Iskandrien - Die ferne Insel

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Aus der Reihe: Iskandrien #1
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„Habt ihr etwas zu eurer Verteidigung vorzubringen …?“ Nat zögerte, da traf ihn ein leichter Schlag auf den Hinterkopf. „Der Richter hat Dich was gefragt!“

Nat war versucht sich umzudrehen und dem hinter ihm stehenden Mann einen Tritt zu verpassen. Aber erstens hätte er das wohl nicht geschafft, bevor die Wärter ihn überwältigt hatten. Und außerdem hätte das vor dem Richter keinen guten Eindruck gemacht.

Nat erhob die Stimme und schaute zum Richtertisch hinauf „Ehrenwerter Richter:“ Sicherheitshalber übernahm er die Anrede, die auch der Wärter verwendet hatte. Da er keinen weiteren Schlag erhielt, schien er zumindest hier richtig zu liegen.

„Ehrenwerter Richter, ich bin hereingelegt worden.“

„Sooo!?!“ Der Richter hob eine Augenbraue, eine Fähigkeit, die übrigens nur verhältnismäßig wenige Menschen besitzen. Dies verlieh seinem Blick etwas Zweifelndes und Abschätzendes.

„Man hat mich dazu überredet in den Garten hinein zu gehen. Man hat mir gesagt, dass dies nicht schlimm sei. Ich wollte mich dort nur kurz umsehen und dann wieder rausklettern. Leider hat mein Helfer mich hereingelegt. Er hat gleich als ich im Garten war die Leiter weggenommen und laut nach der Wache gerufen.“

Nats Stimme überschlug sich fast, als er versuchte den Richter von der Beteiligung Luptus’ und seinem Verschulden zu überzeugen. Und davon, dass er selber, Nat, nur ein Opfer der Umstände war.

Der Richter sah interessiert auf Nat herab. „Und wie heißt dieser Helfer? Und warum hat er euch geholfen?“

„Sein Name ist Luptus und er ist der Kammerjäger hier im Schloss und der Festung. Warum er mir geholfen hat, weiß ich nicht genau.“ Nat versuchte sich an das Gespräch am Vorabend zu erinnern.

„Er wollte eigentlich selber gern mal in Garten, am liebsten, wenn die Königin und ihre Hofdamen dort lustwandeln. Aber da er es selber bisher nicht geschafft hatte, wollte er sich wenigstens von jemandem beschreiben lassen, wie es dort war… und … ääähh…!“

Nat erkannte bei jedem weiteren Wort, wie unglaubwürdig das alles eigentlich klang. Warum war ihm das nicht letzte Nacht bereits aufgefallen?

Der Richter schüttelte abschätzig den Kopf. „So einen Unsinn habe ich ja noch nie gehört.“ Er sah zu den Wächtern hin. „Ist euch der Kammerjäger Luptus bekannt?“

Der Wächter, der Nat in die Kniekehle getreten hatte nickte. „Ja ehrenwerter Richter, dieser Mann arbeitet tatsächlich in der Festung.“

Nat atmete auf.

„Allerdings hat er schon aufgrund seines Berufs als Kammerjäger freien Zugang zu allen Bereichen des Schlosses und der Festung. Es gibt keinen Grund, warum er einen Helfer brauchen sollte, um in den Garten zu kommen.“

Die Miene des Richters verfinsterte sich endgültig. Nat brach erneut der Schweiß aus.

Er sah sich Hilfe suchend nach seinem Verteidiger um. Der saß zurückgelehnt mit geschlossenen Augen auf der Bank und schien zu schlafen.

„Ich denke, unter diesen Umständen kann ich darauf verzichten, den Kammerjäger als Zeugen vorzuladen. Daher können wir jetzt zu den Plädoyers des Verteidigers und des Anklägers kommen.“ Der Richter schaute auffordernd zu den beiden Männern auf den Bänken hinüber.

Der Ankläger stand auf, fixierte Nat mit böser Miene und räusperte sich.

„Ich fordere für den Angeklagten die Todesstrafe. Seine Absichten sind unklar, es ist nicht auszuschließen, dass er der königlichen Familie schweren Schaden zufügen wollte. Außerdem sollten wir ein Exempel für die Unantastbarkeit des Schlosses und seiner Bewohner statuieren.“

Der falkengesichtige Mann ließ sich auf die Bank fallen. “Mehr gibt es dazu nicht zu sagen!“

Nat wurden die Knie weich. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Wann würde die Tür aufgehen und jemand sagen, dass alles nur ein großer Scherz war, um ihm einen Denkzettel zu verpassen.

Er schaute fassungslos zu seinem Verteidiger hinüber.

Der kleine dicke Mann erhob sich schwerfällig.

„Ehrenwertes Gericht. Ich finde, man sollte meinem Mandanten zugutehalten, dass er seine Tat nie bestritten hat.“ Cyrrus Lohness zog ein großes buntes Taschentuch aus der Tasche und wischte sich über sein Vollmondgesicht.

„Es wurde auch kein Schaden angerichtet. Und ob die Absicht des Angeklagten…“, er zeigte bei diesen Worten mit einer müden Geste auf Nat „… wirklich darin lag, den Bewohnern des Schlosses Schaden zuzufügen ist doch sehr fraglich!“

Nat nickte eifrig und schaute Beifall heischend zum Richter hinauf.

„Ich stimme jedoch meinem Vorredner zu, dass die Unantastbarkeit des Schlosses verdeutlicht werden sollte. Ich würde daher für lebenslange Zwangsarbeit in den Steinbrüchen plädieren!“

Nat erstarrte. Schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen und das Blut rauschte laut in seinen Ohren. Lebenslange Zwangsarbeit!?! Todesstrafe!?! Aber warum, wofür – und wieso er?

Wie durch einen Schleier sah er den Richter, der sich langsam von seinem Stuhl erhob und sich über den Richtertisch vorbeugte.

Mit kalten, mitleidslosen Augen blickte er auf Nat.

„Ich habe die Plädoyers zur Kenntnis genommen. Für mich ist die Sachlage eindeutig, hier ist eine weitere Überlegung nicht notwendig.“

Mit einer abrupten Bewegung richtete er sich zu voller Größe auf und sah mit starrem Blick auf die gegenüberliegende Wand des Gerichtssaals.

„Aufgrund der Befugnis, die mir von seiner Majestät, Prilip dem IV. verliehen wurde und vertrauend auf die Gnade der Götter, verurteile ich euch …“ er blickte auf den Tisch vor sich. Auf dem dort liegenden Schriftstück stand nicht einmal der Name des Angeklagten. „äääh … Angeklagter, zum Tode durch den Strang.“ Er machte eine kurze Pause

„Ihr sollt am Halse aufgehängt werden, bis dass der Tod eintritt. Die Strafe soll morgen zu Sonnenaufgang vollzogen werden.“

Er nahm einen Holzhammer auf und schlug einmal heftig auf die Tischplatte. „Die Sitzung ist damit beendet.“

Nat war starr vor Entsetzen. Das Blut war aus seinem Gesicht gewichen.

Die Wärter packten ihn an den Armen und zogen ihn von dem Podest. Sie schleiften ihn ohne weitere Worte zur Tür des Gerichtssaals.

Nur aus den Augenwinkeln sah er, wie Cyrrus Lohness mit einer kurzen Bewegung die Perücke vom Kopf zog und seinen spärlichen Haarwuchs kratzte.

Sein Blick irrte durch den Besucherraum, aber sein Onkel war bereits verschwunden, ohne ein Wort.

Nat hatte das Gefühl weit weg zu sein, als würde das alles nicht ihm passieren. Er hatte das Gefühl über seinem eigenen Körper zu schweben und zuzusehen, wie er von den Wärtern aus dem Gerichtssaal geschleift wurde.

Die Personen auf den Bildern an den Wänden schienen ihn höhnisch anzugrinsen. Sogar der Kopf eines Mannes auf dem Richtblock blickte ihn aus hervorquellenden Augen an. Ein Lächeln verzerrte seine blutverschmierten Lippen.

Durch die Tür betraten Sie den Hof, der helle Sand glitzerte in der heißen Mittagssonne.

Vor der Tür standen drei Männer, in ein Gespräch vertieft. Als die Tür aufflog und die Wärter mit Nat auf den Hof heraustraten, drehten sich die Männer zu ihnen um. Alle verharrten einen kurzen Moment voreinander. Die Männer auf dem Hof versperrten den anderen ungewollt den Weg.

Zwei der Männer traten ruhig bei Seite, der dritte aber sah erst die Wächter und dann Nat an. Als sein Blick auf den verzweifelten jungen Mann fiel, stutzte er.

Er gab den beiden Wärtern ein kurzes Zeichen zu warten und trat dichter an Nat heran. Er legte die Hand unter Nats Kinn und hob den Kopf an, um Nat in die Augen zu blicken. Nat ließ alles regungslos mit sich geschehen, sein Geist schien seinen Körper verlassen zu haben. Blicklos schaute er den vor ihm stehenden Mann an.

Der Mann ließ Nats Kopf los, dann drehte er sich zu seinen beiden Begleitern um und gab den Weg für Nat und die Wärter frei.

Die beiden grobschlächtigen Wächter zerrten Nat weiter über den Hof und hinein in den Kerker, die Treppe hinunter und über den Gang bis zu seiner Zelle. Seine Handfesseln wurden abgenommen und er bekam einen derben Stoß in den Rücken, der ihn gegen die Wand taumeln ließ.

Einer der Wärter blickte auf den Teller und den Becher, die vor der Zelle auf dem Boden liegen. Mit einem gemeinen Grinsen nahm er beides auf und drehte sich zu Nat um.

„Du solltest lieber etwas essen, dann ist der Ruck härter, wenn Du am Seil hängst. Wenn Du Glück hast bricht dann gleich dein Genick. Sonst hängst Du da und musst langsam ersticken.“

Er legte seinen Kopf schief und hielt die Hand nach oben, als würde er den Strick festhalten.

„Kchchchch, ächächäch, röchel!“ Er ahmte die Geräusche eines Erstickenden nach, dann brach er in lautes Lachen aus. Er schlug dem anderen Wärter kräftig auf die Schulter, dann drehten beide sich um und verließen den Kerker.

Nat lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, dann sank er langsam an der Wand runter und begann haltlos zu schluchzen.

Irgendwann musste er eingeschlafen sein. Er hätte nie gedacht, dass er in seiner Situation noch einmal einschlafen würde.

Die letzten Strahlen der Abendsonne malten rote Muster auf die Wand. Von draußen erklangen laute Hammerschläge.

Es dauerte einen Moment, dann ging Nat auf, das dort wohl an seinem Galgen gearbeitet wurde.

Ein Schauder lief über seinen Rücken und Verzweiflung übermannte ihn.

Er zog die Beine an und schien immer mehr in sich zusammen zu kriechen.

 

So entging ihm, dass sich die Tür öffnete und zwei Männer die Treppe hinunter kamen. Vor seiner Zelle blieben die beiden stehen.

„Hier ist er. Ihr habt nur wenig Zeit. Ich hole euch gleich wieder ab!“

Einer der Männer drehte sich um, ging die Treppe hinauf und verließ den Kerker.

„Nat! Hey, Nat!“ Nat hob mühsam den Kopf, es gelang ihm nur langsam den Blick zu fixieren und den Mann vor dem Gitter zu erkennen.

„Onkel!?!“ Langsam richtete er sich auf, bis er an die Wand gelehnt in der Hocke saß.

Torstaf Bringhom trat an das Gitter heran und umfasste die Stäbe der Zellentür.

„Ich weiß nicht, wie du dich in diese Scheiße reingeritten hast und es interessiert mich auch nicht.“

Er atmete einmal tief durch, dann sah er Nat mit unstetem Blick an.

„Was du getan hast …! Es ist …! Ich … Ich sollte nichts für Dich tun! Der Hof muss ein Exempel statuieren. Wenn ruchbar wird, dass man in das Schloss einbrechen kann und dann wieder freigelassen wird, ist die Sicherheit der Schlossbewohner nicht mehr gewährleistet.“

Er schüttelte den Kopf.

„Ich habe lange überlegt, ob ich meinen Einfluss geltend machen kann um deine Freilassung zu erwirken. Deine Mutter, meine Schwester hat immer gesagt, dass du eigentlich ein guter Junge bist und dass auch dir noch etwas werden wird. Aber du bist ein fauler Drückeberger, der Andere arbeiten lässt und selber nur an seinen Vorteil und das süße Leben denkt. Du hast in der ganzen Zeit in meinem Kontor keine ordentliche Arbeit gemacht. Satt dessen hast du die Leute schikaniert und Waren gestohlen, um sie für dich zu behalten oder in deine Tasche zu verkaufen.“

Fassungslos sah Nat seinen Onkel an. Woher wusste der das alles. Und warum kam er ihm jetzt damit? Jetzt, wo ihm, Nat, der Tod bevorstand.

Der Kaufmann begann, unruhig vor der Zelle auf und ab zu gehen.

„ Ich habe nie den Eindruck gehabt, dass du mich, meine Arbeit oder die anderen Menschen um dich herum ernst nimmst. Du kennst nur dich selber und deinen Blick auf die Welt.“

Er machte eine kurze Pause.

„Das reicht nicht. Solange du nicht erkennst, wie wichtig dein Tun ist und welche Auswirkungen dein Verhalten auf die Menschen um dich herum hat und damit auch auf viele andere, habe ich nicht den Wunsch, dich weiterhin in meiner Nähe zu haben.“

Nats Mund klappte auf. Erschrocken sah er auf zu seinem Oheim, der einen Moment stockte, Nats Blick erwiderte und dann seine unruhige Wanderung wieder aufnahm.

Nat schluckte trocken, dann sank sein Kopf herab und er vergrub das Gesicht in den Händen.

„Aber natürlich kann ich nicht zulassen, dass ein Mitglied meiner Familie am Strick endet.“

Torstaf Bringhom blieb stehen und fixierte Nat mit hartem Blick.

„Ich habe das Gericht davon überzeugen können, die Todesstrafe in Zwangsarbeit im Steinbruch umzuwandeln. Und auch nicht lebenslänglich, sondern nur für zehn Jahre. Mehr war nicht zu erreichen.“

Er sah Nat zufrieden an.

Nat starrte blicklos auf den Boden. Nicht tot, … aber … zehn Jahre im Steinbruch. Er würde ein uralter Mann von einunddreißig Jahren sein, wenn er dort raus kam. Körperlich und wahrscheinlich auch seelisch gebrochen.

Er würde nie die Möglichkeit bekommen ein normales Leben zu führen.

Die entlassenen Strafgefangenen, die in Sylthana lebten, waren in einem eigenen Viertel untergebracht. Mit windschiefen Häusern, kaputten Dächern und zerrissenen Schweinsblasen statt Glas in den Fensterhöhlen.

Wenn sie überhaupt Arbeit bekamen, dann Kloake schaufeln in den Abwasserkanälen der Reichen oder die Straße fegen auf den großen Plätzen. Das aber natürlich nur nachts, damit sie den „guten“ Bürgern der Stadt nicht auffielen und das Stadtbild störten.

Außerdem würde er dann keine Möglichkeit haben, sich an Luptus diesem Hundesohn zu rächen. Ihm jeden Knochen zu brechen oder andere Gräuel anzutun.

Tausend Gedanken schossen Nat durch den Kopf.

Dann richtete er sich auf und trat einen Schritt auf Torstaf Bringhom zu.

Mit fester Stimme sprach er ihn an, sein Blick brannte sich in die Augen seines Onkels.

„Ich danke dir für dein Bemühen, mein Leben zu retten. Du hast Recht, ich habe viele Fehler gemacht und das Leben nicht so ernst genommen, wie es notwendig gewesen wäre. Ich habe meiner Mutter, die Götter haben sie selig, und meiner Familie Schande bereitet“

Er hob das Kinn.

„Aber zehn Jahre Zwangsarbeit würden mein Leben genau so unweigerlich zerstören, wie mein Tod. Nur dass ich jeden einzelnen Tag darüber nachdenken könnte, wie ich mein Leben zerstört habe.“

Jetzt war es Torstaf Bringhom dessen Mund erschrocken aufklappte. Das war nicht das Lob und die Dankbarkeit, die er sich erwartet hatte.

„Ich werde die Konsequenzen für meine Dummheit und meine Ignoranz tragen müssen. Aber Zwangsarbeit wäre eine Konsequenz, die ich nicht ertragen könnte. Ich wähle daher die Todesstrafe und bitte dich, das Gericht zu informieren.“

Nat machte Anstalten sich umzudrehen aber der Händler trat mit einem schnellen Schritt an das Gitter heran.

„Junge, wirf nicht dein Leben weg. Wenn Du in zehn Jahren wieder frei bist, dann werde ich Dir helfen Fuß zu fassen und ein Leben zu führen, dass es wert ist gelebt zu werden.“

„Nein danke, Onkel. Ich habe mich entschieden und möchte dich bitten meinen Wunsch zu respektieren!“

Mit stolz erhobenem Kopf drehte er sich um, ging die zwei Schritte bis zur Pritsche und legte sich mit hinter dem Nacken verschränkten Armen auf die rauen Decken.

In Gedanken zählte er bis zehn. Gleich, gleich würde sein Onkel erkennen, welchen Fehler er gemacht hatte.

Zehn Jahre Zwangsarbeit, undenkbar.

Dann würde Torstaf Bringhom sich bei Nat entschuldigen und sich für dessen unverzügliche Freilassung einsetzen.

Er hörte das schwere Atmen des Händlers, dann ein bitteres Seufzen.

„Ich respektiere deinen Wunsch und deinen Stolz. Ich werde zum Grab deiner Mutter gehen und ihr sagen, wie tapfer ihr Sohn ist.“

Er drehte sich um und ging mit schweren Schritten zur Treppe.

„Ich werde den Richter informieren. Und ich verspreche dir, dass du in geheiligter Erde deine letzte Ruhestätte finden wirst. Man wird dich nicht in einem namenlosen Grab verscharren.“

Ein Schluchzen drang aus seiner Kehle. „Wenn Du nur immer so viel Mut gezeigt hättest.“

Er murmelte weiter vor sich hin und stieg die Stufen der Treppe hinauf. Dann verließ er den Kerker und schloss die Tür sorgfältig und langsam hinter sich.

So entging ihm, dass Nat aufgesprungen war und jetzt mit schreckgeweiteten Augen am Gitter stand.

„Aaarghh“, nur ein heiseres Krächzen entrang sich seiner Kehle. Er war so entsetzt, dass er nicht einmal rufen konnte.

So hatte er sich das doch alles gar nicht gedacht. Sein Onkel sollte nicht gehen und er … sollte… nicht … dem … Richter … sagen, … dass …!

Er hatte sich gedacht, dass sein Onkel, beeindruckt vom Mut seines Neffen, alles dafür tun würde ihm die Freiheit zu erkämpfen.

Aber so. Nein, das konnte doch alles nicht wahr sein.

Torstaf Bringhom rettete seinem nichtsnutzigen Neffen das Leben und der war zu dumm, zu gierig um damit zufrieden zu sein. Stattdessen hatte er sein Leben weggeworfen.

Nat brach in die Knie und rammte seine Stirn gegen die Gittertür. Immer und immer wieder. Die Haut auf der Stirn platzte auf und Blut rann ihm über das Gesicht.

Dann umklammerten seine Hände die Gitterstäbe und er brach in bitteres Weinen aus.

Minutenlang hockte er so und starrte mit blicklosen Augen auf den Boden.

Plötzlich schoben sich ein paar Schuhe in sein Blickfeld. Große schwarze Schuhe aus hartem Leder, deren Spitzen leicht nach oben gebogen waren. Die Schuhe wurden fast verdeckt von einem weiten Mantel oder Umhang, der fast bis zum Boden reichte.

Nat zuckte zusammen und ließ sich nach hinten auf den Boden fallen.

„Bi … Bi … Bist du der Henker. Das …, nein … ich…! Es ist doch noch viel zu früh, ich habe doch noch …!“

Nat wagte kaum aufzublicken, hatte Angst vor dem Anblick der kalten harten Augen hinter der schwarzen Maske des Henkers. Aber …, seit wann trugen Henker weite wallende Umhänge. Eigentlich trugen die Henker, denen Nat bisher bei der Arbeit zugesehen hatte immer nur enge schwarze Hosen und hohe Stiefel.

Vorsichtig richtete Nat den Blick nach oben an dem Umhang entlang.

Der Umhang schien aus einem sehr feinen und teuren Material gefertigt zu sein. In den mitternachtsblauen Stoff waren offensichtlich Goldfäden eingewoben. Die ließen den Stoff glitzern wie einen Sternenhimmel in einer klaren, mondhellen Nacht.

Nat sah in das faltige ernste Gesicht eines mittelgroßen Mannes. Ein kurzer dunkler Vollbart verdeckte Kinn und Wangenpartie. Über der markanten Nase blickten zwei dunkle, fast schwarze Augen auf Nat herab.

„Wie ist dein Name, Junge?“ Die tiefe sonore Stimme erklang und schien den ganzen Raum mit ihren Schwingungen zu erfüllen.

„N … N … N … Nat.“ „Und weiter?“ „Ermstyrk.“

“Hmmmm.” Der Mann trat dichter an das Gitter und blickte sich in der Zelle um.

„Du steckst in Schwierigkeiten, Nat Ermstyrk! In …“, der Mann zog eine schwere goldene Uhr aus einer Tasche seines Umhanges. Er drückte auf einen kleinen Knopf und der Uhrdeckel sprang mit einem melodischen „Pling“ auf.

Er blickte auf das Ziffernblatt, „… drei Stunden wirst du hängen.“

Nat richtete sich auf und sah den Mann böse an. „Und warum seid ihr dann hier? Um euch an dem Leid eines zu Tode Verurteilten zu ergötzen?“ Die Empörung verlieh ihm wieder Stimme.

Der Mann lächelte. „Nein, das ist nicht meine Art. Noch dazu halte ich die Strafe für ungerechtfertigt und überzogen. Aber es ist nicht meine Aufgabe das zu entscheiden.“

Der Mann trat jetzt ganz an das Gitter heran.

„Nein, ich bin hier, um dir einige Fragen zu stellen, und ich brauche ehrliche Antworten von dir. Daher erlaube mir deine Antworten zu prüfen.“

Er machte eine kurze Handbewegung und murmelte leise Worte.

Nat wurde von einer unsichtbaren Kraft nach vorne gezogen, seine Hände umfassten ohne sein eigenes Zutun die Gitterstäbe, die ihn von dem unheimlichen Mann trennten.

Der Mann fasste durch das Gitter und legte seine schlanken langen Finger um Nats Handgelenke.

Seine tastenden Fingerspitzen erfühlten Nats rasenden Puls.

„Ist Torstaf Bringhom dein leiblicher Vater?“

Nats Kopf schien wie leergefegt, die Worte des Mannes klangen wie ein Echo in seinem Kopf. Automatisch formte sich die Antwort und drang über seine Lippen.

„Nein, mein Onkel.“

Der Mann nickt zufrieden. „Kennst Du deinen leiblichen Vater?“

„Nein, meine Mutter hat gesagt, er ist im Kampf um die Ferne Insel gestorben, als ich noch ganz klein war.“

„Hast du Erinnerungen an ihn oder irgendwelche Gegenstände, die ihm gehörten?“

„Nein, meine Mutter hat alles vernichtet und nie über ihn geredet, weil sie die Erinnerungen nicht ertragen konnte.“

Wieder nickte der Mann, offensichtlich zufrieden gestellt. Er überlegte kurz, dann sah er Nat wieder tief in die Augen.

„Tust du häufig Dinge, die dir an sich seltsam vorkommen? Kannst du Dinge, die andere nicht können?“

Nat wollte bereits verneinen. Doch dann zogen Bilder aus seiner Vergangenheit, aus seiner Jugend an seinem inneren Auge vorüber.

„Ein Freund hat einmal versehentlich mit einem Pfeil auf mich geschossen, aber ich habe den Pfeil fangen können. Und einmal bin ich in die Grube eines Jägers gefallen aber keiner der Speere in der Grube hat mich verletzt.“

Plötzlich hatte er viele kleine Bilder und Erlebnisse in seinem Kopf. Fische, die er mit der Hand fing, ein herab stürzender Ast, dem er mit einem blitzartigen Sprung auswich.

Ein Freund, von einem großen Stein eingeklemmt. Er hatte den Felsen weggerollt und seinen Freund bis ins Dorf zurück getragen.

All das schien so weit weg, als wäre es niemals ihm passiert.

Das Gesicht des Mannes wurde weich, er ließ Nats Hände los und trat einen Schritt zurück. Seine Arme vollzogen eine kreisende Bewegung wie Windmühlenflügel und er murmelte wieder einige leise Worte.

 

Ein Schwindel erfasste Nat, sein Blick wurde glasig. Dann sank er lautlos zu Boden.