Weiß, Rot und Dunkel

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Weiß, Rot und Dunkel
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Carsten Wolff

Weiß, Rot und Dunkel

Die Geschichte einer Unzertrennlichkeit

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Einleitung

Szene 1 (Von der U-Bahn-Stimme und einer neu gewonnenen Freundin)

Szene 2 (Wie aus Janine Klara wird und ...)

Szene 3 (Wie wir Helmuts Schlüssel suchen und auf zwei Bomben stoßen …)

Szene 4 (Wie Paul und ich uns kennenlernen….. und nach Sylt fahren)

Szene 5 (Mein Freund Helmut: Wie aus Drei wieder Zwei wird und…)

Szene 6 (Paul und Klara: Wie aus Klara Janine P wird und …)

Szene 7 (Pauls Erinnerungen)

Szene 8 (Paul stirbt, Klara taucht wieder auf und …)

Szene 9 (Pauls Vermächtnis und sein langer Schatten)

Szene 10 (Klaras Krankheit)

Szene 11 (Wie wir uns wiedersehen ...)

Nachgesang (Über Schuhe und die Liebe ...)

Eine Nachbetrachtung

Impressum neobooks

Widmung

„Das ist aber meine Lehre: wer einst fliegen lernen will, der muss erst stehn und gehn und laufen und klettern und tanzen lernen – man erfliegt das Fliegen nicht.

Nur noch die Vögel sind über ihm. Und wenn der Mensch noch fliegen lernte, wehe! Wohinauf – würde seine Raublust fliegen!“

Aus Zarathustra von Friedrich Nietzsche

Für Anjelika, Daria, Conrad-Sebastian und Joachim Resch

Einleitung

Wenn es dunkel wird, fangen die Gedanken an verrückt zu spielen. Wilde Fantasien beschleichen mich, krabbeln wie Raupen langsam in mir hoch und fressen sich durch meine weiche Gehirnmasse, die sich immer wieder krampfartig unter den bohrenden Einwirkungen zusammenzieht und Ereignisse wie Blitze in mein Bewusstsein schleudert. Ich habe Angst! Ich bekomme Panik! Die Kehle schnürt sich zu, sodass ich schlagartig keine Luft mehr bekomme. Der Raum um mich ist zu klein geworden. Ich laufe auf die Straße hinunter, versuche, tief Luft zu holen und ruhig durchzuatmen. Dazu klammere ich mich mit beiden Händen an die Hauswand. Mein Herz rast! Augenblicklich sacke ich zusammen und …

Schweißgebadet erwache ich und ertaste meine Umgebung. Wo bin ich? Ich liege auf der Couch, mein Kopf ist in den Nacken gefallen, die Beine halte ich angewinkelt. Die Hände, die zuvor das Buch gehalten haben, nehmen jetzt eine andere Stellung ein. Während der linke Arm nahezu ausgestreckt auf der Couch ruht, ist der rechte von den Oberschenkeln gerutscht und hängt jetzt ohne Spannung rechts neben der Couch. Das Buch, in dem ich gerade noch gelesen habe, liegt aufgeklappt auf meinem Bauch und gleitet jetzt, als ich es mit der rechten wieder zu greifen versuche, polternd und mit einem dumpfen Schlag zu Boden. Ich zucke zusammen. Sofort bin ich hellwach. Erst jetzt spüre ich das wilde Schwirren im Kopf. Eigentlich ist es eher mit einem heftigen Treiben von Bienen zu vergleichen, die sich um den Stockeingang bemühen, drängend hinein oder hinaus wollen und dabei die Lautstärke wie ein großes Orchester auslösen und jede meiner Gehirnzellen schmerzvoll vibrieren lässt.

Ich hebe das Buch vom Boden auf, wobei mein Blick auf die letzten Zeilen fällt:

Wenn es dunkel wird, fangen die Gedanken an verrückt zu spielen. Wilde Fantasien beschleichen meinen Kopf, krabbeln wie Raupen langsam in mir hoch und fressen sich …

Szene 1 (Von der U-Bahn-Stimme und einer neu gewonnenen Freundin)

Mein Blick fällt auf die Uhr. Es ist schon spät, bereits über Mitternacht hinaus. Ich will nicht schlafen. Ich kann nicht schlafen. Und so entschließe ich mich zu einem nächtlichen Spaziergang. Ziellos laufe ich in der Innenstadt umher. Die Straßen sind wie leergefegt, so wie ich mich augenblicklich fühle: ziellos und leer!

Von irgendwo dringt leise Musik bis auf die Straße zu mir herüber. Ich blicke in die Richtung und entdecke ein Paar, das sich im Rhythmus zur Musik bewegt. Ich bleibe stehen und beobachte die beiden. Durch einen leichten Vorhang verschleiert nehme ich deren Körperumrisse als Schatten auf der Gardine wahr, wie sich die ganze Schwere ihrer Körper zu einem dunklen Hauch aus Stoff aufgelöst und der Schatten den Takt zur Musik aufgenommen hat und schwerelos zu schweben scheint. Deutlich beobachte ich die Umschlingung der beiden Körper, wie sie beide Figuren eins werden lässt. Allein der Anblick transportiert zu mir den Druck und auch die Wärme, so als befände ich mich gegenwärtig zwischen ihnen. Was für ein angenehmes Gefühl mich augenblicklich durchströmt, sich fest eingeklemmt zwischen den tanzenden, warmen Leibern zu wissen, den Rhythmus und den feuchten, heißen Atem zu inhalieren, inmitten der Herzschläge zu schwingen, das Tuch zwischen ihnen zu sein, das ihre sich begehrenden Körper noch trennt, welches gleichzeitig den Strom der vor Erregung austretenden Schweißperlen aufnimmt und damit die Körper noch näher zueinander bringt, wie miteinander verklebt. Ja, ich bin der Klebstoff ihrer Träume, der Kopf zu Kopf, Busen zu Busen, Arm zu Arm, Becken zu Becken und Bein zu Bein zusammenhält, das Männliche und Weibliche verleimt und für einen bewegenden Augenblick einer Melodie zu einem Akkord der Gefühle verschmelzen lässt.

Ich meine ein junges Paar erkennen zu können, beide von schlanker Statur, wobei sie ungefähr einen Kopf kleiner als er ist. Und während sie sich im Gleichklang wiegen, hält sie ihren Kopf nach oben gerichtet angelehnt an seine Schulter und Hals, währenddessen er seinen Kopf nach unten dicht an ihren anschmiegt. Was für ein schöner Anblick! Welch sexuell stimulierender Geruch von beiden ausströmt, der sich jetzt in meiner Nase und Lunge festsetzt. Ich versuche die nächste Zeit nicht zu atmen, um dieses Odeur der Liebe eine Weile fest in mir zu hüten.

Nach einigen Augenblicken reiße ich mich von dieser schwingenden Silhouette los und entschließe mich spontan, zur Reeperbahn zu fahren. Dort ist es um diese Zeit nie leer, während ich augenblicklich nur von leblosem Gestein umgeben bin, höchstens noch ein zarter Hauch des Paares auf meiner Iris silbern nächtlich ruht, der langsam zu verblassen droht. Dort ist auch niemand allein, denn um diese Zeit erwacht der Kiez aus seinem täglichen Schlaf und die geldgierige Maschinerie der Lust versprühenden Scheinwelt beginnt das Zepter über den Häuptern der fremden und einheimischen Begierden, der Suchenden, der Rastlosen und auch Neugierigen zu schwingen.

Von überall erschallen die Lockrufe aus den Eingängen der Bars:

»Na ihr Süßen! Kommt mal rein. Hier gibt es ALLES zu sehen, schöne Mädels, geile Ärsche, stramme Titten … da steht ihr doch drauf! Die Show beginnt gleich! Eintritt frei!«

Und bereits stolpern die Animierten geradewegs hinein und werden so zu einem Teil des großen Freudenschlundes, des Molochs der Triebe, um erst Stunden später wieder auf die Straße zurückgespuckt zu werden, angetrunken torkelnd, partiell erleichtert, den frühen Morgen und der aufgehenden Sonne aus der Dunkelheit blinzelnd gegenübertretend, trunken von der Musik, der Show, dem Alkohol, noch weitestgehend der Verwirrung der Sinne erlegen, benebelt, glücklich.

Der aus der Ruhelosigkeit geborenen Idee vereint mit angenehmen Gedanken an die Tanzenden besteige ich die Bahn Richtung Altona / Blankenese. Mein erster Blick schweift durch den fast leeren Waggon über die Sitze hinweg auf die Menschen, die dort auf ihren Plätzen lungern. War gerade meine Laune noch ungetrübt, gefriert das innerliche Hochgefühl augenblicklich wieder. Wohin bin ich nur geraten? Realität oder doch Scheinwelt? Umgeben von tristen, traurigen und irgendwie auch bemitleidenswerten Gestalten, die niedergeschlagen, passiv, teilweise alkoholisiert, ungepflegt dort in den Sitzen dümpeln, stehe ich hier wie deplatziert und verloren inmitten des städtischen Sumpfes des Tragikomischen an eine Haltestange geklammert und fühle mich wie eine Fehlinterpretation meines momentanen Schicksals. Jeder um mich herum verhält sich desinteressiert starrend, teilnahmslos, dumpf, schlafend oder gedankenlos verirrt, irgendwie verloren, erratisch, allein. Niemand von diesen Typen nimmt eine Notiz von mir, so als würde ich nicht existieren. Willkommen im Haus der Alleinstehenden, der Gedankentrödler, der Zeittotschlager, der armen Seelen, der Verloren gegangenen, die als Gruppe hervorragend in ein Theaterstück Brechts funktional eingebunden sein könnten und gerade jetzt von der Schicht kommend nach Hause fahren; nur eben ich passe nicht in die Szene, und bin nur von einem Gedanken beseelt, von keiner dieser Figuren angesprochen, angepumpt oder bedrängt zu werden, was sicherlich ohne Weiteres auch zu erwarten wäre. Eingeschüchtert suchen meine Augen den Nothilfeknopf für Passagiere und bleiben nach dem Auffinden wie bettelnd darauf kleben. Wäre es nur eine Szene aus dem besagten Theaterstück und keine Realität. Erst einmal fühle ich mich besser und stelle erleichtert fest, dass niemand etwas von mir will.

 

Herausgeholt aus meiner Kontemplation werde ich erst wieder, als sich jetzt eine freundliche Damenstimme aus dem Lautsprecher meldet und die nächste Station ankündigt. Diese Stimme steht in einem krassen Gegensatz zu den Gestalten um mich herum. Keiner würde ich auch nur annähernd eine solche freundliche sanfte Stimme zutrauen, eher nur ein von Rauch und Alkohol geschwängertes Gekrächzte. Doch Theaterstück? Während die Stimme weiter weich aus dem Lautsprecher klingt und auch um mich abzulenken, stelle ich mir die Dame bildhaft vor. Sofort entsteht eine Figur vor meinen Augen. Mitte dreißig, blond, groß gewachsen, nicht ganz schlank, auf kräftigen Beinen mitten im Leben stehend und auf jedem Fall sehr vollbusig!

Liebe Leser! Fragen sie jetzt nicht danach, warum ich mir die Dame so vorstelle, und intonieren sie nicht die Psychologie des Busens in Bezug auf Männerträume (oder auch Albträume!). Weiter: Angezogen im schlichten Stadtstil mit einem Kleid von sehr kräftiger roter Farbe. Ja, das Kleid sollte sehr satt rot leuchten, damit es ihre weiblichen Konturen nachdrücklich unterstützt und auch ihre Stimme viel eindringlicher, nachhaltiger und vor allem viel reizvoller zur Geltung bringt, als es jetzt augenblicklich aus dem schmaltonigen Lautsprecher klingt. Verheiratet? Kinder? Das kann ich ihren Lauten nicht entnehmen, ist eigentlich auch egal. Ach ja, beinahe hätte ich ihre Schuhe vergessen. Es müssen unbedingt … doch weiter komme ich nicht mit meinen Gedanken, denn der Zug bremst plötzlich stark ab und die Haltestelle Reeperbahn ist bereits nach wenigen Sekunden erreicht. Ein wenig enttäuscht bin ich schon über die Bahn, während ich bereits die ersten Schritte auf den Bahnsteig setze. Diese hätte mir noch gern einige Augenblicke gewähren können, weiter über die nette Blonde und vor allem über die fehlenden Schuhe wie etwa über gewagte hochhackige Pumps, flache Ballerina, vielleicht sogar Stiefeletten sinnieren zu lassen? Leider ist keine Zeit mehr für gedankliche Umziehaktionen dieser Art vorhanden, und so bleibt für den Augenblick die Lautsprecherstimme erst einmal unfertig und barfuß, denn jetzt erreiche ich bereits die Stufen zum Ausgang Nobistor und kann von dort die Reeperbahn stadteinwärts zurücklaufen.

Frischer Wind vom Hafen empfängt mich, als ich wieder auf der Straße stehe, und auch der Geruch vom Wasser der Elbe umspült meine Nase. Eine lebendige, typische und kräftige Hamburger Mischung aus Stadt und Elbwassergerüchen, die frische Gedanken und neue Kräfte entfachen lässt. Wie erwartet ist viel Bewegung auf der Straße. Kreuz und quer laufen junge Leute vor meinen Augen herum. Hastig, rastlos getrieben, so als würden sie etwas verpassen, zumeist gut und nach der neuesten Mode gekleidet, soweit ich es beurteilen kann. Vermutlich beruht diese Hast auch auf der Tatsache, dass diese jungen Menschen von der Suche nach einem schnellen Erlebnis getrieben werden, wobei ich gedanklich in mich hineingrinsen muss und mich selbst in ihnen wiedererkenne. Davon, dass ich in diesem Alter genauso unstetig gewesen bin, es damals noch nicht antizipiert habe, dass es auf diese Art und Weise nicht mit der »Liebe« klappen kann. Weibliche Intuition sieht sofort das blinkende Schild mit den großen Lettern auf der Stirn der so genannten Häscher »ich will dich rumkriegen, flachlegen« und schaltet augenblicklich auf gelangweiltes Desinteresse um. Die homozygote XX-Kombination will umhegt und geschmeichelt und nicht im Sprung begattet werden. Gerade jetzt geht solch kleine Gruppe hungriger Wölfe an mir vorbei. Ich spüre, ja, ich rieche die Aura des Verlangens nach der Jagd, die mit dem Wittern der Beute beginnen und mit dem Einkreisen und erbarmungslosem Zuschlagen enden soll. Unverständnis! Denn bei mir schindet diese Windbeutelei keinen Eindruck, sondern ruft eher das Gefühl von Souveränität hervor.

Vereinzelt tauchen zwischen den Gruppen immer wieder die ganz »armen Teufel« auf, die im wahren Sinne des Wortes sich auf dem Boden der Realität befinden und in den Eingängen und Ecken der Straßen lagern. Heruntergekommene, Penner, Bettler, Säufer jeglichen Alters, aus welchen Gründen auch immer Gestrandete und Gescheiterte, die sich von den Vergnügungssuchenden eine Spende erhoffen, zumeist um davon Alkohol zu kaufen, obgleich auf deren aufgestellten Schildern regelmäßig zu lesen steht: Bin hungrig, habe nichts zu essen, bin wohnungslos! Jedenfalls deutet alles auf das Erstgenannte hin, denn neben ihnen stehen bereits etliche geleerte Flaschen alkoholischer Getränke. Aus den offenstehenden Mündern weht der Geruch von billigem Fusel zu mir herüber, während gleichermaßen die frische Hafenluft für diesen Atemzug zurückgedrängt wird.

Am Hans-Albers-Platz kenne ich eine kleine Bar, die um diese Uhrzeit ähnliche Typen wie mich zu ihren Gästen zählt, und vermutlich sind auch heute Nacht wieder jede Menge Schlaflose anzutreffen. Als ich nach dem Griff taste und die Tür aufziehen möchte, verlässt ein Paar die Kneipe und so schlüpfe ich durch den geöffneten Eingang ins Innere. Der Raum ist gut gefüllt, wie ich mit einem Blick feststellen kann und wie ich es auch nicht anders erwartet habe. An der Bar ist keine Lücke zu entdecken, schade eigentlich, und so steuere ich auf den nächsten freien Platz gegenüber dem Tresen zu. Alkohol trinke ich nicht und bin damit eher deplatziert, denn als nennenswerten Umsatzträger kann ich mich als Cola-Light-Trinker nicht gerade auszeichnen, und genau das provoziert, während ich meine Bestellung aufgebe, regelmäßig spitze Bemerkungen.

Mit dem Rücken an den Tresen gelehnt entdecke ich eine Blondine in einem roten Kleid mit einem erstaunlich tiefen Ausschnitt (wobei es für diesen Ort nicht erstaunlich ist). Eigentlich sollte dieses dralle Weib Sorge haben, dass sich ihr Busen jederzeit bei einer schnellen Bewegung verselbstständigen und heraushüpfen könnte (hat sie selbstverständlich nicht!), worauf vermutlich mehrheitlich die männliche Kundschaft spekuliert, wie leicht an den teils versteckten und andererseits offen zutage getragenen ungenierten Blicken samt hängenden Zungen zu erkennen ist, und sicherlich manch Anwesender zu einer Wette sogar darauf nicht abgeneigt wäre.

Lieber Leser, und hier wende ich mich einmal ganz gezielt an die männliche Leserschaft: Wer den Kiez nicht kennt, wäre zu einer solchen Wette bereit, wer hingegen Kiezgänger ist, reagiert eher gelassen und unaufgeregt. Wie oft habe ich es schon sehr zum Gefallen der anwesenden Herrn miterlebt, wie diese pralle Weiblichkeit gegen ein Getränk und unter gleichzeitigem starken Aufmunterungsbeifall auf diese Art und Weise gern zur Schau gestellt wurde. Wie spontan die großen prachtvollen Äpfel von ihrer Trägerin herausgeschüttelt wurden, sie wie reifes Obst bei einem lauen Lüftchen zu Fall kamen, nicht aber auf den Boden prallten, sondern mit der Trägerin trotz des großen Gewichtes fast unerwartet verbunden blieben und wie von einem unsichtbaren Gummiband gehalten hin und herpendelten und kaum zur Ruhe kommen wollten, bevor sie anschließend wieder an den eigentlichen Aufbewahrungsort zurückgestopft wurden, bereit für den nächsten Auftritt. Allzu häufig zusätzlich mit ein paar lockeren Sprüchen von der Eigentümerin und Halterin begleitet wie: »Damit du auch mal was Richtiges zu sehen bekommst, Süßer!«

Heute Nacht wäre einmal wieder Zeit für eine solche kleine Showeinlage. Potenzielle Gäste für einen solchen Auftritt sind jedenfalls in genügend großer Anzahl anwesend und auch bereit.

Als sich unsere Blicke treffen, ruft sie mir zu:

»He, Kleiner! Lass uns die Nacht zum Tag machen!«

»Wer?«

»Ja, du!«

»Also ich!«, und ich deute mit dem Finger auf mich.

»Kleiner?« Habe ich da richtig gehört? Bei meiner Größe von 190 cm fühle ich mich keineswegs geschmeichelt. Bereits im nächsten Augenblick schiebt sich dieser mächtige Oberbau gefolgt von ihrem Körper zu mir an den Platz heran und hält mir ihre pralle Weiblichkeit direkt vor Augen. Mindestens Körbchengröße 80D (wobei eigentlich von Korbgröße gesprochen werden sollte) mit sicherlich einem dicken Doppelplus dazu, darauf schätze ich spontan die massigen Dinger ein.

»Ich bin zwar Antialkoholiker, habe um diese Zeit keine Lust auf Milch«, sage ich und versuche vorbei an diesen immensen Brüsten ihr ins Gesicht zu schauen. Düpiert zieht sie ihren Busen zurück, eigentlich wäre eher Euter der treffende Ausdruck für diese Pracht, zumal sie von mir offensichtlich erwartet hätte, eine Schmeicheleinheit über ihre drallen Ausmaße zu hören.

»Du kannst wohl nicht mehr, Kleiner!«, antwortet sie laut hörbar für alle Umstehenden und lacht dabei. Ein wenig frech und unangemessen, wie ich finde. Aber wie drückt es der Volksmund so treffend aus: Wie man in den Wald (hier: Animierbar) hineinruft, so schallt es heraus! Schließlich habe ich die erste Spitze gesetzt. Aus diesem Grund möchte ich auch nicht weiter diskutieren, was ich kann oder auch nicht kann und überhaupt können sollte, dürfte, möchte et cetera, jedenfalls hier und heute nicht. Bin ich doch zum Amüsieren und nicht zum Anbändeln hierhergekommen. Und dennoch geht schon ein gewisses Prickeln aus dieser Situation hervor, weil sie sich offensichtlich auf mich fixiert hat, und genau deshalb fordere ich sie auf, sich zu mir zu setzen, möglicherweise auch, noch weiß ich es nicht so genau, um mir weiteren Hohn und Spott von ihr und anderen Gästen zu ersparen. Schlagfertig ist sie ja und zur Kurzweil willkommen!

»Du heißt bestimmt Janine?«, frage ich sie direkt und gebe damit gleichzeitig auch ihrem Zwilling, der U-Bahn-Stimme, einen Namen.

»Wenn du es möchtest, heiße ich Janine für dich, Kleiner! Und wenn du etwas Kleingeld dabei hast, kannst du Janine zu einem Sekt einladen.«

»So bescheiden?«, denke ich mir, ohne es auszusprechen. Sie aber scheint meine Gedanken (weibliche Intuition!) augenscheinlich erraten zu haben und fügt hinzu:

»Es darf natürlich auch Schampus sein!«

Na bitte, die Verständigung klappt doch ausgezeichnet, auch ohne etwas auszusprechen, und eigentlich könnte das Gespräch gleich auf diese angenehme Art und Weise fortgeführt werden.

»Genehmigt«, nicke ich zustimmend und schon ruft Janine laut durch die Bar: »Einen Schampus für mich und für meinen leichten, kleinen Begleiter Cola-Light auf seine Rechnung!«

»Wer von uns ist eigentlich leicht?«

»Wohl von Beruf Spaßvogel und Fragensteller!«, kommt es prompt zurück.

Bislang habe ich mein Gegenüber nicht sehr interessiert und eher oberflächlich gemustert, aber jetzt, wo sie mir nun einmal vis-à-vis sitzt, fange ich an, sie genauer zu betrachten. Das heißt, den Rest der Dame, der durch ihre mächtige Oberweite gerade nicht verdeckt wird und der ihren Körper horizontal in zwei Teile, in ein Darüber und ein Darunter, unterteilt. Blond gefärbt, circa 1,65 m groß, normal gewichtig (ohne Oberweite), leuchtend rotes und sehr eng geschnittenes, figurbetontes Kleid, eindeutig kurz, sodass auch die Beine für den Betrachter sehr schön zur Geltung kommen, passende rote Pumps mit einer Absatzhöhe von mindestens 12 cm. Mein Herz geht auf. Unter ihrem Kinn tritt ein leichter Fettansatz zum Vorschein, der aber nicht wirklich stark ausgeprägt ist. Immer wenn sie spricht und das Kinn dabei nach unten bewegt, bildet sich diese typische kleine Fettrolle aus.

Bei Fremden, denen ich begegne, schaue ich zuerst auf diese Kinnpartie. Diese Region, mit der von mir so titulierten Unterkinnfettrolle, wenn sie sich wie eine Welle im Wasser beim Sprechen fortpflanzt und mit jeder Mundbewegung aufs Neue in Bewegung setzt und dabei hin und her rollt wie ein Schiff im Seegang, empfinde ich als viel interessanter, als sich im Gegensatz dazu auf die typischen weiblichen Merkmale wie Busen, Po und Beine zu fixieren. Diese mögen sexuell sehr stimulierend wirken, was ich auch nicht absprechen oder herunterspielen will, sind aber eben nicht so außergewöhnlich und wandlungsfähig, wie diese kleine spielende Fettrolle. Ja, ich bekenne mich. Ich bin ein Unterkinnfettrollenfetischist!

 

Liebe Leser, sollten Sie bislang noch nicht diese Neigung bei sich entdeckt haben, möchte ich hiermit Werbung in eigener Sache für diese meine Schwäche machen. Die sexuellen Merkmale besitzt jeder Mensch in unterschiedlichen Ausprägungen, stärker oder schwächer, runder oder eckiger, kleiner oder größer, dabei häufig auch nicht zum übrigen Körper proportioniert (wie bei Janine!), und wurden bereits in Millionen Romanen, Filmen ausgiebig thematisiert. Aber nicht so die so benannte Unterkinnfettrolle, womit sie einen Hauch von Exklusivität des Trägers aussendet und damit eine spezielle Individualität, das gewisse Etwas der Person unterstreicht. Nur wenn ein Mensch sehr markante Gesichtszüge oder besondere Abnormitäten aufweist wie etwa eine große Nase, einen breiten Mund, wulstige Lippen oder ähnliches, werde ich von meinem Augenschmaus Unterkinnfettrolle abgelenkt. Glücklicherweise kann ich bei Janine keine anderen Auffälligkeiten außer ihrem Busen, der hier bereits genügend gewürdigt worden ist, entdecken. Ihr Gesicht ist rundlich und ohne weitere nennenswerte Besonderheiten. Einzig ihr aufdringlich roter Mund wird später noch schnappartig unheilvoll in den Vordergrund treten. Die meisten, fast möchte ich so weit gehen zu sagen, »alle außer mir«, Menschen nehmen dieses Fettrollenspiel entweder nicht wahr oder würdigen es nicht so, wie ich es tue. Zum Glück, denn damit kann ich diese exklusive Ambition für mich beanspruchen. Bedauerlicherweise ist auf diese Beobachtung und Beschreibung kein Patent möglich, sonst wäre ich bereits stolzer Besitzer dieses Anspruches »Patent auf Klassifizierung der menschlichen Unterfettkinnrolle« und die Urkunde würde eingerahmt einen Ehrenplatz in meinem Arbeitszimmer eingenommen haben. Auf meine Anfrage beim zuständigen Amt hat man mir dort »sehr technisch« geantwortet: Patente auf derartige Beobachtungen gäbe es nicht, sondern nur auf neue technische Erfindungen! Schluss aus! Aber auch diese Aussage empfinde ich nicht als Niederlage. Nein, ich gehe soweit, in dem ich denke, dass die Öffentlichkeit nicht nur einen Anspruch auf meine Beobachtungen und auch Klassifizierungen der Unterkinnfettrolle besitzt, sondern zugleich diese Betrachtungen und Aufzeichnungen Eingang in die Schulmedizin und Wissenschaft finden sollten. Sämtliche Bestrebungen meinerseits in diese Richtung sind bislang auf Unverständnis und auch Ablehnung gestoßen. Und so habe ich beschlossen, mich zukünftig nicht mehr mit dieser »blockiert wissenschaftlichen« Ignoranz auseinandersetzen, und werde demnächst neue, andere Wege beschreiten, diesen unverzichtbaren ästhetischen Aspekt den Mitmenschen nahe zu bringen.

Häufig gehe ich nur aus diesem einen Grund unter die Leute, suche mir einen geeigneten Platz, von dem aus ich die Beobachtungen vornehmen kann, um eben dieses Spiel der Fettwellen genauestens zu betrachten und zu klassifizieren. Die Probanden sind dabei für mich nicht nur völlig nebensächlich, sondern nur das synchrone und asynchrone Wogen und Wabbeln der Fettpolster nimmt mein volles Interesse in Anspruch. Und je aufgeregter die Menschen sprechen, umso hektischer sind auch ihre Polster in Bewegung. Dieses Spiel ist so faszinierend, dass sich meine Hände sogleich ins Zentrum des Geschehens einbringen möchten, ich sie leider im Zaum halten muss, um nicht sofort aufzuspringen und der betreffenden Person unter das Kinn an das rollende Fett zu greifen, solch einen großen Reiz übt diese simple Rollbewegung auf mich als Fetischist aus.

Im Bekanntenkreis spreche ich nicht darüber, vermutlich würde ich für absonderlich erklärt, wobei anzumerken ist, eine Marotte oder wie ich es zu nennen pflege »einen besonderen Handlungsbedarf«, besitzt nahezu jede Person, einschränkend jedenfalls jede aus meinem Bekanntenkreis. Schließlich halte ich meinen Bekannten auch nicht ihre Marotten vor wie beispielsweise ehrfurchtsvoller wöchentlicher Autoputz oder manischer Kaufzwang in den Geschäften der Hamburger Innenstadt. Wie einfältig und wenig konstruktiv sind doch diese Handlungen, sich an lackiertem Blech eingehend zu ergötzen oder Käufe tätigen zu müssen, gegenüber diesen zeitintensiven und immens wichtigen Beobachtungen der sehr speziellen Charakteristiken von menschlichen Unterkinnfettrollen. Beobachtungen des lebendigen Spiels der Haut vice versa Mysophobie (bekannt geworden unter anderem durch Howard Hughes) wie auch Oniomanie. Man stelle sich vor: Wie friedlich die Welt sein könnte, würde es mehr Leute wie mich geben, anstatt mit Äußerlichkeiten oder Besitztümern zu protzen und Missgunst zu provozieren oder zu sähen. Aber genau das bleibt den Ignoranten verborgen.

Als erfolgreichen Ausweg aus dieser Situation erscheint die Einrichtung eines Internetportals zu sein, um eine Plattform für dieses extrem wichtige, leider viel zu wenig beachtete, Merkmal zu erhalten und dort gleichsam zur Diskussion zu stellen. Was könnte dort beispielsweise präsentiert werden? Die verschiedenen Ausprägungen der Fettansammlung beispielhaft in Bild, Wort und auch als Video, ein Forum zur Äußerung über Erfahrungen mit diesen speziellen Rollen, Glücks- oder Unglücksäußerungen (wobei das Letztere eher unwahrscheinlich ist, wenn man eben wie ich die Menschen beobachtet) der stolzen Träger über dieses überproportionale Fettphänomen, weltumspannende Untersuchungen der verschiedenen Menschen, historische Vergleiche aus der Geschichte der Menschheit, spezielle Mode für diese Kinnregion, praktische Tipps im bestmöglichen Umgang mit der Fettrolle, sowie Pflege (Rasur, Cremes, Kosmetika) und zum Schluss vielerlei Tipps für ein spezielles Fitnesstraining dieser sensiblen Gesichtsregion. Unglaubliche Möglichkeiten erscheinen durch diese Veröffentlichungen möglich zu werden, immer verbunden mit einem Aufruf zu Kreativität im Umgang mit der partiellen Fettleibigkeit. Menschheit verständigt euch mittels eurer Unterkinnfettrollen, anstatt euch in unnötigen, strapazierenden und ewig im Kreis drehenden Diskussionen aufzureiben!

Selbstverständlich ist dieses Wissen auch meinem vor Weiblichkeit strotzenden Gegenüber verschlossen, was sie dort für einen Schatz unter ihrem Kinn trägt, und so überlege ich mir, ob ich nicht trotz der fortgeschrittenen Stunde missionarisch tätig werden sollte.

Deshalb erst einmal zurück zu ihrer Frage.

»Nein. Kaufmann und Gelegenheitsschreiber. In schlechten Zeiten muss man flexibel sein. Und du kommst bestimmt nicht aus Hamburg, eher zugereist oder auf Suche?«, spekuliere ich, in freudiger Erwartung ihrer Antwort mitsamt dem Spiel ihrer gepolsterten Kinnpartie.

»Auf Suche! Das würde es wohl am ehesten treffen«, erwidert sie mir und ihre Rolle läuft dabei vor Entzücken mehrfach hin und zurück.

»Ich komme aus Berlin!«

Und um es zu beweisen, verfällt sie vorübergehend in den Dialekt.

»Aber dort ist die Situation schlechter, hat man mir erzählt«, entgegne ich ihr.

»Ich versuche es gerade herauszufinden. Und so schlage ich mich hier in Hamburg durch.«

Habe ich also recht gehabt, denke ich mir und fixiere ihr Gesicht. Für ihr rundes Antlitz ist ihre Nase ein wenig zu schmal. Ihre Augen sind durch einen kräftigen schwarzen Lidstrich und die aufgetragene Farbe betont und künstlich vergrößert. Die Lippen sind mit einem leuchtenden Rot besonders stark hervorgetönt. Dieses blendende Rot ist nicht nur ein Signalgeber für Fantasien, sondern auch ein Magnet für männliche Augen, eine Bastion der Verführung. Tief in die Stirn hinein gekämmt hängt ihr Pony und soll so vermutlich das wahre Alter verdecken helfen. Diese kleinen, gemeinen Kunstgriffe der Damenwelt, nur um vom kalendarischen Alter abzulenken und um ein paar Jahre zu erbetteln! Sie mag etwa dreißig Jahre alt sein, möglicherweise die Dreißig bereits überschritten haben. Hat sie solche Tricks überhaupt nötig?

Für viele Männer ist Janine gewiss sehr reizvoll und attraktiv. Sehr weiblich, sehr ausgeprägte Kurven, die klassische Coca-Cola-Flaschen-Form, und eben diese große Oberweite mit D plus. Was mich an ihrem Aussehen stört, sind die billig gefärbten, blondierten und aufgebauschten Haare. Da kommt die Rückständigkeit der Provinz zum Vorschein, nicht jedoch die Großstadt und schon gar nicht Berlin. Aber ich bin ja hier nicht auf einer Model-Party, sondern inmitten des Amüsierviertels von Hamburg auf dem Hans-Albers-Platz nachts um 2 Uhr, wo die Damenwelt in der Mehrheit sehr leicht umfallend ist. Dennoch bin ich erpicht darauf, den Hals und die Hände zu erkunden, eigentlich mehr als Spiel angedacht und nicht aus irgendeinem weitergehenden Interesse heraus. Und so frage ich unverblümt nach: