. dgl. darzustellen.

Da wir gerade von Vätern reden, so möchten wir wohl den Wunsch aussprechen, einmal ein Stück zu sehen, in dem alle Personen Waisen wären. Die Väter sind immer große Hindernisse auf der Bühne und stets muß sich der Held oder die Heldin, wenn der Vorhang in die Höhe gegangen, in weitläufige Erörterungen über das einlassen, was vorgegangen ist, ehe der Vorhang aufgeht. Gewöhnlich fängt dieß so an:

»Es sind nun neunzehn Jahre, mein theures Kind, seit dich deine geliebte Mutter (hier wankt des alten Schelms Stimme) meiner Pflege anvertraut hat. Du warst damals noch ein Säugling« etc. etc. Oder haben sie – doch stets plötzlich – die Entdeckung zu machen, daß Jemand, mit dem sie während drei Akten in genauer Verbindung gestanden sind, ohne daß sie vorher die geringste Ahnung davon gehabt hätten, ihr eigenes Kind ist, in welchem Falle sie dann ausrufen: »Ha! Was sehe ich! Dieses Armband! Dieses Lächeln! Diese Papiere! Diese Augen! Darf ich meinen Sinnen trauen? Es muß es sein! – Ja – es ist's – es ist's – mein Kind!« – »Mein Vater!« ruft das Kind aus; dann fallen sie sich in die Arme, sehen einander über die Schultern, und das Haus zittert von drei Beifallsstürmen.

Um von dieser Abschweifung wieder zurückzukommen, – wir wollten nämlich sagen, daß es derlei Leute sind, die man vor den Thüren unserer Theater niedern Ranges in verschiedenen Conversationen und Attituden begriffen sieht. Bei Astley's sind sie stets zahlreicher als an andern Orten. Man wird in der Regel ein paar Burschen am Fenstergesimse sitzen sehen, während zwei oder drei Gentlemen in schmutzigschäbiger Eleganz mit gewürfelten Halstüchern und vergelbtem Linnenzeug umherlungern und vielleicht ein paar nachlässig in altes Zeitungspapier eingewickelte Tanzschuhe unter dem Arme tragen. Einige Jahre früher pflegten wir hinzustehen und diese Männer mit offenem Munde und geheimnißvoller Neugierde anzustaunen, – die Erinnerung daran nöthigt uns sogar in dem Augenblicke, wo wir dieses schreiben, noch ein Lächeln ab. Wir konnten damals nicht glauben, daß diese in lichtvoller Pracht strahlenden Wesen, in schneeweiße Tunica, salmenfarbigen Beinen und blauer Schärpe, die des Abends in all' dem Glanze der Beleuchtung, der künstlichen Blumen und der rauschenden Musik auf schneeweißen Rossen vor uns herumjagten, die liederlich aussehenden Creaturen sein könnten, wie wir sie beim Tage erblickten.

Wir können dieß kaum jetzt noch glauben. Von der niedrigern Klasse der Schauspieler haben wir Einiges gesehen, und man braucht seine Einbildungskraft nicht gewaltig anzustrengen, um sich zu überzeugen, daß der Liebhaber mit dem aufgeblasenen Schmutzigel, der komische Sänger mit dem Kerl, der bei dem Kruge das große Wort führt, oder der erste Tragöde mit dem bettelarmen Trunkenbolde dieselbe Person ist; – allein jene Andern sind geheimnißvolle Wesen, die man außer dem Cirkus nie sieht, und nie anders erblickt, als im Costüm von Göttern und Sylphen. Denn, wer hat je – mit Ausnahme Ducrow's, der wohl kaum unter diese gerechnet werden kann – einen Reiter von Astley's kennen lernen, oder wer sah einen solchen je anders, als zu Pferde? Kann unser Freund in der Militäruniform sich in einem abgetragenen Anzuge zeigen? oder sich zu den vergleichungsweise unwattirten Kleidern des gewöhnlichen Lebens herablassen? Unmöglich! Wir können – wir wollen es nicht glauben.

Zwölftes Kapitel
Der Jahrmarkt zu Greenwich.

Wenn – wie man zu sagen pflegt – die Parks die Lungen Londons sind, so möchten wir wohl fragen, was der Jahrmarkt von Greenwich ist? – Ein periodischer Anfall, etwa ein Frühlingsexanthem, ein dreitägiges Fieber, durch welches das Blut auf sechs Monate hinaus abgekühlt wird und an dessen Ende London eben so schnell und vollständig wieder zu seinen alten Gewohnheiten und zu seiner unermüdeten Industrie zurückkehrt, als ob gar keine Unterbrechung dazwischen gekommen wäre. In unseren jüngeren Jahren waren wir stets ein treuer Gast auf der Messe von Greenwich. Wir sind in allen möglichen Gattungen von Fuhrwerken hin und wieder heim gefahren und können mit gutem Gewissen nicht in Abrede ziehen, daß wir einst diesen Weg auf einem großen Leiterwagen, in Gesellschaft von dreizehn Herren und vierzehn Damen, einer Unzahl von Kindern nebst einem Bierfasse gemacht haben; und es schwebt uns eine dunkle Erinnerung vor, daß wir uns sogar später einmal auf dem achten Außenplatze, nämlich auf der Decke einer Miethkutsche, nach vier Uhr Morgens mit einer ziemlich verwirrten Idee von unserem Namen und unserer Wohnung erblickt haben. Seitdem sind wir älter, ruhiger und gesetzter geworden, und bringen unsere Oster- und alle andern Feiertage nirgends lieber zu, als in einer stillen Ecke, mit Leuten, deren wir nie überdrüssig werden; doch wird uns wohl noch etwas von dem Jahrmarkte zu Greenwich und dem, was sich dort zusammenfindet, erinnerlich sein. – Wenigstens wollen wir es versuchen.

Die Straße nach Greenwich stellt während des ganzen Ostermontags eine Scene ewiger geräuschvoller Lebendigkeit dar. Cabriolets, Miethkutschen, Chaisen, Kohlenwägen, Postkutschen, Omnibusse, Gesellschaftswägen, Gigs, Eselfuhrwerke, alle gepfropft voll Menschen – denn es kommt nie darauf an, was das Pferd ziehen, sondern nur was der Wagen fassen kann – rollen mit möglichster Eile auf der Straße hin – Wolken von Staub verfinstern die Luft – Ingwer-Bier-Pfröpfe fliegen knallend in die Höhe – die Balkone aller Wirthshäuser sind mit Rauchern und Trinkern angefüllt – die Hälfte der Privathäuser sind in Theeschenken umgewandelt – alle Fidler sind in Bewegung – jeder Obstladen ist mit vergoldeten Pfefferkuchen und Pennywaaren angefüllt – die Schlagbaumwärter sind in Verzweiflung – hier Pferde, die nicht mehr ziehen, dort Fuhrwerke, welche herein wollen – Damen auf »Caravanenwagen« schreien bei jedem neuen Stoße, als ob sie am Spieße stäken, und ihre Verehrer halten es für Pflicht, sich so dicht als möglich an sie anzuschließen, um ihnen Muth zu machen; Dienstmädchen aller Art, die sonst nicht ausgehen dürfen, erhalten heute Urlaub, und widmen ihre ganze Zeit dem getreuen Liebhaber, der sonst jeden Abend an der Straßenecke einer verstohlenen Zusammenkunft entgegenharrt, wenn seine Schöne nach Bier geschickt wird – die Lehrbursche werden sentimental und die Strohhutflechter zart; – Jedermann sorgt nur dafür, den Tag so viel als möglich zu genießen, und der allgemeine Wunsch ist, so bald als nur immer möglich auf den Markt oder in den Park zu kommen.

Fußgänger machen gruppenweise an der Straße Halt, unvermögend den Lockungen der wohlbeleibten Eigenthümerin des »Schachtelmännchens – drei Shilling für einen Penny,« oder den noch glänzenderen Anträgen des Mannes zu widerstehen, welcher drei Fingerhüte und eine Erbse auf einem runden Brettchen vor sich hat und die neugierige Menge ungefähr mit folgenden Worten in Erstaunen setzt, »hier ist zu sehen ein Spiel, das euch noch sieben Jahre nach eurem Tode zum Lachen bringen wird, und wovon jedes Haar auf eurem Kopf vor Lust grau werden soll! Drei Fingerhüte und eine kleine Erbse – mit eins, zwei, drei, und mit zwei, drei, eins: fange sie, wer kann, paß't 'mal auf, macht eure Augen auf! Nur lustig herbei; Keinen wird sein Geld reuen: all's hübsch 'ran, immer 'ran; wer nicht wagt, gewinnt nicht, – wer das Glück hat, führt die Braut heim! Wettet, Gentl'm'n, von 'ner halben Krone bis zu 'nem Souv'rän, es kann mir keiner sagen unter welchem Fingerhut die Erbse ist.« Hier flüstert ein Gelbschnabel seinem Freunde zu, daß er genau bemerkt habe, wie die Erbse unter den mittlern Fingerhut gerollt sei; – ein in der Nähe stehender Herr mit Stulpstiefeln bestätigt dieß sogleich und setzt in leisem Tone hinzu, er bedaure, nicht selbst wetten zu können, er habe leider seine Börse vergessen; der Fremde solle aber ja diese goldene Gelegenheit nicht vorüber gehen lassen. Der Same ist nicht auf unfruchtbaren Boden gefallen; die Wette wird angenommen, der Fremde verliert natürlich, und während der Gentleman mit den Fingerhüten das Geld einstreicht, tröstet er ihn, mit der Versicherung, »so ist das Glück im Spiel! Dießmal gewinn' ich, 's nächstemal Sie. Wer wird den Verlust von zwei Schillingen und sechs Pencen anschlagen! Setzen Sie nochmal, so können Sie's wieder holen. Allhier können Sie sehen das Spiel u. s. w.« und er richtet seinen beredten Vortrag mit allerlei Variationen, wie sie dem Sprecher seine Phantasie eingibt, abermals an die gaffende Menge, welche durch neue Ankömmlinge sich immer mehr vergrößert.

 

Der Haupttummelplatz den Tag über ist, nächst den Wirthshäusern, der Park, wo die vorzüglichste Unterhaltung darin besteht, die jungen Damen den steilen Hügel, der zum Observatorium führt, hinauf zu schleppen und dann mit reißender Schnelligkeit wieder herab zu zerren, so daß Locken und Hüte zur augenscheinlichsten Erbauung der unten Stehenden in die äußerste Unordnung gerathen. »Küssen im Kreise,« und »der Großmutter die Nadel einfädeln« gehören ebenfalls zu den beliebtesten Spielen. Liebeskranke Schäfer, deren zarte Neigung unter dem Einflusse des Grog noch wächst, werden gewaltsam zärtlich und zuthunlich, und die zarten Gegenstände ihrer Verehrung steigern den Werth der gestohlenen Küsse noch durch Sträuben und Abwenden des Kopfes: »Ach! lassen Sie mich doch gehen, George – O, kitzle ihn doch, Mary! – Warum nicht gar, das fällt mir nicht ein!« und ähnliche, einer Lukretia würdige Stoßgebetlein. Alte Männlein und Weiblein, mit einer kleinen Korbflasche unter dem Arme und einem Weinglase ohne Fuß in der andern Hand, bieten den verschiedenen Gruppen »einen Tropfen vom Aechten« an, und junge Damen, welche man beredet hat, einen Tropfen von vorbesagtem Aechten zu kosten, sträuben sich auf die ergötzlichste Weise dagegen, einen zweiten »zu nehmen« und husten nachher mit großem Anstand.

An die alten Invaliden, welche für die mäßige Belohnung von einem Penny das Mast-Haus, die Themse, den Einschiffungs-Platz, den Platz, wo die Kriegsschiffe vor Anker liegen und andere interessante Ansichten durch ein Teleskop sehen lassen, werden Fragen über die verschiedenen Gegenstände innerhalb des Sehkreises der Gläser gestellt, deren Beantwortung einen Salomo in Verlegenheit bringen könnte, denn man verlangt von ihnen, daß sie besondere Häuser in besonderen Straßen herausfinden sollen, die zu entdecken selbst für Herrn Horner (nicht der junge Gentleman, der Fleischpastetchen mit dem Daumen ißt, sondern der Mann, der vom Colosseum her bekannt ist) schwierig gewesen wäre. An manchen Orten, besonders wo etliche Liebespaare beisammen auf dem Grasboden sitzen, sieht man ein sonnverbranntes Weib in rothem Mantel, welches wahrsagt und Männer prophezeit, deren Personal-Beschreibung gerade keine besonders genaue Observation erfordert, da sie die Originale vor sich hat. Die betreffende Dame lacht und erröthet, verbirgt ihr Gesicht hinter einem unechten Cambric-Taschentuche, und der ihr prophezeite Herr ist über die Maßen entzückt, drückt ihr die Hand, und belohnt die Zigeunerin reichlich; diese geht ganz zufrieden fort, läßt die hinter ihr eben so zufrieden zurück und die Prophezeihung geht ihrer Zeit eben so gut in Erfüllung, wie andere Prophezeihungen von größerer Wichtigkeit.

Doch nun beginnt es dunkel zu werden. Die Menge hat sich nach und nach verloren und nur noch einige Herumstreicher bleiben zurück. Die von der Gegend der Kirche herkommende Helle beweist, daß der Marktplatz schon beleuchtet ist, und an dem Lärmen hört man, daß es sehr voll sein muß. Der Platz, auf dem eine halbe Stunde früher das Toben ausgelassener Fröhlichkeit herrschte, ist nun so still und ruhig, als ob seine Ruhe nie gestört worden wäre; die herrlichen alten Bäume, die majestätischen Gebäude zu ihren Füßen und der im Mondschein glänzende stattliche Fluß stellen sich uns in all' ihrer Schönheit und ihrer günstigsten Beleuchtung dar; die Stimmen der ihr Abendlied singenden Knaben dringen sanft zu unseren Ohren und der niedrigste Handarbeiter, welcher von dem weichen Grasteppiche nicht wegkommen kann, weil es den Füßen, die gewohnt sind, von Woche zu Woche dieselbe dämische Runde auf dem Londoner Straßenpflaster zu machen, so wohl thut, fühlt sich, wenn er um sich blickt, von Stolz durchdrungen bei dem Gedanken, daß er einem Lande angehört, welches einen solchen Ort zum Ruhesitze für seine ältesten und ausgezeichnetsten Vertheidiger ausgesucht hat, damit sie die Neige ihres Lebens dort in Muße genießen können.

Ein Gang von fünf Minuten bringt dich auf den Markt, zu einer Scene, die darauf berechnet scheint, Gefühle ganz anderer Art zu erwecken. An dem Eingang zu beiden Seiten sitzen Pfefferkuchen- und Spielwaarenhändler, ihre Buden sind lustig beleuchtet; die anziehendsten Sachen liegen in Menge umher und junge Mädchen ohne Hüte fassen dich, in ihrem Eifer für das Interesse ihres Herrn, beim Rocke und wenden alle mögliche Ueberredungskünste an, z. B. »Mein schöner Herr – kaufen Sie 'was Hübsches – Gehen Sie nicht so vorbei u. s. f.,« um dich zu verleiten, ein halbes Pfund ächter Pfeffernüsse zu kaufen, von denen die Mehrzahl der gewöhnlichen Marktgäste ein oder zwei Pfund zu Geschenken in einem baumwollenen Taschentuche mit heim trägt. Gelegentlich kommst du an einem tannenen Tische vorüber, auf dem Stückchen eingepöckelter Salmen (mit Fenchel) in kleinen weißen Näpfchen aufgestellt sind; Austern mit Schalen, so groß als Käseteller und eine mannigfaltige Auswahl einer Art Schnecken (Trompetenschnecken genannt) schwimmen in einer fast wie Galle aussehenden grünen Flüssigkeit. Auch nach Cigarren ist große Nachfrage, denn die Gentlemen müssen ganz natürlich geraucht haben, und hier kann man sie ja haben – zwei für einen Penny und zwar aus einem ächten authentischen Cigarrenkistchen von Havannah; ein auf dem Tische stehendes brennendes Talglicht erleichtert das Anzünden.

Bilde dir nun ein, lieber Leser, du befändest dich in einem ungewöhnlich dicht gedrängten Haufen, der dich hin und her und heraus und hinein schiebt, kurz jeden Weg, nur den rechten nicht; denke dir dazu das Gekreisch der Weiber, das Schreien der Knaben, das Rasseln der Trommeln, das Abfeuern der Pistolen, das Läuten der Glocken, das Schmettern der Trompeten, das Quäcken der Pennypfeifen, das Lärmen von einem halben Dutzend Musikbanden, deren jede drei Trommeln hat und die alle zu gleicher Zeit je verschiedene Stücke spielen, das Ausrufen von Männern mit Raritäten, dazwischen das Gebrüll der wilden Thiere in der Menagerie – und dann bist du im eigentlichen Mittelpunkte, im Herzen des Marktes. Jene ungeheure Bude mit der großen Schaubühne, die du so glänzend mit bunten Lampen und brennenden Fettämpelchen illuminirt siehst, ist die von »Richardson«, wo dir ein Melodrama (in dem drei Mordthaten und ein Geist vorkommen), eine Pantomime, ein komisches Singspiel, eine Ouvertüre und allerhand andere Musik – Alles in fünfundzwanzig Minuten aufgetischt wird.

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