Weihnachtsgeschichten und Erzählungen, 1. Band

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Weihnachtsgeschichten und Erzählungen, 1. Band
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Charles Dickens

Weihnachtsgeschichten und Erzählungen

1. Band

Weihnachtsgeschichten und Erzählungen

Charles Dickens

1. Band

Impressum

Texte: © Copyright by Charles Dickens

Umschlag: © Copyright by Walter Brendel

Übersetzer: © Copyright by Meyrink/Zoozmann

Verlag: Das historische Buch, 2021

Mail: walterbrendel@mail.de

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Inhalt

Der Behexte und der Pakt mit dem Geiste

Erstes Kapitel: Die Gabe

Zweites Kapitel: Die Verbreitung

Drittes Kapitel: Die Gabe wird zurückgenommen

Auf der Walstatt des Lebens

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Weihnachtslied

Erste Strophe: Marleys Geist

Zweite Strophe: Der erste Geist

Dritte Strophe: Der zweite Geist

Vierte Strophe: Der letzte Geist

Fünfte Strophe: Das Ende

Der Behexte und der Pakt mit dem Geiste

Eine phantastische Weihnachtsgeschichte

Erstes Kapitel: Die Gabe

Jeder sagte es.

Es sei fern von mir, zu behaupten, dass richtig sein müsse, was »jeder« sagt.

Was »jeder« sagt, kann ebenso gut falsch sein.

Es ist kein Verlass auf solche Autorität. Sehr oft hat man schrecklich lang gebraucht, um das einzusehen.

Was »jeder« behauptet, kann zuweilen richtig sein, aber Regel ist es nicht, wie der Geist des Giles Scroggins in der Ballade sagt.

Ja richtig: »Geist«; das bringt mich wieder auf meine Geschichte.

Also jeder sagte, er sähe aus wie ein Behexter. Das stimmt: Er sah wirklich so aus.

Hohle Wangen, eingesunkene funkelnde Augen, ebenmäßig gewachsen zwar, aber immer schwarz gekleidet und immer mürrisch. Die grauen Haare wirr ins Gesicht hängend wie Seegras. Wie eine Klippe sah er aus, an der die Wogen branden aus der Tiefe der Menschheit.

Wer hätte sein Wesen beobachten können, seine seltsame verschlossene Art, düster und immer in Gedanken verloren, stets im Geiste in einer vergangenen Zeit und an fremdem Ort, unablässig in sein Inneres horchend, als ertöne da ein geheimnisvolles Echo – ohne sagen zu müssen, er ist behext?

Wer ihn sah in seinem Studierzimmer – halb Bibliothek, halb Laboratorium – er war ein weltberühmter Gelehrter und Chemiker, und täglich hingen Hunderte an seinen Lippen –, wer ihn dort sah in einsamer Winternacht – unbeweglich, umgeben von seinen Giften und Instrumenten und Büchern, wenn der Schatten seiner Schirmlampe wie ein riesiger Käfer an der Wand hockte und der flackernde Schein des Feuers gespenstische Gestalten malte auf die Wandungen der fremdartigen, seltsam aussehenden Phiolen, der fühlte, der Mann ist behext und das Zimmer dazu.

Wenn dann die Phantome sich in der Flüssigkeit der Gläser spiegelten und zitterten wie Dinge, die wohl wussten, dass er die Macht besaß, sie in ihre Bestandteile aufzulösen und in Feuer und Dampf davonfliegen zu lassen, wenn er dann wieder grübelnd in seinem Stuhle saß vor den roten Flammen in dem rostigen Kamin und flüsternd die dünnen Lippen bewegte, da konnte es einen wohl beschleichen, als werde alles ringsum zu Spuk – als stünde man auf behextem Grund.

Und wie er seine Stimme niederhielt in langsamer Rede und ihren natürlichen Wohlklang erstickte! Wer hätte da nicht gesagt, es ist die Stimme eines Verwunschenen?!

Sein Wohnhaus war so einsam und gruftartig – ein alter abgelegener Teil eines ehemaligen Stifts für Studenten, einstens ein braves Gebäude auf freiem Platze, jetzt nur noch die veraltete Grille eines vergessenen Architekten, von Alter, Rauch und Wetter gebräunt. Auf allen Seiten eingeklemmt von der alles überwuchernden Stadt und wie ein alter Brunnen erstickt von Steinen und Ziegeln. Die kleinen Höfe lagen tief unten in wahren Schlünden von Straßen und Häusern, die im Laufe der Zeiten emporgewachsen waren und seine schwerfälligen Schornsteine überragten. Die altgewordenen Bäume plagte schwer der Rauch der benachbarten Essen, wenn er sich schwarz und schwer herabsenkte bei trübem Wetter, und die Grasflecken kämpften hart um ihr Leben unter dem Mehltau der unfruchtbaren Erde. Das verödete Pflaster hatte den Tritt der menschlichen Füße vergessen und war den Blick von Augen nicht mehr gewöhnt, außer es sah einmal ein vereinzeltes Gesicht aus der Obern Welt herunter, verwundert, was für ein seltsamer Winkel das wohl sei. Eine Sonnenuhr stand eingezwängt in einer halbvermauerten Ecke, wohin sich Hunderte von Jahren kein Lichtstrahl mehr verirrt, wo als Ersatz für die Sonne wochenlang der Schnee noch lag, wenn er überall längst verschwunden war, und wo sich wie ein gewaltiger Brummkreisel der Ostwind drehte, wenn er sonst an allen Plätzen schwieg.

Die Stube in des Gebäudes innerstem Herzen war so düster und alt, so verfallen und doch so fest mit ihrem wurmstichigen Gebälk in der Decke, mit der derben Holzverkleidung, die sich von der Tür herabsenkte bis zu dem Kaminstück aus Eichenholz. Mitten im umarmenden Drucke der Großstadt und doch so weit weg von Mode, Zeit und Sitte; so ruhig und doch so reich an hallenden Echos, wenn sich eine ferne Stimme erhob oder Türen ins Schloss fielen – Echos, die nicht bloß in den vielen niedern Gängen und leeren Räumen wohnten, sondern fortmurrten und knurrten, bis sie in der dicken Atmosphäre der vergessenen Krypta erstickten, deren normannische Bogen halb in der Erde staken.

Ihr hättet ihn nur sehen sollen zur Dämmerstunde im tiefen Winter. In der toten Winterszeit, wenn schrill und schneidend der Wind der Sonne ein Abschiedslied singt und ihr Bild schimmernd durch den Nebel taucht. Wenn es eben noch so halbdunkel ist, dass die Formen der Dinge zu verschwimmen beginnen und anschwellen und doch noch nicht ganz verschwinden. Wenn die Menschen am Kamin sitzen, wilde Gesichter und Gestalten, Berge und Abgründe, Wegelagerer und Heere in der Kohlenglut zu sehen beginnen – – die Leute auf den Straßen die Köpfe senken und vor dem Wetter herlaufen und die, die entgegenkommen, an den sturmumtosten Ecken haltmachen, geblendet von den irrenden Schneeflocken, die sich ihnen an die Augenwimpern heften und spärlich fallen und zu rasch, als dass von ihnen auf dem gefrorenen Boden eine Spur bliebe, wieder verwehen. Wenn die Fenster der Häuser sorgsam und luftdicht verschlossen werden und die Gaslaternen in den lauten und den ruhigen Straßen aufleuchten und es schnell finster wird, wo sie fehlen. Wenn vereinzelte Fußgänger zitternd durch die Straßen eilen, auf die in den Küchen glühenden Feuer hinunterstarren, während ihnen das Wasser im Munde zusammenläuft bei dem Speisenduft, der meilenweit die Luft durchströmt.

Wenn Reisende auf dem Lande bitterlich frierend, verdrießlich auf die düstere Landschaft hinblicken, die im Sturmwind zittert und bebt, Seeleute, an vereisten Rahen hängend, hoch über der tosenden See hin und her geschleudert werden und die Leuchttürme auf Felsen und Vorgebirgen wachsam aufflammen, dass die von der Nacht überraschten Vögel mit der Brust gegen die schweren Laternen fliegen und tot niederfallen. Wenn die kleinen Märchenleser beim Ofen zitternd an Cassim Baba denken, wie er gevierteilt in der Räuberhöhle hing, oder eine unklare Furcht nahen fühlen, die schreckliche Alte mit dem Krückstock, die immer im Schlafzimmer des Kaufmanns Abdullah aus der Kiste sprang, könne ihnen in einer dieser Nächte auf der Treppe begegnen auf der langen kalten dunklen Reise ins Bett.

Wenn auf dem Lande das letzte Glimmern des Tages erstirbt in den Enden der Alleen und die Gipfel der Bäume in trübem Schwarz verschwimmen. Wenn in Park und Forst das nasse hohe Farnkraut und dickes Moos und die Schichten gefallener Blätter und die Baumstümpfe sich in undurchdringlichen Schattenmassen verstecken – Nebel aufsteigen aus Graben, Moor und Fluss und fröhlich die Lichter glänzen in den alten Hallen und an den Fenstern der Bauernhäuser.

Wenn die Mühle feiert, Stellmacher und Grobschmied die Werkstatt schließen, der Schlagbaum rastet, Pflug und Egge einsam schlafen auf dem Felde, wenn abends die Kirchturmuhr dumpfer schlägt als mittags und für die Nacht das Kirchturmpförtchen versperrt steht! –

Ihr hättet ihn sehen sollen, als die Dämmerung allerorten die Schatten befreite, die den ganzen langen Tag über eingekerkert gewesen waren und die sich jetzt zusammenschlossen und zusammendrängten gleich Scharen sich sammelnder Gespenster, sich in die Zimmerecken duckten und hinter halboffenen Türen hervorstierten; als sie dann vollen Besitz ergriffen von all den leeren Räumen des Hauses und in den Wohnstuben über Decke, Wände und Fußboden tanzten, wenn das Feuer ersterben wollte, und wie ebbende Wellen zurückfuhren, loderte es wieder auf. Wie sie phantastisch die Formen vertrauter Geräte nachäfften, aus der Amme eine Kinderfresserin machten, das Schaukelpferd in ein Ungeheuer verwandelten und das erregte Kind bald in Schrecken versetzten, bald ihm groteske Späße vormachten, bis es sich selbst wie etwas ganz Fremdes vorkam. Nicht einmal die Feuerzange in Ruhe ließen – aus ihr einen spreizbeinigen Riesen mit eingestemmten Armen machten, der bestimmt nach Menschenblut roch und nur darauf wartete, den Leuten die Knochen zu Mehl und Brot zu zerreiben.

 

Ihr hättet ihn nur sehen sollen um die gewisse Zeit, wo den alten Leuten diese Schatten ungewohnte Gedanken wachriefen und ihnen fremde Bilder zeigten, wo sie aus ihren Schlupfwinkeln hervorschlichen, angetan mit den Konterfeis vergangener Gesichter und Gestalten, vom Grabe her, aus dem tiefen Abgrund kommend, darinnen die Dinge umherirrten, darinnen sie sind und doch nicht sind. Hättet ihn nur sehen sollen, als er so dasaß und in das Feuer starrte, während mit dem Steigen und Sinken der Glut die Schatten kamen und gingen.

Wie er sie nicht beachtete mit seinem leiblichen Auge und immer nur ins Feuer starrte, mochten sie nun kommen oder gehen.

Verwehte Klänge drangen hervor aus ihrem Versteck auf des Zwielichts Ruf und machten die Stille ringsum nur noch tiefer. Der Wind rumorte im Schornstein und stöhnte und heulte im Hause umher. Er schüttelte draußen die alten Bäume, dass die grämliche Krähe, im Schlafe gestört, mit schwachem, verträumtem Krah Krah aus den Wipfeln herunterschimpfte. Zuzeiten erzitterten die Fenster, die verrostete Wetterfahne auf dem Turmdach ächzte, und die Uhr darunter verkündete, dass wieder eine Viertelstunde verflossen war.

Das Feuer sank zusammen, und prasselnd fielen die Scheite übereinander.

Da klopfte jemand an die Türe, und er fuhr aus seinem Grübeln auf. »Wer ist da?« fragte er. »Herein!«

Bestimmt hatte keine Gestalt hinter seinem Stuhle gestanden, kein Gesicht auf ihn herabgeblickt. Bestimmt berührte kein gleitender Tritt den Fußboden, als er aufschreckend das Haupt erhob und sprach.

Es war kein Spiegel im Zimmer, auf den seine eigene Gestalt auch nur einen Augenblick hätte fallen können, und doch war etwas vorübergedunkelt und verschwunden.

»Ich bitte ergebenst um Verzeihung, Sir«, sagte ein rotbäckiges zappliges Männchen, das mit einem Tablett hereinkam, die Türe vorsichtig mit dem Fuße haltend, damit sie nicht geräuschvoll zufalle, »wenn es heute Abend ein bisschen spät geworden ist, aber Mrs. William ist so umgeworfen worden – –«

»Vom Wind? Ja, ich habe ihn heulen hören.«

»Vom Wind, Sir – es ist ein wahres Glück, dass sie überhaupt nach Hause gefunden hat. O du liebe Zeit, ja. Vom Wind, Mr. Redlaw. Ja ja, vom Wind.«

Das Männchen hatte unterdessen das Servierbrett hingesetzt und begann die Lampe anzuzünden und den Tisch zu decken. Augenblicklich ließ es aber wieder davon ab, um zum Feuer zu laufen, zu schüren und nachzulegen. Dann nahm es seine frühere Beschäftigung wieder auf. Die brennende Lampe und das aufflackernde Feuer gaben dem Zimmer so rasch ein anderes Aussehen, dass der bloße Eintritt dieses frischen roten Gesichtes die angenehme Veränderung bewirkt zu haben schien.

»Mrs. William ist natürlich zu jeder Zeit der Möglichkeit ausgesetzt, von den Elementen aus dem Gleichgewicht gebracht zu werden. Sie ist ihnen nicht gewachsen.«

»Nein«, sagte Mr. Redlaw freundlich, aber kurz.

»Nein, Sir, Mrs. William kann durch Erde aus dem Gleichgewicht gebracht werden, wie zum Beispiel am Sonntag vor acht Tagen, wo es so nass und schlüpfrig war und sie mit ihrer neuesten Schwägerin zum Tee ging; sie war gerade so schön stolz auf sich und fleckenlos, trotzdem sie zu Fuß ging. Mrs. William kann durch Luft aus dem Gleichgewicht kommen, wie damals auf dem Peckhamer Jahrmarkt, wo sie sich überreden ließ, einmal eine Schaukel zu versuchen, was auf ihre Konstitution wirkte wie ein Dampfboot. Mrs. William kann durch Feuer das Gleichgewicht verlieren, wie damals bei ihrer Mutter, als der blinde Feueralarm war und sie eine halbe Stunde Wegs in der Nachtmütze zurücklegte. Mrs. William kann durch Wasser aus dem Gleichgewicht kommen, wie neulich in Battersea, wo sie sich von ihrem zwölfjährigen Neffen Charley Swidger junior, der keine Ahnung vom Rudern hat, in den Hafen rudern ließ. Aber das sind eben die Elemente. Mrs. William muss den Elementen entrückt sein, soll ihr Charakter zur Geltung kommen.«

Als er innehielt und eine Antwort erwartete, ertönte ein »Ja«, genau wie vorhin.

»Ja, Sir, o du liebe Zeit, ja«, sagte Swidger, immer noch den Tisch deckend und jedes einzelne Stück beim Namen nennend, das er hinsetzte. »Ja ja, so ist's, Sir. Viele, viele Swidgers sind wir. – Pfeffer! Da ist zuvörderst mein Vater, Sir, pensionierter Kastellan und Kustos des Stifts, siebenundachtzig Jahre alt. Er ist ein Swidger! – Löffel.«

»Jawohl, William«, war die ruhige und zerstreute Antwort, als der Diener wieder innehielt.

»Ja, Sir«, sagte Mr. Swidger. »Das sage ich auch immer, Sir. Man kann ihn den Stamm des Baumes nennen! – Brot. Dann kommen, der nächste, nämlich meine Wenigkeit – Salz –, und Mrs. William: beide Swidgers. – Messer und Gabel! Dann kommen alle meine Brüder und deren Familien, lauter Swidgers, Mann und Frau, Knaben und Mädchen. Na, und wenn man dann all die Vettern und Onkel, Tanten und Verwandten in diesen und jenen und andern Graden und was weiß ich für Graden noch und all die Hochzeiten und Entbindungen mitrechnet, dann könnten die Swidgers – Weinglas – eine Kette um ganz England bilden, wenn sie sich die Hände reichten.«

Da gar keine Antwort erfolgte, trat William an den in Gedanken Versunkenen näher heran und stieß wie zufällig mit einer Karaffe an den Tisch, um ihn aus seinem Brüten zu erwecken. Als ihm dies gelungen, fuhr er eilfertig fort zu reden, genau als habe er eine Antwort erhalten. »Ja, Sir! Genau das sage ich selber auch immer. Mrs. William und ich haben das schon oft gesagt. Swidgers gibt's schon genug, sagen wir. Da brauchen wir gar nicht mehr mitzutun. – Butter. – Ja, Sir, mein Vater ist schon an und für sich eine Familie – Plate de Menage –, für die zu sorgen ist; und eigentlich ist es recht gut, dass wir selber keine Kinder haben, wenn auch Mrs. William dadurch ein bisschen still geworden ist. Bitte, halten Sie sich bereit für das Huhn mit Kartoffeln, Sir, Mrs. William sagte, sie wolle in zehn Minuten auftragen.«

»Ich bin bereit«, sagte der andere wie aus einem Traum erwachend und ging langsam auf und ab.

»Mrs. William war wieder an der Arbeit, Sir«, sagte der Diener und wärmte einen Teller am Kamin, sich neckisch das Gesicht damit beschattend. Mr. Redlaw blieb stehen, und sein Gesicht nahm einen Ausdruck von Teilnahme an.

»Ich sag's, wie's ist, Sir. Sie muss es tun! Mrs. William hegt Muttergefühle in ihrer Brust, und sie muss sich Luft machen.«

»Was hat sie denn getan?«

»Ja, Sir, nicht zufrieden, all die jungen Herren zu bemuttern, die aus allen möglichen Gegenden herbeiströmen, um Ihre Vorlesungen in dem alten Stift zu hören – – – – merkwürdig, wie bei diesem kalten Wetter das Porzellan schnell die Hitze annimmt. Eigentümlich.« Er drehte den Teller um und blies sich auf die Finger.

»Nun?« sagte Mr. Redlaw.

»Sehen Sie, das sage ich auch immer, Sir«, entgegnete Mr. William über die Schulter hin und als ob er voll Bereitwilligkeit und Entzücken irgendeinem Urteil zustimmen wollte. »Genauso und nicht anders, Sir. Alle Studenten ohne Ausnahme sieht Mrs. William offenbar mit den Augen einer Mutter an. Jeden Tag, den ganzen Kursus hindurch, steckt einer nach dem andern den Kopf zur Tür herein, und jeder hat ihr etwas zu sagen oder sie etwas zu fragen. ›Swidge‹ oder ›Bridge‹ nennen sie Mrs. William, wenn sie unter sich sind. Wenigstens hat man mir das erzählt. Aber das sage ich immer, Sir, besser anders genannt werden, wenn auch noch so falsch – wenn's nur in wirklicher Liebe geschieht –, als mit großtuerischen Phrasen betitelt zu werden und dabei doch bei niemand gut angeschrieben zu sein! Wozu ist denn ein Name da? Damit man eine Person daran erkennt. Wenn Mrs. William eines Besseren als ihres Namens wegen geschätzt wird – ich meine Mrs. Williams Eigenschaften und Gemütsart –, so kommt's nicht auf ihren Namen an, wenn er auch von Rechts wegen Swidger ist. Sollen sie sie ruhig ›Zwitscher‹ nennen, oder Kitsch oder Bridge, oder wie sie sonst mögen. Meinetwegen London Bridge, Blackfriars-, Chelsea-, Putney-, Waterloo- oder Hammersmith- ›Bridge‹!«

Gleichzeitig mit dem Schluss dieser glänzenden Rede kam er mit dem Teller zum Tisch und ließ ihn mit einer lebhaften Geste, als sei das Porzellan glühend heiß, halb fallen, halb stellte er ihn hin. In demselben Augenblick trat der Gegenstand seiner Lobeshymne mit einem Tablett und einer Laterne bewaffnet herein, von einem würdigen Greis mit langem, grauem Haar begleitet. Mrs. William war wie Mr. William eine schlichte Person von unschuldsvollem Äußerem, auf deren glatten Backen sich das heitere Rot der Bedientenweste ihres Gatten lieblich wiederholte. Aber während Mr. Williams blonder Schopf ihm auf dem ganzen Kopfe zu Berge stand und sogar seine Augenbrauen in einem Übermaß geschäftlicher Bereitwilligkeit mit sich in die Höhe zu ziehen schien, war das dunkelbraune Haar von Mrs. William sorgsam glatt gekämmt und floss unter einer schmucken knappen Haube in der bescheidensten Weise, die man sich nur denken konnte, zusammen. Während selbst Mr. Williams Hosen sich an den Knöcheln emporkrempelten, als liege es nicht in ihrer stahlgrauen Art, sich ruhig zu verhalten, ohne umherzuschauen, war Mrs. Williams niedlich geblümtes Kleid – rot und weiß, wie ihr eigenes hübsches Gesichtchen – so nett und ordentlich, als könnte selbst der Wind, der draußen so wild brauste, nicht eine ihrer Falten aus der Fassung bringen. Während sein Rock um Brust und Schultern hing, als ob er halb und halb gesonnen sei, jeden Augenblick davonzufliegen, war ihr Leibchen so glatt und nett, dass es gewiss auch von dem Rauesten Schutz erzwungen hätte, hätte sie dessen bedurft. Wer konnte das Herz haben, einen so ruhigen Busen vor Gram anschwellen, vor Furcht erzittern oder gar in Scham erbeben zu machen, oder hätte seine Ruhe und seinen Frieden nicht beschirmt gegen jede Störung und behütet wie den unschuldigen Schlummer eines Kindes!

»Pünktlich natürlich, Milly«, sagte ihr Gatte und nahm ihr das Tablett ab, »oder du wärst nicht du. Hier ist Mrs. William, Sir! – Er sieht heute einsamer aus als je«, flüsterte er seiner Frau zu, »und womöglich noch geisterhafter als sonst.«

Ohne die geringste Hast an den Tag zu legen, ohne eine Spur von Lärm, ja, ohne dass man von ihr selbst irgendetwas merkte – so sanft und ruhig ging ihr alles von der Hand –, setzte Milly die Gerichte, die sie gebracht hatte, auf den Tisch. Mr. William hatte schließlich nach vielem Herumklappern und Herumlaufen nichts weiter als eine Schüssel mit Bouillon erwischt, die er nun dienstbereit servierte.

»Was hält der Alte dort im Arm?« fragte Mr. Redlaw, als er sich zu seinem einsamen Mahl hinsetzte.

»Stechpalme, Sir«, antwortete Millys ruhige Stimme.

»Ich sage immer«, fiel Mr. William ein und reichte die Schüssel hin, »Beeren passen so gut zur Jahreszeit! – Braune Sauce?« »Wieder ein Weihnachten da, wieder ein Jahr vorbei!« murmelte der Chemiker mit einem trüben Seufzer. »Immer mehr Ziffern in der immer länger werdenden Summe der Erinnerungen, die wir zu unserer Qual beständig nachrechnen, bis der Tod alles untereinander wirft und wegwischt! Philipp!« sagte er abbrechend und erhob die Stimme, als er den Alten anredete, der im Hintergrunde stand, auf dem Arm das glänzende dunkelgrüne Laub, aus dem Mrs. William ruhevoll kleine Zweige abbrach, sie geräuschlos mit der Schere beschnitt und damit das Zimmer ausschmückte, indes ihr alter Schwiegervater der Zeremonie mit großem Interesse zusah.

»Gehorsamster Diener, Sir«, sagte der Alte. »Hätte schon längst etwas gesagt, Sir, aber ich kenne Ihre Art, Mr. Redlaw. Bin stolz darauf – warte, bis man mich anredet! Fröhliche Weihnachten, Sir, und glückliches Neues Jahr – möge es noch recht, recht oft wiederkehren. Habe selbst eine hübsche Anzahl davon erlebt, ha ha! – und darf mir die Freiheit nehmen, es auch andern zu wünschen. Bin siebenundachtzig!«

»Haben Sie viele erlebt, die fröhlich und glücklich waren?« fragte der andere.

 

»Ja, Sir, sehr viele«, entgegnete der Alte.

»Hat sein Gedächtnis vom Alter gelitten? Es wäre zu erwarten«, sagte Mr. Redlaw leise zum Sohn gewendet.

»Nicht die Spur, Sir«, erwiderte Mr. William. »Ich sag' es immer, Sir. So ein Gedächtnis, wie mein Vater eins hat, war überhaupt noch nicht da. Er ist der wunderbarste Mensch von der Welt. Er weiß überhaupt nicht, was Vergessen ist. Und das sag' ich auch immer zu Mrs. William, Sir, Sie können's mir glauben.«

In seinem Bestreben, um jeden Preis den Eindruck des Beistimmens zu erwecken, brachte Mr. Swidger diese Rede vor, als sei kein Jota von Widerspruch darin.

Der Chemiker schob den Teller zurück, stand vom Tische auf und ging nach der Tür, wo der Alte stand und einen kleinen Zweig Stechpalme, den er in der Hand hielt, betrachtete.

»Es erinnert Sie an die Zeit, wo viele dieser Jahre alt und neu waren!?« sagte er, indem er ihn aufmerksam betrachtete und ihm auf die Schulter klopfte. »Nicht wahr?«

»O viele, viele!« sagte Philipp, halb erwachend aus seinen Träumen. »Ich bin siebenundachtzig.«

»Fröhliche und glückliche, nicht wahr?« fragte der Chemiker leise. »Fröhliche und glückliche, Alter?«

»Vielleicht so groß, nicht größer«, sagte der Alte, gab mit der Hand die Höhe seines Knies an und blickte den Fragenden mit einer Miene an, die die Erinnerung belebte.

»Vielleicht so groß war ich an dem allerersten, auf das ich mich zu besinnen weiß. Ein kalter, sonniger Tag war's. Ich war spazieren gewesen, da sagte mir jemand – es war meine Mutter, so gewiss Sie jetzt dort stehen, aber ich kann mich nicht mehr darauf besinnen, wie ihr liebes Gesicht aussah, denn sie wurde an diesen Weihnachten krank und starb –, da sagte sie mir, diese Beeren wären Vogelfutter. Der hübsche kleine Kerl – ich nämlich, verstehen Sie wohl –, der dachte damals, dass die Augen der Vögel so glänzten, weil die Beeren, von denen sie im Winter lebten, so glänzend sind. Ich erinnere mich noch ganz genau, und bin doch siebenundachtzig.«

»Fröhlich und glücklich«, sagte der andere vor sich hin und richtete die dunklen Augen auf die gebückte Gestalt mit einem Lächeln voll Mitgefühl. »Fröhlich und glücklich – und besinnen sich noch darauf?«

»Ja, ja, ja«, sagte der alte Mann, die letzten Worte auffangend, »ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich zur Schule ging, Jahr für Jahr, und was die schöne Zeit immer für Spaß und Freuden mit sich brachte. Ich war ein kräftiger Bursche damals, Mr. Redlaw, und glauben sie mir, zehn Meilen im Umkreis hatte ich meinesgleichen nicht im Fußballspiel. Wo ist mein Sohn William? – – – Hatte nicht meinesgleichen im Fußballspiel, William, zehn Meilen im Umkreis!«

»Das sag' ich immer, Vater«, entgegnete der Sohn rasch und mit großer Ehrerbietung. »Du bist ein echter Swidger, wie's je einen in der Familie gab.«

»O mein«, sagte der Alte und schüttelte den Kopf und blickte wieder auf die Stechpalme. »Seine Mutter und ich – mein Sohn William ist der jüngste –, wir haben manches Jahr mitten unter ihnen gesessen, den Knaben und Mädchen, den kleinen Kindern und Säuglingen – – manches Jahr, wo die Beeren – solche Beeren hier – nicht halb so glänzten wie ihre blanken Gesichter. Viele von ihnen sind dahin, sie ist dahin, und mein Sohn Georg, unser Ältester, der vor allen andern ihr Stolz war, ist sehr tief gesunken. Ich sehe sie vor mir, wenn ich diesen Zweig ansehe, lebendig und gesund, wie sie in jenen Tagen waren. Und, Gott sei Dank, auch ihn kann ich noch sehen, wie er damals war in seiner Unschuld. Das ist ein Segen für mich bei meinen siebenundachtzig Jahren.«

Der scharfe Blick, der mit so großem Ernst auf ihm geruht, hatte allmählich den Boden gesucht.

»Als sich meine Verhältnisse nach und nach verschlechterten, weil man nicht ehrlich mit mir verfuhr, und ich zuerst hierherkam als Kastellan«, sagte der Alte – »das ist mehr als fünfzig Jahre her – – – wo ist mein Sohn William? – – mehr als ein halbes Jahrhundert, William!«

»Das sag' ich auch immer, Vater«, entgegnete William so rasch und ehrerbietig wie vorhin. »Es stimmt genau. Zwei Mal null ist null, und zwei mal fünf ist zehn, macht hundert.«

»Es war ordentlich eine Freude, zu wissen, dass einer unserer Gründer, oder richtiger gesagt«, fuhr der Alte fort und widmete sich mit Feuer dem Gegenstand, anscheinend nicht wenig stolz, dass er so genau darin Bescheid wusste, »einer der gelehrten Herren, die zur Zeit der Königin Elisabeth unser Stift beschenkten – denn wir waren viel früher schon gegründet –, uns in seinem Testament neben andern Schenkungen so viel aussetzte, dass man jede Weihnachten Stechpalme zum Ausschmücken der Wände und Fenster kaufen könne. Es lag darin so etwas Freundliches, Gemütliches. Wir waren damals noch fremd und kamen zur Weihnachtszeit her, aber wir faßten ordentlich eine Liebe zu seinem Bilde, das in dem Saale hängt, der ehemals, bevor unsere zehn armen Herren sich lieber ein jährliches Stipendium in Geld geben ließen, unser großer Speisesaal war. Ein gesetzter Herr mit Spitzbart und Halskrause, und unter dem Bilde mit gotischen Buchstaben: Herr, erhalte mein Gedächtnis jung. Sie kennen es ja, Mr. Redlaw.«

»Ich weiß, dass das Porträt dort hängt, Philipp.«

»Ja, es ist das zweite rechter Hand über dem Eichengetäfel. Ich wollte eben sagen: Er hat mir das Gedächtnis jung erhalten. Ich danke es ihm, denn wenn ich alljährlich so wie heute durch die alten Gemächer gehe und sie auffrische mit diesen Zweigen und Beeren, dann frische ich auch dabei mein altes Gehirn auf. Ein Jahr bringt dann das andere wieder, das andere wieder andere, und dieses ganze Scharen. Zuletzt wird mir, als wäre der Geburtstag unseres Herrn der Geburtstag aller, die ich je geliebt, je betrauert, jemals gerne gehabt hätte. Und das sind ihrer eine hübsche Menge, denn ich bin siebenundachtzig.«

»Fröhlich und glücklich«, murmelte Mr. Redlaw vor sich hin.

Das Zimmer fing an, seltsam dunkel zu werden.

»So sehen Sie, Sir«, sagte der alte Philipp, und seine gesunden alten Wangen nahmen einen roten Schein an, seine blauen Augen einen helleren Glanz, »ich hab' 'ne Menge zu feiern, wenn ich dieses Fest feiere. Aber wo ist denn meine kleine, stille Maus? Schwatzen ist die Untugend meines Alters, und es ist noch die Hälfte der Zimmer zu schmücken, wenn wir bei der Kälte nicht vorher erfrieren, der Wind uns nicht wegbläst oder die Dunkelheit uns nicht verschlingt.«

Die kleine, stille Maus stand neben ihm mit ihrem ruhigen Gesicht und nahm schweigend seinen Arm, ehe er ausgesprochen hatte.

»Komm und laß uns gehen, mein Liebling«, sagte der alte Mann, »Mr. Redlaw kommt sonst nicht eher zum Essen, als bis es so kalt geworden ist wie der Winter draußen. Ich hoffe, Sie werden mir mein Geschwätz verzeihen, und ich wünsche Ihnen gute Nacht und nochmals eine fröhliche – –«

»Bleiben Sie«, sagte Mr. Redlaw und setzte sich wieder an den Tisch, mehr um den alten Kastellan zu beruhigen, wie es schien, als aus Appetit. »Noch einen Augenblick, Philipp. – William! Sie wollten eben noch etwas Ehrenvolles über Ihre treffliche Gattin sagen. Es wird ihr gewiss nicht unangenehm sein, ihr Lob aus Ihrem Munde zu hören. Was war es denn?«

»Ja, sehen Sie, Sir, das ist so eine Sache«, entgegnete Mr. William Swidger und sah seine Frau beklommen an. »Mrs. William sieht mich so an.«

»Fürchten Sie sich denn vor Mrs. Williams Blick?«

»Ach nein, Sir, ich sag's wie's ist –«, erwiderte Mr. Swidger. »Dazu ist ihr Blick nicht geschaffen, dass man sich davor fürchten sollte. Wäre das beabsichtigt gewesen, wäre er nicht so sanft ausgefallen. Aber ich möchte nicht gern – – – – Milly! Der – – –, weißt du! Der da unten im Hause –«

Mit großer Befangenheit in dem Geschirr herumkramend, warf Mr. William aufmunternde Blicke hinter dem Tisch hervor auf Mrs. William, beredt mit Kopf und Daumen auf Mr. Redlaw deutend, als wolle er sie aufmuntern.

»Der da unten, mein Herz«, fuhr er fort, »unten im Hause. So sag's doch, Kind. Du bist doch im Vergleich zu mir wie Shakespeares Werke. Der unten im Hause, du weißt doch, mein Kind – na, der Student.«

»Ein Student?« Mr. Redlaw hob den Kopf.

»Ich sag's wie's ist, Sir«, rief Mr. William eifrig beistimmend. »Wenn's nicht der arme Student unten im Hause wäre, warum sollten Sie es denn aus Mrs. Williams Munde zu hören wünschen?«

»Mrs. William, mein Kind – so sprich doch.«

»Ich wusste nicht«, sagte Milly mit einer ruhigen Offenheit und frei von jeder Unruhe oder Verwirrtheit, »dass William etwas davon verraten hat, sonst wäre ich nicht gekommen. Ich hatte ihn gebeten, es nicht zu tun. Er ist ein kranker junger Herr, Sir, und sehr arm, fürchte ich. Zu krank, um zum Feste nach Haus zu fahren. Er ist ganz verlassen und wohnt in einem Zimmer, das für einen vornehmen Herrn ziemlich ärmlich ist, unten im Jerusalemstift. Das ist alles, Sir.«