Weiß, Rot und Dunkel

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»Hast du heute schon etwas gegessen?«

»Etwas ja!«

»Etwas wenig ja«, füge ich an.

»Wenn du den Schampus ausgetrunken hast, spendiere ich dir noch ein Essen. Aber nicht hier, nur ein paar Schritte weiter.«

Mittlerweile wirkt der Alkohol bereits deutlich. Ihre Bewegungen werden ausladender und auch ihr Mund steht nicht mehr still. Immer wieder fallen Sätze: wie »ungerecht die Welt doch sei, welch schweres Schicksal sie doch habe« und so weiter. Ich höre nur mit halbem Ohr zu, sind mir diese Phrasen doch sehr geläufig. Währenddessen pendeln meine Gedanken hin und her zwischen den Warnungen der Mutter: »Du wirst doch wohl nicht ein unbekanntes Frauenzimmer mit nach Hause nehmen wollen!« und Worten der Heilsarmee, die ihre Vertreter speziell auf die sündige Meile schickt und die dort von Brüderlichkeit, Nächstenliebe und überhaupt von Liebe zwischen den Menschen singt und spricht (und eher nicht von käuflicher Liebe redet).

Kaum sind wir auf der Straße (ich stütze meine betrunkene Bekanntschaft), da laufen wir geradewegs einer der vorgenannten missionarischen Abordnung direkt in die Arme, worauf die Damen und Herren sich unverzüglich veranlasst sehen, ihren Singsang anzustimmen. Und wie das so ist mit Wein, Weib, Gesang und Heilsarmee und vor allem Brüderlichkeit, läuft es wieder nur darauf hinaus, dass ich mein Portemonnaie zücke und der fröstelnden Kapelle ein paar Taler zustecke. Auch meine Partnerin meldet sich lautstark beim Anblick der Truppe in Schwarz zu Wort und fängt beherzt an, diese Leute zu dirigieren und dann auch noch selbst zu tirilieren. Wozu tue ich mir das eigentlich an? Habe ich nicht genügend eigene Probleme, frage ich mich bei dieser Betrachtung und schrägen Klangvielfalt. Schnell ziehe ich meine neue Bekanntschaft an mich heran, bevor sie noch bekehrt bei diesen Leuten bleibt, obgleich es ihr nach ihrem vorherigen Gejammer nicht schaden könnte.

»Es gibt doch gute Menschen«, säuselt sie mir ins Ohr.

»Ich denke, einen davon hast du im Arm!«

»Das kann ich noch nicht beurteilen. Aber wir wollen etwas essen gehen.« »Richtig! Essen und nicht philosophieren oder gar die Welt verbessern wollen. Das machen bereits die Damen und Herren vis-à-vis von uns.«

Noch nicht genug damit! Von Weitem hören wir jetzt ein Gegröle aus rauen Männerkehlen. Nichts Ungewöhnliches zu dieser Zeit. Hinter einer Häuserecke tauchen sechs Matrosen auf, ausgelassen singend und tanzend mit ihren Mädchen im Arm.

Die 6 grölenden Matrosen (Teil I)

Ob Hamburg, London, Tokyo, Schanghai---i (Refrain)

Das ist uns Sechsen einerlei---i

Wir sind die grölenden Matro---osen

Mit starken Armen, strammen Ho---osen

Von weit schon hört man unser Si---ingen

Die Mädels unruhig, fangen an zu spri---ingen

Nur eines haben sie im Si---in

Die grölenden Matrosen, geschwind dorthi---in

Janette, Mai-Ling, Fru-Fru auch Ca---armen

So herrlich klingen ihre Na---amen

Parfüm, Schmuck, Seide, Porzellan, gebt A---acht!

Teure Geschenke haben wir euch mitgebra---acht

Die Haare blond, schwarz, Kaffeebrau---un

Hauptsache süß, nett anzuschau---un

Der Körper knackig und sehr ju---ung

Der Busen groß, der Po sehr ru---nd

Die feinen Beine rank und schla---ank

Sie fliegen hoch von Stuhl zu Ba---ank

Sind kerzengerade, fast ohne E---ende

Ein Hort der Augen und auch Hä---ände

Den süßen Mädels ist nicht ba---ang

Gehen saufen, huren mit uns tagela---ang

Erst wenn die Heuer ist hinfo---ort

Gehn wir sehr glücklich zurück an Bo---ord

Zum Abschied stehen sie am Pi---ier

Mit Tränen singen sie: Wir warten hi---ier

Bis ihr zurück seid irgendwa---ann

Gute Fahrt Matrosen! Bis später da---ann!

Nur wenige Schritte weiter sind wir bereits im Speiselokal gelandet. Ein kleines, aber sehr nettes Lokal, in denen sich etliche Leute befinden, denen der Hunger um diese Zeit einen Streich spielt, vermutlich als Folge des vorherigen Alkoholgenusses.

»Bestell etwas Kräftiges für mich und auch ein Glas Schampus (an dem sie wohl Gefallen gefunden hat), der macht die Nacht so leicht und auch erträglich. Und lauf mir nicht weg, Kleiner, ich kann die Bestellung nicht bezahlen!«

»Keine Sorge, schließlich möchte ich mein »gutes Werk« noch heute vollenden.«

Hastig und ungalant wirft sie mir einen Handkuss zu und entschwindet schnurstracks auf die Toilette. Während ich noch mit Gedanken ringe, kommt Janine bereits zurückgewankt, lachend und mit ausladenden Gesten. Ist ihr auf der Toilette noch eine geöffnete Schampusflasche über den Weg gelaufen? Genüsslich schaue ich mir ihr ungeschicktes Treiben und ihre Flugbewegungen an, wobei ich noch einmal auf ihre voluminösen Brüste zurückkommen muss, die ihrerseits den Takt der Bewegung aufzunehmen versuchen, sofort aber dem physikalischen Gesetz der Trägheit unterliegen und so nur beschwerlich träge hinterherzuwackeln vermögen. Ist es der Reiz, diese Riesendinger in die Finger zu bekommen, oder fühle ich mich zwingend an kindliche Frühreize erinnert, möglichst schnell der nährenden Flüssigkeit habhaft zu werden und den erfolgreichen Saugreiz ausleben zu können? Offensichtlich überzeugt diese pralle Weiblichkeit nicht nur mich, sondern auch andere Anwesende, die schmachtend ihren Blick zielgerichtet auf diesen runden Erhebungen ruhen lassen. Überhaupt ist mittlerweile bei mir ein gefühlsmäßiger Umschwung eingetreten. Habe ich zuvor eher eine belustigende und distanzierte Rolle als amüsierter Beobachter eingenommen, hat sich nunmehr Begierde bei mir eingestellt, ausgelöst vermutlich durch den hohen Aspartamanteil in der Cola-Light?

Der Reiz ihrer Rundungen lässt mich jetzt mehr als unruhig werden. Was sehe ich eigentlich in ihr? Als Typus spricht sie mich eigentlich nicht an, da ich die schlanke, knabenhafte, eckige Erscheinungsform bevorzuge. Und klick, als würde ein Schalter umgelegt werden, springt mir plötzlich der Gedanke ins Gehirn: Janine ist die fleischlich gewordene U-Bahn-Stimme und damit verbunden ist meine unglaubliche Einbildungskraft. Wer außer mir, ausgenommen ihr Freund oder Mann, sollte sie tatsächlich liiert sein, kann schon von sich behaupten mit der Hamburger U-Bahn-Stimme geschlafen oder es zumindest versucht und damit nahezu exklusiv besessen zu haben. Wirklich! Bei diesen Gedanken scheint sich mein Gesichtsausdruck verändert zu haben, jedenfalls bemerkt es Janine sofort (weibliche Intuition) und empfängt mich mit den Worten, während sie schlingernd auf mich zuschwingt:

»Na Kleiner, du guckst mich so erwartungsvoll und lüstern an!«

Ich fühle mich ertappt. Sogleich steigt Hitze und vermutlich Röte in mir auf und ich beginne, nach Ausreden zu suchen. Da ist es wieder dieses Schild, das nur die Frauen sehen können! Schlagfertig kommt sie mir zuvor:

»Hast du jetzt doch Lust auf Milch bekommen?«

Jetzt fühle ich mich erst recht überrumpelt und ringe nach Worten.

»Janine, du scheinst mir sehr hungrig zu sein!«

Mit diesem Satz versuche ich meine Lockerheit und Souveränität zurückzugewinnen, während das Blut unaufhörlich in der Schläfe pocht und nicht nur dort. Literweise, so fühlt es sich jedenfalls an, scheint es in die Leistenregion zu schießen, was dort zu einer Dauerverhärtung führt, sodass ich mit jedem Pulsschlag ihr ins Gesicht schreien könnte: Ich will dich haben, hier gleich auf dem Tisch! Glücklicherweise löst sich meine Zunge nicht, die Gefahr einer Freud'schen Fehlleistung droht dennoch jederzeit. Rettend kommt in diesem Augenblick der Kellner mit dem bestellten Essen herbeigeeilt, wobei er sich beim Hantieren mit der Speise sehr ungeschickt anstellt, da auch er seine Augen von der üppigen weiblichen Pracht meiner Begleiterin nicht nehmen kann oder will. Auch bei ihm scheinen sich augenblicklich die physikalischen Gravitationskräfte nur auf einen Punkt zu fixieren: Janine‘s Busen!

Ich habe ihr Fleisch bestellt, zartes Steak, damit sie zu Kräften kommt und auch der Alkohol ein wenig zurückgedrängt wird. Und damit sie gar nicht weiter zum Sprechen und Flirten kommt, schneide ich sofort ein mundgerechtes Stück von diesem Stück ab, aus dem noch der blutige Saft quillt, gleich dem, der immer noch reichlich in meiner Lende vorhanden ist und damit archaische Instinkte nährt, und führe es ihr zum Mund. Rein damit! Sie schnappt danach und schlingt es gierig runter.

»Füttere mich weiter, Kleiner, das gefällt mir!«, ruft sie sehr lustvoll und führt dabei eine weitere Schnappbewegung in meine Richtung aus. Stück für Stück blutiges Fleisch verschwindet zwischen ihren rot geschminkten Lippen und wird sofort verlangend von ihren weißen Zähnen zermalmt, so als wollte sie mich gleichzeitig mit verzehren. Ich spüre förmlich, wie die Fleischstücke aus meiner Lende gerissen in ihrem zupackenden Schlund verschwinden. Stück für Stück von mir, und ich kann mich ihren Zähnen nicht erwehren. Haifischartig gierig lustvoll verschlingt sie mich in kleinen Happen, so als wäre ich ein herrlicher Schmaus, eine Beigabe, ein lustvoller Bissen, ein süßes Dessert. Stopp! Haaaalt! Merkt denn keiner der anderen Gäste, wie ich langsam abnehme und entschwinde? Und will mir niemand seine Hilfe anbieten? Angstvoll drehe ich mich um, doch niemand nimmt Notiz von mir. Bin ich schon nicht mehr da und gänzlich verspeist worden? Meine Hand fährt hastig an mir hinunter. Mit Erleichterung finde ich mich selbst samt der immer noch vorhandenen Verhärtung wieder. Jetzt stürzt sie auch den Schampus in einem Zug runter und bestellt sich sofort ein weiteres Glas des perlenden Saftes trotz meiner Einwände, die aber sofort mit einer ausladenden Handbewegung weggewischt werden und die offensichtlich besagen soll: Das ist meine Nacht und du hast mir nichts zu sagen, Kleiner (außer zu bezahlen). Und während ich sie füttere, benutzt sie die Gelegenheit unter dem Tisch an meinem Bein herumzureiben und dabei nach meinem besten Stück zu fingern, dass ich mich ihrer Übergriffe geradezu erwehren muss. Reichen ihr mein Fleisch und auch mein Saft nicht? Geradezu gierig schmachtend verzehrend lächelt sie mich an.

 

Das Bild schlägt um. Jetzt sitzt mir nur noch ein riesiger rot umrandeter alles verzehrender Schlund gegenüber, nur darauf lauernd, dass ich einen Fehler begehe, um mich mit einem Mal zu verschlingen. Er fixiert mich, jederzeit bereit zum Sprung, zum finalen Biss. Apathisch schließe ich die Augen, um diesem Eindruck zu verscheuchen. Doch auch dort befindet sich dieser riesige Rachen, lüstern, fordernd. Irgendwann muss er doch verschwinden! Aaaah!

»He Kleiner, was ist mit dir? Geht es dir nicht gut? Trink etwas, damit die Nacht dich umgarnen kann«, säuselt sie unnatürlich sanft lauernd heraus.

Jetzt kommt ihr großer Schlund, öffnet sich und will mich schnappen. Entsetzt springe ich auf und renne zur Toilette. Kaltes Wasser muss her, um die grauenvollen Gedanken und Bilder fortzuspritzen. Träge schaut mir Janine hinterher und sagt etwas, was ich jetzt nicht mehr wahrnehme. Ich sehe nur ihre Lippenbewegungen, höre aber keinen Laut aus ihrem Mund. Minutenlang, so kommt es mir jedenfalls vor, spritze ich mir kaltes Wasser ins Gesicht. Nur noch klar werden, klare Gedanken bekommen. Da wird die Tür aufgestoßen und der Kellner ruft mir zu:

»Kommen sie! Ihre Freundin liegt auf dem Tisch!«

Wir laufen ins Lokal zurück. Und tatsächlich bemühen sich gerade ein weiterer Kellner und ein Gast um Janine.

»Es geht schon in Ordnung. Ich übernehme jetzt. Bringen sie mir die Rechnung und rufen sie mir ein Taxi«, höre ich mich sagen mit einem gequält aufgesetzten Lächeln (und erschrecke augenblicklich bei meinem Gesagten).

»Kein Problem, ist Tagesgeschäft«, kommt es prompt zurück.

Zu zweit richten wir Janine auf, wobei sie nur trunkene Laute fabriziert, ziehen ihr den herbeigeholten Mantel über und stützen sie, eigentlich schleifen sie vor die Tür. Draußen wartet bereits der Taxifahrer, der nun beim Einladen hilft. Ich entschuldige mich und fasele irgendetwas von Tabletten und so ... Aus dem Augenwinkel sehe ich wie der Fahrer grinst und dann ganz bestimmend zu mir sagt:

»Wenn sie mir das Auto vollkotzt, zahlen sie die Reinigung!«

»Ja, ja, nun fahren sie endlich los.«

Während der Fahrt halte ich Janine fest im Arm, die wie bewusstlos niederliegt. Ihren Kopf fixiere ich zusätzlich, damit er nicht ständig hin und her schlägt. Wenn sie jetzt kotzt, geht es über meine Klamotten und nicht über dein schäbiges Polster, denke ich und gucke den Fahrer dabei beleidigend von hinten an. Zu Hause angekommen bitte ich ihn noch, mir beim Transport von Janine zu helfen und sie mit nach oben zu bringen. Ich bekomme natürlich mit, wie seine Hände ungeschickt mit voller Absicht nach ihrem Busen grapschen, obwohl er nur ihren Körper stützen soll. Frech grinst er mich dabei an. Machtlos, auch weil ich voll und ganz mit ihr beschäftigt bin, übergehe ich seine Dreistigkeit, obgleich ich jetzt riesige Lust hätte, ihm mit der Faust geradezu in seine verdorben grinsende Grimasse zu schlagen. Gemeinsam dirigieren wir sie ins Gästezimmer auf das Bett. Danach entlohne ich den frechen Fahrer großzügig, bedanke mich artig, der mir noch grinsend bei der Verabschiedung »viel Spaß« wünscht, während ich ihm noch (allerdings sehr leise und unhörbar für ihn), meine gute Kinderstube vergessend, ein »Hau endlich ab, du verdammter Hurensohn!« hinterherrufe.

Da liegt sie nun, hilflos wie ein Kleinkind, die U-Bahn-Stimme, im Moment außer Dienst. Ich öffne ihr ein wenig das enge Kleid, damit sie besser und unbeschwerter atmen kann, hole eine Decke und bedecke sie sanft damit. Anschließend setze ich mich auf den Boden neben das Bett und schaue ihr zu, wie sie friedvoll und in tiefen Zügen atmet. Bereits nach wenigen Augenblicken schlafe ich selber ein und wache durch ein Geräusch irgendwann später auf. Janine muss sich stöhnend zur Seite gedreht haben, denn nun kehrt sie mir den Rücken zu und liegt der Wand zugewandt. Draußen ist es mittlerweile hell geworden. Ich stehe mit schmerzvollen Gliedern vom Boden auf und gehe in meinen Schlafsaal. Todmüde und schlaftrunken erledige ich zuvor noch eine Katzenwäsche, bevor ich mich ins Bett lege und auch sofort einschlafe. Irgendwann später werde ich durch ungewohnte Körperwärme aufgeweckt, die zu mir herüber fließt. Ein Arm umklammert mich zusätzlich. Janine, geht es mir durch den Kopf. Vorsichtig wende ich meinen Kopf in ihre Richtung und tatsächlich liegt sie angeschmiegt an mich, tief schlafend und von langen Atemzügen begleitet. Obgleich die Wärme, die von ihr ausgeht, angenehm auf mich ausstrahlt, will bei mir keine richtige Freude mehr aufkommen.

Stunden später und gerädert von der Nacht stehe ich auf und lasse das heiße Badewasser in die Wanne einlaufen. Nur noch Reinigen ist mein einziger Wunsch. Den Körper und auch die Gedanken säubern und auch nachdenken über die vergangene Nacht. Das heiße Wasser wird mir gut tun und mir dabei helfen, neue Lebenskräfte zurückzugewinnen. Wie angenehm die Wärme des Wassers in mir aufsteigt und die Kühle der Nacht, die Unausgeschlafenheit und auch die Verspannung meiner Gelenke allmählich aus meinem Körper treibt. Ich liege ausgestreckt in der Wanne, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Leise Musik dringt aus den Deckenlautsprechern zu mir herunter. Während die Gedanken träge wie das Wasser um mich herumplätschern … geht leise und vorsichtig die Tür auf. Janine kommt splitternackt zur Tür herein. Ihr fester Blick fixiert meine Augen. Sie steigt wortlos zu mir in die Wanne, legt sich auf mich und verschließt mit ihren zarten Fingern meinen offenen Mund, nimmt meine Arme einzeln und legt sie um ihren Rücken, bettet ihren Kopf an meinen, schmiegt sich ganz eng an mich heran und flüstert mir dabei zärtlich ins Ohr: »Nächste Station Reeperbahn. Bitte nicht aussteigen und bei mir bleiben.«

Szene 2 (Wie aus Janine Klara wird und ...)

Noch am selben Tag ist aus uns ein Paar geworden, ganz ungewollt, aber irgendwie vorherbestimmt. Und wenn ich jetzt darüber sinniere, ist es nicht nur mir sehr angenehm, sondern meiner Partnerin auch, wie ihrem katzenähnlichen Gemaunze und Gesäusel zu entnehmen ist. Auf der anderen Seite gibt es auch reichlich Aufklärungsbedarf, was ihre Person und ihr Vorhaben angeht. Sind nach Goethe Namen »Schall und Rauch«, bin ich dennoch brennend an ihrem interessiert, trotz aller berauschenden Qualitäten meiner Partnerin. Und so wird aus Janine Klara Palunke. Sie stammt tatsächlich aus Berlin-Charlottenburg, jedenfalls ist es so in ihrem Ausweis vermerkt. Während sie mir bereitwillig dieses Amtspapier zeigt, überdeckt sie beharrlich mit ihrem Daumen ihr Geburtsdatum, was ich mit einem ernsten Gesichtsausdruck begleite. Es kommt darauf an, was in der Verpackung steckt und nicht auf die Verpackung selbst! Beim Frühstück, das eigentlich eher ein Abendessen ist, fängt sie bereitwillig an, ihre Geschichte zu erzählen.

»Liebster!«, womit sie offensichtlich mich meint, gurrt sie wie eine geschlechtsreife, liebestrunkene Taube:

»Als ich vor zwei Tagen aus Berlin nach Hamburg gekommen bin, ist es kein spontaner Entschluss gewesen, sondern abgesprochen. Abgesprochen mit einer ehemaligen Klassenkameradin, die bereits vor einigen Jahren zu ihrem damaligen Freund nach Hamburg nachgezogen ist. Die beiden haben sich dann nach einiger Zeit wieder getrennt, worauf meine Freundin dennoch nicht wieder nach Berlin zurückgekehrt, sondern hier in Hamburg geblieben ist und seitdem in Altona wohnt. Ich habe ihr von meinen Hamburger Plänen erzählt und sie hat spontan zugestimmt, bei ihr eine gewisse Zeit wohnen zu dürfen, wohl auch deshalb, wie sie mir eingestanden hat, ihre Haushaltskasse durch eine Beteiligung meinerseits entlasten zu können. Jedenfalls nur ein paar Tage später habe ich meinen Koffer gepackt, mich in die Bahn gesetzt und bin zu ihr gefahren. Als ich erwartungsfroh gestern vor ihrer Tür gestanden habe, tat sich nichts. Du kannst dir vorstellen, wie verdutzt ich gewesen bin. Zuerst habe ich noch geglaubt, sie schliefe oder wäre nur kurzfristig außer Haus gegangen und so habe ich geklingelt und geklingelt und bin dann vor ihrer Tür sitzen geblieben. Durch den Lärm ist eine ältere Dame, ihre Nachbarin, auf mich aufmerksam geworden. Jedenfalls hat sie bereitwillig die Tür geöffnet und mich hineingelassen. Sogleich hat sie mir erklärt, dass meine Freundin tags zuvor weggefahren sei und für mich, wenn ich denn Klara Palunke sei, einen Brief hinterlassen habe. Du kannst dir vorstellen, wie enttäuscht ich darüber gewesen bin. Ich habe den Brief entgegengenommen, mich auf dem Absatz umgedreht und bin die Treppen hinunter zum Ausgang gegangen.«

»Ja und was steht nun in dem Brief?«, will ich wissen.

»Du hast diesen doch sicherlich geöffnet?«

»Ich kann es nur erraten, genau weiß ich es nicht.«

»Du hast diesen nicht geöffnet? Möchtest du den Inhalt nicht wissen? Vielleicht musste deine Freundin nur dringend weg und ist bereits wieder zurück und erwartet dich!«

»Willst du mich etwa loswerden?«, klagt Klara mich patzig an.

»Nein, nein!«, beeile ich mich mit meiner Antwort.

»So war es nicht von mir gemeint!«

»Sieh es als eine Schicksalsfügung an. So habe ich dich, mein Liebster, kennengelernt oder bist du darüber etwa nicht so glücklich wie ich?«

»Doch, doch!«, bemühe ich auf Klara überzeugend zu wirken, obgleich ich im Augenblick eigentlich nicht so sicher bin. Meine »Eroberung« könnte mir ja eine schöne ausgedachte Geschichte präsentieren wollen, um sich kostenfrei bei mir einzulogieren. Auf der anderen Seite: Warum sollte sie so etwas tun? Und ich versuche meine negativen Gedanken sofort wieder zu zerstreuen. Dennoch bleibe ich ihr gegenüber kritisch eingestellt. Und so höre ich mir erst einmal den weiteren Fortgang ihrer Geschichte an.

»Jedenfalls habe ich dann, ganz allein auf mich gestellt, in dieser fremden Stadt Hamburg gestanden, sprach- und ideenlos, habe meinen kleinen Begleiter den Reisekoffer in ein Gepäckfach am Hauptbahnhof untergebracht«, und wie zum Beweis holt sie einen Schlüssel aus ihrer Tasche hervor und schwenkt diesen vor meinen Augen hin-und her.

»Wenn es dir nichts ausmacht, können wir ihn nachher abholen.«

»Hm ja«, antworte ich ein wenig zäh.

»Das klingt aber nicht sehr freudig und überzeugend von dir!«

»Doch, doch!«, füge ich beherzt an.

Die letzte Nacht ist sehr schön gewesen, das muss ich zugeben. Aber wenn wir erst einmal ihren Koffer abholen und hierher bringen, so meine Bedenken, kommt es einem Einzug gleich. Will ich das eigentlich? Eigentlich bin ich nicht bereit dazu und überzeugt schon gar nicht. Ein bisschen Spaß zu haben, ist meine Intention gewesen, als ich in die Bar gegangen bin, doch jetzt fällt mir spontan keine Ausrede für eine Absage ein. Für ein, zwei Tage kann sie bei mir bleiben, das stellt kein Problem dar, dem stimme ich zu. Was aber ist, wenn sie danach nicht mehr gehen will? Vermutlich werde ich sie dann rauswerfen müssen. Ja, das werde ich wohl tun müssen. Und je länger ich darüber nachdenke, umso mehr gefällt mir meine Vorstellung.

»Du kannst erst einmal hierbleiben, kein Problem«, höre ich mich bereits im nächsten Moment reden.

»Danke dir, Liebster!«, gurrt sie wieder wie ein Taubenweibchen.

»Nachdem ich den Koffer untergestellt habe«, fährt sie fort,

»bin ich in der Innenstadt geblieben und habe mir überlegt, was ich unternehmen könnte. Meine erste Vorstellung, nach Berlin zurückzukehren, habe ich sofort verworfen, indem ich zu mir gesagt habe: Ich bin doch hierher gefahren, um mir neue Möglichkeiten zu eröffnen und aufzubauen. Schon aus diesem Grund wäre es nicht sinnvoll, wieder zurückzukehren. Abends bin ich dann in die Bar gegangen. Ich kannte diese Bar von früher her und habe an ein bisschen Feiern gedacht, auch wenn es eigentlich nichts zu feiern gegeben hat, ganz im Gegenteil sogar. Und wenn ich dort nur lang genug bliebe, so meine Vorstellung, bräuchte ich auch kein Zimmer zu zahlen … und dann habe ich dich getroffen und bin offensichtlich bei dir gelandet, dem »Guten Menschen« mit der »Guten Tat«, so hast du jedenfalls noch in der Nacht zu mir gesprochen, daran kann ich mich noch sehr genau erinnern, bevor ich von dem Schampus ausgeknipst worden bin.«

 

Und schon lacht sie mich mit einem verliebten Lächeln an, streichelt mir mit der Hand über das Haar und flüstert:

»Und nun kannst du deine gute Tat auch gleich noch einmal beweisen«, zieht mich zu sich heran, küsst mich intensiv, fängt an mich zu streicheln und lässt mich ihren weichen Körper spüren. Ihre Gesichtszüge entspannen sich und sie setzt einen wie geistesabwesenden Blick auf, einen Blick der Bereitschaft, des Loslassens, der vollen Konzentration auf ihre Gefühlswelt, der mir ein »ich bin dir völlig ergeben« signalisieren soll und der in mir augenblicklich die Geilheit aufwallen lässt, die zur Unmöglichkeit des Zügelns gerät und nur noch das eine Gefühl in mir auslöst, zuzustoßen, immer wieder zuzustoßen, immer heftiger zuzustoßen, sodass die Körper im Gleichklang zucken, bis das Ejakulat unter lautem Gestöhne in ihren Körper spritzt und damit der Augenblick des Höhepunktes gekommen ist, um gleich darauf in einen Zustand der Entspannung umzukippen. Jetzt haucht sie mir ins Ohr:

»Spürst du mich ganz intensiv, spürst du, wie weich mein Schoß ist?«, wodurch meine Geilheit auf neue vom Becken bis zum Gehirn und umgekehrt blitzartig umherläuft, das Blut erneut in meinen Schwellkörper einschießt und sofort wieder dieses Stoßen, immer heftigeres Stoßen auslöst, sie sich dazu mit ihren Händen in meinem Rücken verkrallt und im Rhythmus der Bewegung kleine Schreie ausstößt:

»Stoß zu, Liebster, stoße weiter zu«, bis erneut der Höhepunkt krampfartig durch die Beine und das Becken zieht und endlich die Entspannung über die Lust siegt, unsere beiden Körper schweißverklebt aneinander haften, untrennbar für den Augenblick miteinander verbunden sind, glückselig, lächelnd, erschöpft.

Nach einem kleinen Spaziergang an der Alster, die von meiner Harvestehuder Wohnung nur einen Katzensprung entfernt liegt, gehen wir Arm in Arm wieder nachhause. Der Magen meldet sich bei uns beiden. Glücklicherweise gibt es nur wenige Schritte von der Haustür entfernt ein kleines anatolisches Lokal, in dem der Wirt heimatliche Speisen zubereitet, geschmacklich der deutschen Zunge angepasst und nicht mit den landesüblichen Gewürzen überfrachtet, die für die folgenden zwei Tage eine zwischenmenschliche Kommunikation zu einer Tortur für den jeweiligen Gesprächspartner machen. Sehr schnell nach der Eröffnung habe ich mich mit dem Inhaber angefreundet und unterhalte seitdem mit ihm ein sehr herzliches Verhältnis. Nicht nur, dass ich ihn regelmäßig in der Woche aufsuche, auch lasse ich mir häufiger Essen von ihm nach Hause bringen, immer dann wenn mich die Faulheit überkommen hat. Mittlerweile behandelt er mich wie ein Familienmitglied, denn kaum habe ich sein Restaurant betreten, ruft er bereits laut meinen Namen aus und auch sein anschließendes Gehabe erweckt den Eindruck, er habe mich vermisst wie einen weit entfernt wohnenden Vetter, der nun unangekündigt und unverhofft zu Besuch gekommen ist. Zu diesem Freudenschrei klatscht er laut in die Hände, holt seine Angestellten hinzu, sodass ich jeden ausgiebig begrüßen muss, was ich auch gerne erledige, hakt mich anschließend unter und führt mich bereits im nächsten Augenblick, voll des Lobes auf mich, zu einem freien Platz, den er, wie er glaubhaft beteuert, selbstverständlich immer für mich freihält. In Windeseile fliegen dann, wie von unsichtbaren Händen getragen, der Begrüßungstrunk und auch Vorspeisen zu meinem Platz. Kaum sitze ich, schlägt seine Stimmung um und es geht das eigentliche Gejammer los. Wie beklagenswert meine Abwesenheit gewesen sei, und dass ich ihn wohl nicht mehr schätze, da wir uns eine solange Zeit nicht mehr gesehen haben, wobei er ein fast weinerliches und überaus wirkungsvolles Gesicht aufsetzt, worauf ich ihn wiederum verbessere, dass es erst zwei Tage her ist, seit ich das letzte Mal köstlich bei ihm gespeist habe, was er wiederum mit: »Sag ich doch, dass du so lange nicht mehr bei mir gewesen bist« kommentiert. Ist auch diese Prozedur erledigt, kann mit der Bestellung und dem Essen begonnen werden.

Auch dieses Mal verhält er sich so, was bei Klara zu einem verdutzten Gesichtsausdruck führt. Erst jetzt wendet der Wirt sich ausgiebig Klara zu und die herrlichsten Komplimente fliegen zu ihr hinüber. Sie sei die schönste Frau unter der Sonne Anatoliens (wo sie nie gewesen ist), er sei nahezu geblendet von ihrer Schönheit, wobei er sich die Hand demonstrativ vor die Augen führt, man müsse sie auf Händen tragen, wobei er sich bei mir mit einem sehr ernsten Gesichtsausdruck vergewissert, ob ich es auch machen würde, und ich solle selbstverständlich die schönsten Gewänder aussuchen und kaufen und, und, und.. Nachdem ich alle seine Bedenken entkräftet habe, ist er erleichtert und drückt Klara und mich noch einmal herzlich zur Begrüßung. Erst jetzt stellt er uns die Tageskarte vor, die, wie er betont, selbstverständlich speziell für uns verändert werden kann und entschwindet dann mit unserer Bestellung.

»Geht es hier immer so zu?«, erkundigt sich Klara ein wenig überrascht.

»Immer! Er ist ein guter Geschäftsmann und besitzt ein unglaubliches Gespür für seine Kunden«, weiß ich zu berichten.

»Gewöhnungsbedürftig ist es schon!«

Schon bald kommen die bestellten Köstlichkeiten zu uns, auf die Klara und auch ich mich stürzen, denn die letzte Nacht und auch der Tag haben sehr viel Kräfte geraubt und uns sehr hungrig werden lassen.

»Anschließend fahren wir noch zum Hauptbahnhof. Wir müssen deinen Koffer abholen.«

»Danke dir, Liebster, dass du daran denkst.«

Nachdem wir ihre Utensilien abgeholt haben und mit dem Lift zur Wohnung fahren, begegnen wir meinem besten Freund und Nachbarn von gegenüber im Flur. Fast hat es den Anschein, als hätte er auf uns gewartet. Paul Hinrichsen ist ein sehr bekannter Designer mit Studio und Werkstatt unweit seiner Wohnung. Dazu ist er noch bekennender Homosexueller, der, obgleich vierzehn Jahre älter als ich, sein Schwulsein durch seine Bewegungen und auch durch die Kleidung so zur Schau stellt, dass es verklemmte Vorstädter sicherlich als Provokation oder auch Aufdringlichkeit interpretieren könnten. Hier in Harvestehude spielt seine sexuelle Vorliebe keine Rolle und wird eigentlich überhaupt nicht wahrgenommen beziehungsweise diskret übergangen. Berührungsängste zwischen uns gibt es nicht, nur gebührenden Respekt voreinander, da offensichtlich jeder, er wie ich, wechselnde Vorlieben hat und auch wir beide uns damit nicht ins Gehege kommen können. Ich zähle nicht seine zumeist sehr jugendlichen Liebhaber, die häufig zu zweit aus seiner Wohnung kommen und von ihm sehr liebevoll und theatralisch verabschiedet werden. Und auch er hält sich mit Kommentaren über meine zu häufiger wechselnden Damenbesuche zurück. Wie gesagt, wir respektieren uns und unsere Vorlieben, außer dass wir uns das eine oder andere Mal zu einem besonders »Guten Fang« waidmännisch beglückwünschen.

Augenblicklich, als ich gerade die Wohnungstür aufschließen will, öffnet sich seine Tür und wir drei stehen uns vis-à-vis und begrüßen uns herzlich. Auf Klara mag es entweder abgesprochen wirken oder als würden wir eine Wohngemeinschaft bilden. Selbstverständlich stelle ich Paul Klara vor. Mit einem Handkuss begrüßt er sie und überfällt sie gleich mit einem Schwall von Komplimenten. Obgleich es mir in diesem Augenblick gar nicht recht ist, zieht er uns in seine Wohnung.

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