Buch lesen: «Ein Jahr ohne dich», Seite 2

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»Hi, Peggy. Mensch, bin ich geschafft. Es war echt ein guter Tipp von dir, dass ich so frühzeitig zur Freiheitsstatue gehen sollte.«

»Ja, wir hatten am Montag den Fehler gemacht, erst mittags hinzufahren und da war die Hölle los.«

»Peggy, du sprichst so gut deutsch mit wenig Akzent. Woher kommst du eigentlich, Skandinavien oder so?«

»Danke. Aus Norwegen bin ich, aus einem kleinen Nest in der Nähe von Oslo. Ich hatte vier Jahre Deutsch in der Schule und dieses Jahr machte ich meinen Abschluss. Im Herbst gehe ich nach Oslo, um Medizin zu studieren.«

»Ehrlich? Ich werde hier zwei Semester Englisch studieren und anschließend zuhause auch Medizin!«

»Das ist ja ein Zufall!«

Nachdem wir uns umarmt hatten, verabredeten wir uns zum Frühstück am kommenden Tag. Wir wollten dann zusammen zum Solomon R. Guggenheim Museum und anschließend in den Central Park.

***

Beschwingt starteten Peggy und ich am nächsten Morgen, spazierten nur wenige Straßen über eine Brücke zur U-Bahn 495. Der Himmel zeigte sich wieder von seiner freundlichsten Seite, trotz der frühen Morgenstunde. Nach nur kurzer Fahrzeit nahmen wir den Ausgang ´96th Street` und landeten in der Nähe des Central Parks mitten in Manhattan. Von überall her empfing uns Lärm. Polizisten, die mit gellenden Pfeifen den Verkehr regelten, Hupen, hetzende Menschen, die irgendein Ziel anstrebten. Wie im Irrenhaus! Nichts auf Dauer für mich, dachte ich entnervt. Wir spazierten an riesigen Bäumen entlang, und auf der gegenüber liegenden Seite zeigten sich prachtvolle viktorianische Häuser. Mittlerweile hatten wir sommerliche Temperaturen, kein Wölkchen war am stahlblauen Himmel zu sehen. Wir lachten ausgelassen und erzählten uns die ganze Zeit aus unseren Leben.

»Peggy, lass uns eine Pause machen. Siehst du dort drüber das schöne italienische Eiscafé?«

»Oh ja, dazu hätte ich jetzt auch Lust und zwar auf einen großen Früchtebecher.«

An der nächsten Ampel überquerten wir die Straße und nahmen in dem einladenden Eiscafé Platz.

»Was darf ich den Damen bringen?«

Ein gut aussehender Mann trat an unseren Tisch, dabei lächelte er uns fragend an.

»Ich nehme einen großen Früchtebecher«, sagte Peggy.

»Und ich bitte einen Erdbeerbecher.«

Kaum war er verschwunden, um sich um unsere Bestellung zu kümmern, kicherten wir und erzählten uns unsere bisherigen Begegnungen mit dem anderen Geschlecht. Peggy hatte schon zwei Freunde gehabt, sie war im Frühjahr neunzehn Jahre alt geworden.

»Kurz nach meinem Geburtstag erwischte ich Sören mit meiner besten Freundin. Das tat weh, kann ich dir sagen! Elin kannte ich seit dem Kindergarten und wir waren unzertrennlich - aber nur bis zu diesem Moment! Stell dir vor, in unserem Garten hinter einem großen Kastanienbaum küssten sie sich mehr als nur leidenschaftlich - und das an meinem Geburtstag! Dieses Biest, dieser Idiot! Ich war echt geschockt und schloss mich dann auf meinem Zimmer ein. Die Party war gegessen. Drei Tage später machte ich Schluss - per SMS. Diesem Typ wollte ich nicht noch einmal begegnen und Elin schrieb ich eine saftige Mail. Deswegen bin ich auch hier, um auf andere Gedanken zu kommen. Gleichzeitig etwas Cooles zu erleben.«

Peggy hatte kaum Luft geholt, ich sah, dass sie mit ihrer Fassung rang.

»Das tut mir echt leid, aber so etwas Ähnliches habe ich auch erlebt. Lucas war mein erster Freund. Wir waren fast ein Jahr befreundet, dann traf er sich heimlich mit einer Mitschülerin aus meiner Klasse. Dieser Volltrottel! Ein Sportfreund aus seinem Fußballverein sah die beiden eng umschlungen das Kino verlassen. Ich sprach Lucas direkt an, ich tobte. Er gab es sofort zu und meinte: ´Für mich ist es eh aus. Hatte nur vergessen Schluss zu machen.` Kannst du dir das vorstellen, Peggy? Ich hasse ihn.«

Wir beide redeten noch eine Weile, dann bezahlten wir bei dem gutaussehenden Kellner, der mit viel Charme die Rechnung brachte. Klar, bei den Preisen musste man überfreundlich zu den Kunden sein, um wenigstens etwas Trinkgeld zu erhaschen, denn davon lebten die Bedienungskräfte dort ja hauptsächlich.

Ich hängte mich bei Peggy unter und wir schlenderten zum Guggenheim Museum, das nur wenige hundert Meter um die Ecke lag. Wirklich ein Meisterwerk an moderner Architektur. Der Anblick war atemberaubend und ein krasser Gegensatz zum tobenden Leben ringsherum. Im Innern hatte der Architekt terrassenförmige Etagen angelegt, auf denen die Kunstwerke renommierter Künstler wie Chagall, Kandinsky, Picasso und van Gogh ausgestellt waren. Überall schuf der Bauherr eine Parallele zur Natur und geometrische bauliche Figuren standen im Vordergrund. Der helle Wahnsinn.

Wir fuhren mit dem Aufzug zur höchsten Ebene der spiralförmigen Rampe und liefen an den Kunstwerken vorbei nach unten. Kein Sonnenlicht fiel trotz Glaskuppel auf die Gemälde und trotzdem bekamen sie durch die Bauart des Gebäudes ein ganz besonderes Licht.

Peggy und ich waren sehr beeindruckt von diesem großartigen Monument und den vielen berühmten Gemälden, laut Reiseführer eine der weltweit besten Kunstsammlungen des 20. Jahrhunderts.

»Conny, ich brauche eine Pause und frische Luft. Wir sind jetzt schon fast drei Stunden hier. Ich kann keine Bilder mehr sehen«, sagte Peggy zu mir und schnitt dabei eine Grimasse.

»Habe auch keine Lust mehr. Komm, lass uns wieder in den Central Park gehen und dort etwas in einem gemütlichen Gartenlokal essen.«

In wenigen Minuten spurteten wir zu dem größten, künstlich angelegten See im Park und erwischten noch die letzten zwei Plätze in einer Gaststätte im Freien - bei uns würde man jetzt sagen, Biergarten. Da war es wieder das Gefühl von Sehnsucht und Alleinsein.

Ich fragte: » Hast du auch so Heimweh? Irgendwie habe ich etwas Angst. Ob ich das, was ich vorhabe, auch schaffen werde?«

»Du musst dir etwas Zeit lassen, du bist ja erst kurz hier. Verlangen nach zuhause habe ich nicht. Eher bin ich froh, von diesem Mistkerl Sören tausende von Kilometern entfernt zu sein. Lass uns ein Gläschen Wein bestellen und etwas Leckeres zum Essen, dann wird es dir bald besser gehen.«

»Wenn ich in Zukunft bei jedem Heimweh etwas essen und Alkohol trinken soll, dann kannst du mich in ein paar Wochen rollen und ich muss zum Entzug.« Wir lachten herzlich und ich war von meinen trüben Gedanken abgelenkt.

Peggy und ich verabredeten, dass wir, wenn sie wieder zuhause war, einmal im Monat skypen wollten. Im nächsten Jahr planten wir uns zu besuchen, egal wo die eine oder andere sein sollte. »Wir lassen es einfach auf uns zukommen«, sagte ich zu meiner neugewonnenen Freundin.

***

Am späten Nachmittag, die Hitze ließ endlich nach, traten wir den Rückweg zum Hotel an. Dieses Mal fast komplett mit der U-Bahn, nur die beiden letzten Straßen mussten wir zu Fuß marschieren.

»Conny, ich gehe jetzt erst mal eine Runde schlafen und duschen, dann treffen wir uns unten im Loft zum Abendessen und chillen, ja?«

»Gerne, denn dasselbe werde ich auch tun, schlafen und dann duschen! Spielt nicht heute eine Live-Band?«

»Doch, so eine amerikanische Newcomer Band. Bin gespannt. Bis später!«

Kaum lag ich auf meinem Bett, tauchte ich in einen traumlosen Schlaf ein. Frisch und munter wachte ich zwei Stunden später auf. Überall im Hostel hörte man Stimmen und die Duschen liefen auf Hochtouren. Ein Blick zur Uhr zeigte mir, dass ich mich beeilen musste. Nach dem Duschen zog ich noch schnell eine frische Jeans und eine Kurzarmbluse an und warf mir einen Pulli über die Schultern.

Heute gab es Spaghetti Bolognese und für die Vegetarier kochten sie eine riesige Schüssel mit Tomaten-Gemüse-Soße. Wie das schon duftete!

»Hallo Conny, hier!« Peggy winkte. Sie saß bereits am Tisch bei ihren drei Freundinnen, mit denen sie eigentlich hier in New York zehn Tage verbrachte.

»Hallo, ich bin Conny.« Ich schüttelte allen die Hände und schnell waren wir miteinander bekannt. Nach dem leckeren Essen hörten wir uns noch eine Weile die Band an, wobei Country nicht unserer Musikrichtung entsprach. Einen Absacker nahmen wir im King´s County, einer typisch amerikanischen Bar, mit gemütlichem Hinterhof und guten Preisen, in der Nähe des Hotels. Gegen Mitternacht verabschiedeten wir uns wehmütig von diesem Ort, in dem das Nachtleben von New York nur so pulsierte.

»Gute Nacht, Mädels.« Lachend und etwas zu laut gingen wir auf unsere Zimmer, um uns am nächsten Morgen gegen acht zu treffen. Wir hatten zu fünft einen Ausflug zum Empire State Building geplant.

***

Nach dem Frühstück nahmen wir wieder die U-Bahn 495 und spazierten die letzten zwei Blocks zu Fuß. Unschlüssig wurden einige von uns langsamer und wir liefen prompt ineinander.

»Hey! Was ist?«, fragte ich.

»Da vorne, schaut doch nur!«, rief Manuela und zeigte nach oben.

»Tatsächlich! Das Empire State Building!«, schrie Petra fast hysterisch.

Um uns herum schüttelten die vorbeieilenden Fußgänger nur den Kopf. Wir hielten den Atem an und genossen den grandiosen Anblick dieses Gebäudes. Kein Wunder, dass es sich hierbei um eine der schönsten Attraktionen New Yorks handelte.

»Los, gehen wir, ich kann es kaum erwarten«, trieb ich die anderen zur Eile an. So schnell wir konnten, überquerten wir die Straße, kein leichtes Unterfangen bei dem Verkehr, noch einmal um die Ecke und wenige hundert Meter später standen wir direkt vor dem Empire State Building. Wie auf Kommando legten wir unsere Köpfe nach hinten um die Spitze zu erkennen, was natürlich aus dieser Perspektive unmöglich war.

Ein freundlicher Aufzugpage fuhr uns nach dem Vorzeigen des New York Passes bis zur berühmten Aussichtsplattform, fast vierhundert Meter über der fünften Straße. Welch ein Nervenkitzel!

Schon Meg Ryan im Film „Schlaflos in Seattle“ drehte hier oben und als wir nun auf die Aussichtsplattform traten, wussten wir warum!

Uns bot sich ein atemberaubender Blick über ganz New York und laut Reiseführer bis zu den angrenzenden Bundesstaaten. Der Himmel zeigte sich von seiner schönsten Seite, keine Wolken und die Sicht so klar wie Kristalle. Wir standen über dem 102. Stockwerk und die Menschen und Häuser waren klitzeklein, sahen fast wie Ameisenstraßen aus. Ich bekam eine Gänsehaut!

»Conny, kneif mich mal.« Peggy war neben mich getreten. »Aua, nicht so fest!«

»Man kann es dir wohl nicht recht machen«, lachte ich sie an.

»Habt ihr auch den Film „Schlaflos in Seattle“ gesehen?« Sabine schwärmte und träumte mit verklärtem Gesicht. »Ach wenn doch nur jetzt so ein toller Mann um die Ecke käme.« Wir lachten und umarmten uns glücklich.

»Schaut mal dort!« Petra flüsterte uns zu. »Dein Wunsch geht in Erfüllung, Sabine.« schmunzelte Manuela.

Tatsächlich. Ein gut gekleideter Mann, nur etwas älter als wir, schlenderte über die Aussichtsplattform. Alleine. Gehen Wünsche so schnell in Erfüllung?

Sabine war nun zur Salzsäule erstarrt und konnte nur noch mit offenem Mund staunen.

Er kam direkt auf uns zu!

»Können die Damen mir vielleicht weiterhelfen?«, lächelte er uns charmant an. Er sprach deutsch. Die Erste, die ihre Sprache wieder fand, war ich. »Was wollen sie denn gerne wissen. Ich bin übrigens Constanze und das sind meine Freundinnen aus Norwegen.«

»Ich heiße Thomas, bin nur drei Tage in New York und möchte gerne mit meiner Familie in der Nähe essen gehen. Kennen sie sich hier aus?«

Fünf Gesichter blickten Thomas enttäuscht an.

»Nein, ähm … wir wohnen in Brooklyn und sind heute auch das erste Mal hier in diesem Stadtteil.«

»Okay, aber trotzdem vielen Dank und einen schönen Aufenthalt.«

Hinter Thomas war eine gutaussehende Blondine, mit einem kleinen Kind an der Hand, hervorgetreten. Wie aus dem Ei gepellt, die beiden! Sie verabschiedeten sich und wir umrundeten die Plattform mit etwas gedämpfter Stimmung.

»Wir lassen uns doch jetzt nicht die Laune verderben. Kommt Zeit, kommt ... ähm Mann!«, sprach Manuela und zwinkerte uns zu.

Sie hatte Recht. Wir waren ja nicht in diese Stadt gekommen, um Männer zu finden. Nachdem wir etliche Fotos von New York, einzeln von uns und in der Gruppe gemacht hatten, ging es nach längerer Wartezeit mit dem selben freundlichen Aufzugpagen nach unten auf die fünfte Straße zurück.

Wir hatten noch eine Shoppingtour in die Outlet Mall geplant, denn die Mädels wollten günstige Klamotten mit nach Hause nehmen und ich konnte ´eh einiges gebrauchen. Sehr viel hatte ich für ein Jahr Aufenthalt von zuhause nicht mitnehmen können und was wäre denn New York ohne Shoppen! Da waren wir uns schnell einig geworden und gerade diese Mall war bekannt für günstige Schnäppchen.

Kaum raus aus dem Ausgang des Empire State Buildings fuhren wir von Manhattan mit dem New York Subway zur 42. Straße zum Busbahnhof. Die Linie B brachte uns in nur dreißig Minuten nach New Jersey, dort noch einmal umsteigen in den Bus und dann waren wir an der Jersey Gardens Mall.

»Verspätetes Mittagessen, Mädels?«, fragte Petra, »auf einem Bein kann man nicht stehen und shoppen schon gar nicht.«

Vergnügt steuerten wir den nächsten McDonald´s an und jeder bestellte etwas anderes, um gegenseitig zu probieren. Noch schnell ein Softeis in die Hand und ab ging es zur Shoppingmeile.

***

Drei Stunden später:

»Meine Füße brennen wie der Teufel.« Petra setzte sich auf den nächsten Pfosten, der am Weg stand.

»Und ich bin blank wie eine Kirchenmaus, aber eingedeckt bis zur nächsten Steinzeit«, stöhnte Manuela.

»Peggy und mir geht es nicht anders.«, warf ich dazwischen.

»Wo ist Peggy überhaupt, Conny?«, fragte Sabine und schaue sich suchend um.

»Sie musste noch unbedingt in dieses Wäschegeschäft, aber ich bin platt wie eine Flunder, todmüde und doch so glücklich über meine Schnäppchen.« Ich grinste vor mich hin.

»Huhu, Mädels! Mensch, ich habe einen Deal gemacht mit der Verkäuferin. Zwei BH-Sets zu dreißig Dollar. Ich kann es nicht glauben. Meint ihr, das ist wirklich von Calvin Klein?«

»Peggy, klar, das könnten die sich hier nicht erlauben! Imitate ... du hast Ideen!« Manuela und Petra schüttelten gleichzeitig ihre Köpfe.

»Wollen wir nicht wieder Richtung Hostel? Ich habe genug für heute. Es ist auch bald Abendessenszeit.«, fragte ich in die Runde und stand von der Bank auf, von der ich lieber gar nicht mehr aufstehen wollte. Die Anderen schwangen sich nun ebenfalls auf und wir traten den langen Weg mit Bus, U-Bahn und unseren Füßen an, um ziemlich fertig gegen zwanzig Uhr in der Herberge einzufallen. Jede von uns brachte ihre Tüten auf ihr Zimmer, dann aßen wir in dem kleinen italienischen Restaurant nebenan Pizza, tranken dazu Bier und danach war Feierabend.

Todmüde fiel ich auf mein Bett. Welch wunderschöner Tag heute doch gewesen war. Ich hatte schon viel gesehen in meinen jungen Jahren. Erst zusammen mit den Eltern, später mit Peter und Mama und seit zwei Jahren auch mal alleine nach Norwegen und England auf Sprachreisen. Meine Gedanken schweiften ab. Sie gingen über den Ozean, so als ob sanfte Wellen sie über das Meer trugen. Ich versetzte mich nochmals hinein in mein früheres Leben, als würde es gerade passieren. Ich hörte Mamas Stimme, sie erzählte gleichzeitig mit den Händen, ihre Sprache ist lebendig, der Raum um mich herum verschwamm. Ich fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

°Christin°

Conny erinnert sich:

Zwei Jahre hatten wir in der Dachgeschosswohnung gewohnt, aber wegen der Erkrankung meiner Mutter suchte sie für uns eine Dreizimmerwohnung im Erdgeschoss mit großem Balkon, im ehemaligen französischen Viertel. Leider hat sie wieder im Wohnzimmer schlafen müssen, denn es sah nicht danach aus, dass sie wieder arbeiten könnte. Außerdem war diese Wohnung teurer als die andere. Mama wünschte sich so sehr ein eigenes Zimmer, aber niemand gab uns eine Vier-Zimmer-Wohnung zu einem moderaten Preis. Wir konnten sogar kaum welche besichtigen, immer wurden Paare mit oder ohne Kinder bevorzugt.

»Ich verstehe die Menschen nicht! Ich habe genauso viel Geld im Monat zur Verfügung wie mancher Familienvater. Nur weil ich geschieden und alleinerziehend bin, bekomme ich keine Chance auf vier Zimmer! Solch eine Ungerechtigkeit! ´Hunde sind mir lieber als Kinder`, stellt euch das vor! Eine Unverschämtheit ohnegleichen diese letzte Vermieterin.«

Mama war so traurig und wünschte sich einen kleinen Platz zum Zurückziehen. Sie hatte zwar das Wohnzimmer mit unserer großen Bücherwand geteilt - dahinter stand ihr Bett - aber der Raum diente uns zum Fernsehen, Essen und bei jeder Feier musste geschoben werden, denn es war alles sehr beengt. Sie tat mir schon zu dem Zeitpunkt leid, aber erst heute weiß ich, welch großes Opfer es für sie war, meinem Bruder und mir ein eigenes Zimmer zu geben.

Ich erinnere mich, dass Mama das Alleinsein irgendwann nicht mehr ausgehalten hatte. Sie gab eine Annonce in einer MS-Fachzeitschrift auf, traf sich mit einem Mann und verliebte sich schon während der ersten Begegnung.

»Als ich damals auf den Marktplatz trat, sah ich ihn schon von weitem. Es war heiß an diesem Tag, er hatte sein Sakko über seinen Arm gelegt. Die Vögel zwitscherten kaum, der Himmel strahlte azurblau und der Wind raschelte verhalten in den Bäumen. Schmetterlinge tanzten in meinem Bauch. Tom strahlte etwas aus, das ich damals nicht erklären konnte. Hätte ich es gewusst, wäre mir, und auch euch Kindern, sehr viel erspart geblieben.«

Ich denke jeden Tag an diesen Mann. Eigenartigerweise, denn unsere Wege trennten sich vor vier Jahren. Ich vollzog die Trennung unter größten seelischen Qualen, doch gemeinsam wären wir untergegangen. Heute gehen wir gesonderte Wege, wir haben uns beide mit dem Leben arrangiert. Ob besser als zusammen, werden wir nie erfahren.« Dies erzählte mir Mama kurz bevor ich Deutschland verließ. Meine Freundschaft mit Lucas war gerade in die Brüche gegangen, ich war tot unglücklich und stellte Fragen zu ihr und Tom. An dem Tag war auch Mama etwas nachdenklich, denn sie hatte Tom zwei Tage vorher bei einer Sitzung gesehen.

Die viereinhalb Jahre mit ihm waren auch für uns schwierig. Er hatte nicht nur dieselbe Krankheit wie Mama ­ sehr dezent im Unterschied zu ihr - er war auch noch manisch-depressiv. Monate verlief es gut mit den beiden, wir waren wieder eine Familie und dann kamen unberechenbare Monate. Unsicherheit nicht nur bei Mama, auch bei uns.

Mama stürzte in ein tiefes schwarzes Loch nach der Trennung. Sie liebte Tom von ganzem Herzen, ertrug seine ständigen Stimmungsschwankungen, seine launischen Kinder und hatte auch seine Krebserkrankung vor zwei Jahren bedingungslos mit ihm durchgestanden. Doch ihr wurde klar, mit diesem Mann konnte sie nicht glücklich werden. Sie musste ihre Kinder schützen! Als sie ein paar Monate später etwas aus ihrer Depression an die Oberfläche trat, beendete sie diese Beziehung schweren Herzens. Ich konnte das Hin und Her zu diesem Zeitpunkt eh nicht mehr hören. Ich hatte meine eigenen Probleme mit Freundinnen und die Pubertät hatte Einzug in mein Leben gehalten. Peter war zu jung, um viel mitzubekommen. Er gewöhnte sich unbedarfter daran, dass Tom nicht mehr kam, nur hin und wieder stellte er Fragen oder erzählte über Erlebtes mit ihm.

***

Ich lernte Lucas zwei Jahre später kennen. Meine Freundin Amy hatte zu ihrer Geburtstagsfete auch zwei Jungs aus ihrem Dorf eingeladen. Ansonsten kamen viele Klassenkameradinnen, einige von unserer Jugendgruppe ´Gemeinschaft christlichen Lebens`, der GCL, die aus Jungs und Mädels bestand, sowie Freunde von Amy aus der früheren Schule.

Amy wohnte mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in einem großen Haus mit Scheune am Waldrand von Dierhütten. Ihr Vater starb ein Jahr vor meinem Papa, plötzlich und unerwartet.

Wir feierten in dieser Scheune. Hans, Amys Bruder, hatte uns beim Umräumen und Herrichten am vorigen Mittag geholfen. Da er zwanzig war, durfte er schon Autofahren und kutschierte uns zum Getränke einkaufen nach Bad Bergzabern. Wir hatten eine Liste, wer einen Salat oder Dessert mitbringt, und besorgten den Rest.

»Hans, kommst du wirklich auch heute Abend? Ohne dich bin ich aufgeschmissen!« Amy fragte ihren Bruder während der Heimfahrt, denn man konnte sich selten auf ihn verlassen.

»Klaro, ich werde meine Anlage mitbringen und die Musik für euch auflegen, dann habe ich auch die Stereoanlage im Auge. Claudia kommt gegen 17:00 Uhr«, er zwinkerte. Seine Freundin Claudia wollte das Buffet etwas bewachen und notfalls auffüllen oder den Müll wegräumen.

Zwei Stunden später war es soweit. Amy und ich hatten unsere neuen Klamotten an und uns schwer ins Zeug gelegt. Unter den ersten Gästen war Lucas mit seinem Freund Herbert.

»Hallo Lucas, hallo Herbert. Schon lange nicht mehr gesehen. Ihr macht euch ganz schön rar.«

Amy begrüßte die zwei Jungs aus ihrem Dorf.

»Hey Amy. Super hast du die Scheune hergerichtet. Danke für die Einladung.«

Lucas umarmte Amy und mir gab er die Hand. Welche tollen braunen Augen er hat! Herbert streckte mir seine Hand entgegen, während ich noch von Lucas Augen träumte. Er schaute mich grinsend an, anscheinend war er es gewöhnt, dass sich die meisten Mädchen nach seinem Freund umsahen. Herbert war riesig, hatte rotblonde Wuschelhaare und machte eher einen lässigen Eindruck auf mich. Er hatte aber ein sehr freundliches Lächeln. »Hey Conny, woher kommst du denn?«

»Ich bin aus Lahnfeld und gehe mit Amy auf die gleiche Stufe in der Maria-Ward-Schule.«

»Okay, dieser Nonnenbunker!«, er lachte. Ich konnte ihm nicht böse sein, denn die Schule wurde schon seit ihrer Existenz so genannt, da dort früher auch Schwestern unterrichteten. Außerdem stand ihm der Schalk ins Gesicht geschrieben. Er war mir gleich sympathisch. Ich schaute zu Lucas hinüber, so unauffällig es nur ging, und unterhielt mich weiter mit Herbert. Er und sein Freund hatten gerade mit ihrem Studium begonnen, Herbert Maschinenbau in Kaiserslautern und Lucas BWL in Karlsruhe. Unser Gespräch war ungezwungen und wir lachten viel.

Später stand ich alleine an dem kleinen Buffet und bediente mich von den Salaten.

»Hey, schöne Frau«, dunkelbraune Augen lächelten mich an. Meine Knie fühlten sich auf einmal wie Pudding an. Lucas stand neben mir.

Verlegen grinste ich zurück. Mensch, Conny, lass dir etwas Cooles einfallen, spornte ich mich an.

»Hey, Lucas.« Echt eine bahnbrechende Idee. Ich war von mir selbst genervt.

»Setzen wir uns mit unseren Tellern vor die Scheune?«, fragte er mich und zeigte auf zwei freie Plätze.

»Gerne.« Konnte ich denn keine vollständigen Sätze mehr bilden?

»Amy hat mir erzählt, ihr geht zusammen in die gleiche Stufe. Welche Leistungskurse hast du?«

»Deutsch, Englisch, Biologie.« Ich schaute ihn wie 'klein Doofie' an. Was er wohl von mir denken wird?

»Was machst du sonst noch so, in der schulfreien Zeit?«, grinste mich Lucas frech an.

»Ich tanze seit ich vier Jahre alt bin in einer Ballettschule, treffe mich mit Freundinnen und den GCL-Leuten, Shoppen und Kino mag ich auch

Toll Conny, du hast es geschafft zusammenhängende Sätze zu sprechen. Ich verdrehte gedanklich die Augen.

Lucas holte uns zwei Bier. Allmählich entspannte ich mich und fing an zu gackern. Peinlich Conny, aber so lernt er dich von all deinen Seiten kennen, von den guten und den schlechten.

»Hast du Lust, nächsten Freitag mit mir ins Kino zu gehen?«

Lucas war nun auch etwas angetrunken, er hatte bereits mehr als ich intus. Ich hatte ihn noch Schnäpse trinken sehen.

»Klar doch. Gib mir deine Handynummer, dann schicke ich dir meine Nummer.«

Zum Abschied gab er mir ein Küsschen auf meine Wange. Ich hob förmlich vom Boden ab und schwebte direkt ins Bett. Amy hatte alle verabschiedet und wir lagen in unseren Schlafsäcken auf Matratzen in ihrem Zimmer.

»Amy, Lucas ist ja sooo süß. Er hat mich für Freitag ins Kino eingeladen.«, schwärmte ich meiner Freundin vor.

»Freut mich für dich, ich finde Herbert toll. Wir gehen morgen Fahrrad fahren und dann Eisessen.«

Jetzt träumte Amy vor sich hin und war kurz darauf eingeschlafen. Ich zählte noch Schäfchen und dachte an Lucas.

Ich konnte kaum abwarten, bis es endlich Freitag war. Amy war inzwischen mit Herbert zusammen, es hatte mächtig zwischen den Beiden gefunkt.

Mein Traummann und ich brauchten noch ein paar Anläufe mehr, aber nach zwei Wochen war ich Luca`s Freundin.

Wir waren unzertrennlich und verbrachten jede freie Minute zusammen. Lucas pendelte zwischen Karlsruhe und Dierhütten, außerdem bekam er abends oder oft auch mittags das Auto seiner Mutter, damit wir uns sehen konnten. Es waren ja nur wenige Kilometer zu mir, nach Lahnfeld. Jeder machte weiterhin seinen Sport, Lucas hatte oft an den Wochenenden Spiele mit seinem Fußballverein. Ich stand dann stolz am Rande des Fußballfeldes und genauso stolz war ich, wenn er mich von der Ballettschule abholte. Manch einer tuschelte hinter unserem Rücken, doch das war uns egal. Selbstverständlich musste ich für die Schule und er für sein Studium lernen. Ich stand kurz vor dem Abitur und freute mich riesig ihn zur Abiturfeier an meiner Seite zu haben. Er half mir in Englisch, offensichtlich hatte ich mich bei der Wahl dieses Leistungskurses etwas verschätzt. Nach dem Abitur wollte ich auf jeden Fall für ein Jahr in die USA, um die Sprache besser zu erlernen. Mein Ziel war es, Medizin zu studieren.

Amy war glücklich mit ihrem Herbert und sie entschied sich, nach dem Abitur für Technische Biologie an der Technischen Universität, an der Herbert Maschinenbau studierte, einzuschreiben.

Alles kam anders, mein Traum und meine erste große Liebe zerplatzten wie Seifenblasen.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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