Buch lesen: «Rohstoff-Trading mit System», Seite 2

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KAPITEL 2


VOM PRÄSENZ-ZUM ELEKTRONISCHEN HANDEL – START DES ALGORITHMISCHEN TRADINGS

DER AKTIONÄR: Herr Hechler, zu welchem Zeitpunkt Ihrer Karriere haben Sie denn die ersten Erfahrungen mit Handelssystemen gemacht?

Hechler: Das war in den 90er-Jahren, als ich im Portfolio-Trading gearbeitet habe. Ein Fokus unserer Arbeit war damals die Arbitrage von DAX Kasse gegen den DAX-Future. Im November 1990 legte die damalige Deutsche Terminbörse, also die heutige Eurex, den DAX-Future auf (FDAX). Der DAX notierte vor 30 Jahren noch bei knapp 1.500 Punkten, jeder Punkt entsprach einem Gegenwert von 100 DM, der gesamte DAX kostete damals also rund 150.000 DM. Die Handelszeit war überschaubar: von 11:00 Uhr bis 14:00 Uhr. Wir rechneten den DAX damals in einem Excel-Sheet, das mit den Reuters-Kursen vom Frankfurter Parkett verknüpft war, manuell nach und hatten den Future parallel mitlaufen. Sobald sich eine Differenz von mehreren Punkten (konnte variabel eingestellt werden) zwischen dem FDAX und der Kasse ergab, wurde der Future verkauft (oder gekauft), und der Börsenmakler auf dem Parkett wurde angerufen und kaufte (oder verkaufte) einen von uns vordefinierten Basket der 30 DAX-Werte. Nach wenigen Minuten bekam man die Kurse vom Makler angesagt, die einzelnen Trades wurden dann von einem Junior-Trader oder einem selbst eingegeben. So konnten pro Basket, je nach Ausführungen der einzelnen Aktien auf dem Parkett, zwischen 1.000 und 5.000 DM „risikofrei“ verdient werden. Am letzten Handelstag des DAX-Futures wurden die Positionen dann wieder glattgestellt, für den Börsenmakler auf dem Parkett war das viermal im Jahr der große Zahltag. Idealerweise hatte der Makler einen Kontrahenten, der die Kasse long war, und einen Kontrahenten, der die Kasse short war, somit konnte er beide Seiten risikolos „crossen“ und kassierte zweimal die Kommission. Im Laufe der Jahre kannibalisierte sich der Arbitrage-Handel aber von allein, da immer mehr Marktteilnehmer etwas vom „free lunch“ abhaben wollten und die Margen so stark schrumpften, dass nach Kosten kaum noch ein Gewinn übrig blieb.

DER AKTIONÄR: Herr Stork, oft wird davon gesprochen, dass die Verschiebung des Umsatzes an den Börsen von den physischen Präsenzplätzen zu den elektronischen Handelssystemen den Startschuss für die Entwicklung des Algo-Tradings gegeben hat. Sehen Sie das auch so, und wenn ja, wann hat diese Entwicklung eingesetzt?

Stork: Diesbezüglich eines der einschneidendsten Erlebnisse war mein Besuch an der Londoner Börse LIFFE am 9. Oktober 1997. An diesem Tag hat die Deutsche Bundesbank den dritten Leitzins von 3 Prozent auf 3,3 Prozent erhöht. Das am meisten gehandelte Produkt der Londoner LIFFE war ein Terminkontrakt auf Bunds, die 10-jährige deutsche Staatsanleihe. Die DTB bot damals schon ein identisches Produkt an und hatte als elektronische Börse eine niedrigere Kostenbasis. Bis Ende 1996 war die LIFFE die mit Abstand größte Terminbörse in Europa, gefolgt von der MATIF in Paris und der DTB in Frankfurt. Die DTB war eine 1990 gegründete elektronische Börse und der Vorgänger von Eurex. Ich war damals genau zu dem Zeitpunkt der Zinserhöhung in der Nähe des Bund-Future-Pits. Die Präsenzbörsen waren damals noch in unterschiedliche „Pits“ unterteilt, räumlich abgetrennte Bereiche, in denen ausschließlich bestimmte Produkte gehandelt wurden. Die Reaktion war gewaltig: Innerhalb weniger Minuten wurden Millionen von Kontrakten gehandelt. Ein englischer Kollege erzählte mir damals, dass zu diesem Zeitpunkt eine massive Vergrößerung der Londoner Börse LIFFE geplant war. Ich meine mich sogar zu erinnern, dass er eine Vergrößerung der Handelssäle auf die Größe von drei Fußballfeldern erwähnte.

Niemand konnte sich an diesem Tag vorstellen, dass der gesamte Umsatz in diesem Vorzeigeprodukt an die DTB wandern würde. Ich kann mich erinnern, dass ich mir im Januar 1998, circa drei Monate nach meinem Besuch an der LIFFE, den Umsatz im Bund-Future dort über Reuters angesehen habe. Schockiert nahm ich zur Kenntnis, dass die Umsätze auf wenige Tausend Kontrakte geschrumpft waren. Die LIFFE war tot – für mich eines der gravierendsten Beispiele, wie schnell Veränderung in den Finanzmärkten passieren kann.


Quelle: Shutterstock

ABBILDUNG 2.1 | LIFFE EXCHANGE LONDON 25.01.1993

Vollbesetzte LIFFE am 25.01.1993


Quelle: Shutterstock

ABBILDUNG 2.2 | LIFFE EXCHANGE LONDON 18.11.1999

LIFFE Exchange London, 18.11.1999: Der letzte LIFFE-Tag an der Cannon Bridge, bevor sie computerisiert wurde. Das Bild zeigt, wie die letzten Händler ihre Geschäfte wie gewohnt fortsetzen.

In den USA hat diese Entwicklung mit einiger Zeitverzögerung eingesetzt. Ungefähr um 2007 sind die Umsätze an den „Pits“ langsam zu den elektronischen Handelssystemen abgewandert. Man kann das übrigens wunderbar in den sogenannten „Backtests“ von Algorithmen erkennen. Viele Algos, die bis 2007 einwandfrei funktioniert haben, funktionieren danach überhaupt nicht mehr.


Quelle: Elektronischer Handel versus Präsenzhandel: Eine Untersuchung des Wettbewerbs von Terminbörsen am Beispiel des DM-Bund-Future, Prof. Dr. Wolfgang Bessler, Dr. Thomas Book, Mai 2002.

ABBILDUNG 2.3 | ELEKTRONISCHER HANDEL VERSUS PRÄSENZHANDEL

Umsatzentwicklung des DM-Bund-Future an DTB/Eurex und LIFFE (1991-1998)

DER AKTIONÄR: Wann kam die nächste große Veränderung an den Märkten und wie hat sie sich auf das Trading ausgewirkt?

Hechler: Eigentlich startete das Algo-Trading schon Ende der 90er-Jahre. Die Verlagerung der Präsenzbörsen auf elektronische Plattformen ebnete den Weg zum vollautomatischen Trading. Der Marketmaker an der Terminbörse DTB quotierte seine Kauf-und Verkaufskurse schon vollautomatisch, das elektronische Handelssystem IBIS (Integriertes Börsenhandels-und Informationssystem) wurde 1997 durch das bis heute bestehende Xetra-System abgelöst. Durch Schnittstellen-Programmierung war es nun den einzelnen Marktteilnehmern möglich, sich direkt an die Börse anzubinden und verschiedene Handelsmodelle sowie Quotierungstools live zu handeln. Sogenannte Autopiloten, die vom Händler selbst eingestellt wurden, waren nun in der Lage, größere Orders über den Tag verteilt in regelmäßigen Abständen an die Börse zu leiten. Die fortschreitende Automatisierung hatte zur Folge, dass es teilweise nicht mehr möglich war, auf die angezeigten Kurse zu handeln. Sobald man eine Aktie, die auf dem Handelsschirm mit 51,43 Euro zum Verkauf angeboten wurde, kaufen wollte, war „jemand“ schneller und schnappte einem die Briefseite vor der Nase weg. Der nächste Kurs war dann zwei Cent höher und wurde vom selben Kontrahenten, der mit 51,43 Euro gekauft hatte, mit 51,45 Euro wieder verkauft. Mit dem bloßen Auge nicht erkennbar, wurden so die ersten Erfahrungen mit dem heute sehr verbreiteten „High-Frequency Trading“ gemacht. In der heutigen schnelllebigen Börsenzeit ist der HFT-Trader, gemessen am täglichen Volumen, der größte Akteur. Diese Form des Tradings ist sicherlich eine der profitabelsten und gleichzeitig umstrittensten Arten des Handels.

Im Nanosekundenbereich kauft und verkauft der programmierte Algorithmus Futures, Aktien oder Optionsscheine an den elektronischen Börsen weltweit. Eine noch legale Form des Insider-Tradings, denn der HFT-Trader hat gegenüber den anderen Marktteilnehmern einen entscheidenden Vorteil: die Geschwindigkeit. Teilweise sind die Rechenzentren der HFT-Firmen in der Nähe der Börsen und verfügen über eine direkte Anbindung an den Börsenrechner. Trotz der hohen Kosten ist diese Form des „legalen Frontrunnings“ sehr lukrativ und beschert den Firmen satte Gewinne. Dass es zu teilweise heftigen Verwerfungen an den Börsen durch vollautomatisierte Handelsprogramme kommen kann, beweisen folgende Beispiele: der berühmte Flash Crash im Mai 2010, als der Dow Jones innerhalb von wenigen Minuten mehr als 1.000 Punkte verlor, um danach wieder auf das alte Niveau zu steigen. Im August 2012 verlor Knight Capital durch eine Panne in der Trading-Software 440 Millionen Dollar an einem Tag. Abschließend kann bemerkt werden, dass durch die fortschreitende Verbreitung des Algo-Tradings in den verschiedensten Formen der Beruf des klassischen Börsenhändlers sozusagen wegrationalisiert wurde.

KAPITEL 3


VERSCHIEDENE FORMEN DES TRADINGS
3.1Systematisches Trading

Das systematische Trading könnte sich kaum stärker vom diskretionären Trading im klassischen Stil unterscheiden. Sobald ein Händler eine Position nach einem klar vordefinierten Regelwerk eingeht, wird dieser Trade als systematisch bezeichnet. Ob die Order vollautomatisch durch ein Computerprogramm oder manuell eingegeben wird, spielt in diesem Fall keine Rolle. Der Vorteil des systematischen Tradings ist die vermeintliche Emotionslosigkeit in einem massiven Drawdown (Verlust zwischen einem Höchststand und dem darauffolgenden Tiefststand), den ein Trading-System, das backgetestet wurde, im Laufe der gehandelten Jahre sicherlich durchmacht. Der Trader, der fünf aufeinanderfolgende Verlust-Trades in einem über Jahre backgetesteten Handelssystem zu verkraften hat, geht besser mit dieser Situation um als der Händler, der mit den identischen Trades, die „aus dem Bauch“ eingegangen wurden, den gleichen Verlust einfährt. Die Märkte tun oft nicht das, was logisch erscheint. Der systematische Trader muss keine Angst vor seiner eigenen Psyche haben. Aufgrund der heutigen technischen Möglichkeiten ist es relativ einfach, selbst geschriebene oder gekaufte Handelssysteme in kurzer Zeit backzutesten. Wir empfehlen, die Backtests nicht über einen längeren Zeitraum als zehn Jahre durchzuführen. Im Zuge der Verlagerung des Präsenzhandels hin zum elektronischen Handel entstand ein neues Zeitalter, sodass es unserer Meinung nach nicht sinnvoll ist, auf ältere Daten zurückzugreifen. Kleinste Veränderungen im Regelwerk des Systems können im Backtest detailliert geprüft und angepasst werden. Als es noch keine Computer gab, wurde ein Backtest mühsam auf Millimeterpapier in tagelanger Schwerstarbeit durchgeführt – heute genügt ein Knopfdruck, und in wenigen Sekunden wird ein Markt mit vielen Parametern backgetestet. Ein erfolgreiches Handelssystem funktioniert idealerweise in mehreren verschiedenen Märkten und kann vom Trader ohne großen Zeitaufwand mit den entsprechenden Programmen 24/7 gehandelt werden. Somit sinkt der Zeitaufwand erheblich und der Trader muss nicht den ganzen Tag vor dem Schirm verbringen. Dadurch werden Wahrnehmungs- und Entscheidungsfehler massiv reduziert.

3.2Extrembeispiel für systematisches Trading: LTCM und seine Folgen

Der Vorläufer des LTCM-Desasters war eigentlich die Russlandkrise, die 1998 zur Zahlungsunfähigkeit des russischen Staates führte. Ein der Öffentlichkeit fast gänzlich unbekannter Hedgefonds namens Long-Term Capital Management (LTCM) hatte sich im großen Stil verspekuliert und konnte nur noch durch das Eingreifen der Notenbanken und Kredite namhafter Investmentbanken gerettet werden. Doch der Reihe nach.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde 1991 ein weitreichendes Reformprogramm beschlossen, was in den Nachfolgestaaten zu einer radikalen und schnellen Privatisierung von Unternehmensanteilen führte. Wurden 1991 nur etwas über fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts von privaten Unternehmen erbracht, waren es im Jahr 1998 bereits 70 Prozent. Allerdings waren die makroökonomischen Rahmenbedingungen nicht für eine Privatisierung in diesem Ausmaß geeignet, darüber hinaus fehlten staatliche Kontrollen bei der Kreditvergabe. Gleichzeitig konnten Unternehmen ihre Preise selbst festsetzen, der Kreditbedarf war enorm, und so kam es zur Hyperinflation. Ab 1995 versuchte die russische Politik, die Lage zu stabilisieren, allerdings verschärfte die Asienkrise 1997 die Situation. Die Schwellenländer wurden einer Neubewertung durch die internationalen Ratingagenturen unterzogen, wodurch es zu massiven Kapitalabflüssen aus den Bond- und Aktienmärkten kam. Am 17. August 1998 kam es dann zu der längst überfällig gewordenen Neubewertung des Russischen Rubel, der in der Folge um bis zu 60 Prozent einbrach, was die Zahlungsunfähigkeit Russlands einläutete. Im Sog dieser Entwicklungen geriet auch der Hedgefonds LTCM an den Rand des Abgrunds. Der Fonds war 1994 gegründet und mit circa 1,3 Milliarden US-Dollar kapitalisiert worden. Eine Leichtigkeit für das damalige Management-Team, das Geld einzusammeln, befanden sich doch unter den Partnern so prominente Namen wie John W. Meriwether, ehemaliger Star-Trader bei Salomon Brothers, Harvard-Professor Eric Rosenfeld, David Mullins, ehemaliger Vizepräsident der Fed, sowie Myron S. Scholes und Robert C. Merton, die im Jahr 1997 den Nobelpreis für ihre Beiträge zur Optionspreisbewertung erhalten hatten. Der Ruf der beteiligten Herrschaften war so makellos, dass einige Banken sogar auf die für diese Geschäfte notwendig zu hinterlegende Sicherheitsleistung (Margin) verzichteten.

Der Hedgefonds LTCM setzte mit Unsummen an Kapital und Fremdkapital auf das Funktionieren der „effizienten“ Kapitalmärkte. Kleinste „Unstimmigkeiten“ in Preisen wurden in den Märkten systematisch anhand von Modellen aufgespürt, und es wurde darauf gewettet, dass sich diese Preisdifferenzen im Laufe der Zeit wieder angleichen würden und LTCM aus dieser Angleichung aufgrund der enorm großen Positionen Gewinne machen würde. Der Hebel des Fonds war gewaltig: Zeitweise standen jedem investierten US-Dollar Eigenkapital 60 oder mehr US-Dollar Fremdkapital gegenüber. Die Strategie schien zunächst aufzugehen. Schon im ersten Jahr erzielte LTCM einen Gewinn von über 28 Prozent, der in den darauffolgenden Jahren auf zeitweise über 40 Prozent sprang. Doch schon 1997 wurde das Geschäft für den Fonds schwieriger, immer mehr Marktteilnehmer kopierten das Geschäftsmodell, unter anderem auch unsere Bank, die verzweifelte Versuche unternahm, um im vermeintlich profitablen Geschäft mit den exotischen Derivaten einen Teil vom Kuchen abzubekommen. Die Margen wurden kleiner, und durch die Abwertung des Russischen Rubel am 17. August 1998 kam es zum großen Knall: Über Nacht wurden sämtliche „Ramschanleihen“ komplett wertlos, die Liquidität im Markt verschwand und die Spreads zwischen Geld (Ankauf) und Brief (Verkauf) wurden so breit gestellt, dass ein Panzer durchfahren konnte. Die Volatilität explodierte. Nur dank eines kurzfristig initiierten Treffens der größten Notenbanken der Welt und der wichtigsten Banken der Wall Street konnte am 23. September 1998 ein 3,8 Milliarden US-Dollar großes Rettungspaket geschnürt werden. Die beteiligten Rettungsbanken waren auch die größten Gläubiger des Fonds, sodass sie mit dem erworbenen 90-Prozent-Anteil de facto ihr eigenes Geld zurückkauften.


Quelle: GenesisFT

ABBILDUNG 3.1 | RTS_DAX_CHART 1998

Kursverlauf des DAX-Futures während der Russlandkrise und des LTCM-Desasters

DER AKTIONÄR: Herr Stork, wie haben Sie die turbulenten Monate während der Russlandkrise und das ganze Chaos um den Hedgefonds LTCM erlebt?

Stork: Die Russlandkrise und die Geschichte um LTCM im Jahr 1998 beschäftigten die Märkte weltweit noch Monate. Die Volatilität blieb hoch, es dauerte lange, bis die Liquidität in den „exotischen Derivaten“ zurückkehrte. Aber auch einfache Optionsgeschäfte unter Marketmakern waren schwierig umzusetzen, und die Prämien waren extrem hoch. Abschreibungen mussten erfolgen, und so erlebten auch wir, wie ein Handelsdesk für exotische Derivate geschlossen wurde, da es in diesem Jahr einen siebenstelligen Betrag in den Sand gesetzt hatte. Ich hatte das „Vergnügen“, bei den Aufräumarbeiten dabei zu sein. In dieser Zeit fanden wir in den Büchern im Wochentakt neue „Überraschungen“. Es dauerte damals sechs Monate, um die größten Positionen glattzustellen. Ich kann mich auch noch erinnern, dass wir von der Arroganz und Überheblichkeit der bekanntesten Partner von LTCM gegenüber dem Markt überrascht waren. Der Markt hat immer recht, und das kann man eigentlich nur mit Demut zur Kenntnis nehmen. Ich habe Jahre später, ich glaube, es war 2008, einmal an einem Frühstück mit Myron Scholes teilgenommen. Er war äußerst sympathisch und betrieb damals mit einem ehemaligen Partner von LTCM einen neuen Hedgefonds namens Platinum Grove Asset Management. Die Firma hatte wieder mehrere Milliarden unter Management. Wir sprachen damals auch über LTCM. Er war nach wie vor überzeugt, dass theoretische Modelle im Handel erfolgreich sein können, dass man die Händler aber auch davon abweichen lassen sollte. Man solle nicht vorhersagen, sondern reagieren und sich auf einige „Sweet Spots“ konzentrieren und nicht überall tätig sein. Er verglich den Handel damals mit einer Farm, auf der Jäger nichts verloren haben. Auch meinte er, dass Korrelationen nicht ewig funktionieren können: Man deckt einen Tisch für zwölf Personen. Solange nur zwölf kommen, ist alles gut. Aber wehe, jeder dritte Gast bringt einen Freund mit, dann wird es eng.

3.3Diskretionäres Trading

Die meisten Händler, die sich dem Trading verschrieben haben, sei es aus Hobby oder aber als Beruf, werden die ersten Positionen an den Börsen durch sogenannte diskretionäre Entscheidungen eingehen. Der Händler setzt eine Idee um, die er aufgrund seiner subjektiven Analyse entwickelt hat. Die Handelsentscheidung trifft er aufgrund seiner persönlichen Einschätzung und je nach geistiger und körperlicher Verfassung vollkommen frei und ohne starre Regeln. Hier spielt sicherlich die Erfahrung des Traders eine große Rolle. Kommt es an den Märkten zu außergewöhnlichen Bewegungen und Szenarien, trifft der sehr erfahrene Trader intuitiv wahrscheinlich öfter die richtige Entscheidung. Dies wird sein Trading effektiver gestalten als das des unerfahrenen Anfängers. Der größte Vorteil im diskretionären Handel ist auch gleichzeitig der größte Nachteil: die Flexibilität!

An einem Tag werden vermeintlich identische Trade-Set-ups gehandelt, an einem anderen wiederum nicht. Die Folgen können emotional verheerend sein, man stellt sich als Trader selbst infrage, das Selbstvertrauen schwindet und es werden automatisch die falschen Entscheidungen getroffen. Beim Pokern gibt es hier den passenden Ausdruck „tilt“. Das bedeutet, der Spieler (Händler) „kippt“ und wird von Blatt zu Blatt (Trade) immer frustrierter. In der Folge kann er dazu neigen, Leichtsinnsfehler zu begehen, und das kostet sowohl beim Pokern als auch beim Trading oft viel Geld. Hier ist es wichtig, einen klaren Kopf zu bewahren und im Zweifel den Tisch (Trading-Bildschirm) zu verlassen. Viele diskretionäre Händler verzichten komplett auf automatische Handelsprogramme – wir nicht!

3.4Extrembeispiel für diskretionäres Trading: 9/11

Niemand wird die apokalyptischen Bilder jemals vergessen können, die am 11. September 2001 um die Welt gingen. Eine Boeing 767 bohrt sich in den Nord-Tower des World Trade Centers in New York, 18 Minuten später schlägt eine weitere Boeing 767 in den Süd-Tower ein. Spätestens nach der zweiten Maschine ist den Behörden klar, dass es sich nicht um einen Unfall handelt, sondern um einen Anschlag. Beide Türme stürzen in sich zusammen. Kurz darauf trifft eine dritte Maschine das Pentagon, der gesamte Luftraum der USA wird geschlossen. Das vierte Flugzeug, das in die Terroranschläge verwickelt ist, ist eine Boeing 757, die in der Nähe von Pittsburgh abstürzt. Insgesamt sterben an diesem Tag mehr als 3.000 Menschen. Der am 14. September 2001 in den USA ausgerufene Ausnahmezustand ist weiterhin in Kraft.

Zum Thema 9/11 gibt es sicherlich genug Bücher, Analysen und wissenschaftliche Abhandlungen. Fest steht: Der von der amerikanischen Regierung in Auftrag gegebene offizielle Kommissionsbericht zu den Anschlägen ist genau betrachtet eine der größten Verschwörungstheorien, wird aber von den Mainstream-Medien als einzige Wahrheit angesehen. Sachliche und wissenschaftlich begründete Debatten werden gezielt vermieden, berechtigte offene Fragen werden mit dem Hinweis auf Verschwörungen diffamiert. Es geht wie immer auch um viel Geld: Am 10. September 2001, dem Tag vor den Terroranschlägen, verkündete der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, dass der Verbleib von über 2.300 Milliarden US-Dollar (2,3 Billionen!) für das Militär nicht geklärt werden könne. Die Akten über diesen Sachverhalt lagerten in genau dem Flügel des Pentagon, der durch den angeblichen Flugzeugeinflug zerstört wurde. Seltsam …

Für uns als Börsenhändler sehr interessant, im Vergleich zu den 2,3 Billionen aber nur Peanuts: die Insider-Trades, die kurz vor den Anschlägen getätigt wurden. Unbekannte hatten auf Kursstürze von betroffenen Luftfahrtunternehmen, Banken und Versicherungen gewettet, indem kurz vor den tragischen Ereignissen massiv auf fallende Kurse der am meisten betroffenen Unternehmen spekuliert wurde. Im offiziellen Kommissionsbericht des US-Kongresses wurden die getätigten Insidergeschäfte in wenigen Sätzen dementiert, die Namen der Akteure wurden natürlich nicht offengelegt. Auch im Jahr 2001 war eigentlich nichts einfacher als den Käufer einer Option, die an einer Börse getätigt wurde, zu ermitteln. Solche Geschäfte können nicht mit Bargeld in einem Hinterhof anonym abgewickelt werden. An einer Identifizierung möglicher Hintermänner und Drahtzieher bestand und besteht offensichtlich kein Interesse.

Ein Beispiel für die damaligen sehr dubiosen Trades sind die Put-Optionen auf Aktien der US-Fluggesellschaft American Airlines, die am 10. September 2001 gekauft wurden. An diesem Tag wurden 1.535 Kontrakte zu 2,15 US-Dollar gekauft, das ist 60 (!) Mal mehr als das durchschnittliche Tagesvolumen während der vorangegangenen drei Wochen. Nach Wiedereröffnung der Börsen waren die Puts 12 US-Dollar wert. Der Kurs der Airline fiel von 29,70 US-Dollar auf 18 US-Dollar. Abnormal hohe Transaktionen fanden außerdem im Bankensektor (Citigroup, Merrill Lynch, JPMorgan, Bank of America) sowie im Versicherungssektor (Swiss RE und Münchner Rück) statt. Wir wunderten uns damals über die vermeintliche Schwäche der deutschen Münchener Rück und konnten uns die Underperformance nicht erklären. Die unbekannten Käufer der Put-Optionen machten so in wenigen Wochen rund 30 Millionen US-Dollar Gewinn. Dank einer wissenschaftlichen Studie des Schweizer Finanzprofessors Marc Chesney, des Assistenzprofessors Loriano Mancini sowie des UBS-Analysten Remo Crameri aus dem Jahr 2016 wurde nachgewiesen, dass es sich bei den getätigten Geschäften um klare Insider-Trades handelte. Es wurden rund 9,6 Millionen gehandelte Optionen in einem Zeitraum von 1996 bis 2009 untersucht. Die Kriterien für mögliche Insidergeschäfte waren:

1.Die Menge der gekauften Put-Optionen ist außerordentlich groß.

2.Innerhalb weniger Tage oder Wochen wird ein riesiger Gewinn erzielt.

3.Die Put-Optionen sind nicht abgesichert. Insider denken, dass ihre Investition risikolos ist.

All diese Kriterien waren bei den Geschäften vor dem 11. September erfüllt, an einer gründlichen Aufklärung dieser mehr als dubiosen Trades ist die US-Regierung offensichtlich nicht interessiert.


Quelle: GenesisFT

ABBILDUNG 3.2 | FDAX_S&P500_11092001

Kursverlauf des DAX- und des S&P 500-Futures vor und nach dem 9. September 2001

DER AKTIONÄR: Herr Stork, Herr Hechler, wo waren Sie am 11. September und wie haben Sie ihn erlebt?

Stork: Ich glaube, der 11. September 2001 ist ein Ereignis, bei dem sich fast jeder Mensch erinnern kann, wo er sich aufgehalten hat. Ich hatte damals schon ein wenig den Ruf bei den Kollegen, dass ich als alter Bulle bei Crashs normalerweise nicht am Floor bin. Und so war es auch dieses Mal. Ich befand mich an diesem Tag im Urlaub … das Telefon stand allerdings keinen Moment still.

Hechler: Ich war mittendrin in dem Wahnsinn: Der Markt befand sich schon seit längerer Zeit in einem Abwärtstrend, der DAX verlor in den Wochen vor den Anschlägen schon mehr als zehn Prozent, und die 5.000er-Marke wurde gebrochen. Am frühen Nachmittag handelte der DAX relativ ruhig, doch plötzlich kam Unruhe im S&P-Future auf, ich bekam einen Anruf von einem befreundeten Sales-Mann einer amerikanischen Investmentbank, der meinte, es sei wohl gerade ein kleines Sportflugzeug in das World Trade Center geflogen. Da wir zu diesem Zeitpunkt für unseren Tisch schon einen ziemlich guten Jahresgewinn realisiert hatten und ich auch dafür bekannt war, „schnell zu schießen“, verkaufte ich 100 DAX-Futures market. Nach wenigen Minuten brach auf dem Handelsfloor regelrecht Panik aus, und langsam realisierte jeder, dass sich etwas Größeres anbahnte. Die Kommentatoren auf CNBC und N-TV schalteten live nach New York, und jeder konnte das Drama mitverfolgen. Ein geordneter Handel war schwierig, die Kollegen aus London schrien eine Verkaufsorder nach der anderen in die Box und unser Handelstisch war am Limit. Gerüchte über weitere Flugzeugattacken, auch in Frankfurt, machten die Runde. Die US-Börsen wurden umgehend geschlossen, die deutschen Börsen blieben während der gesamten Zeit geöffnet. Die DAX-Futures stellte ich am selben Tag glatt, es blieb ein siebenstelliger Gewinn aus dieser Position – ein schwacher Trost.

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