Buch lesen: «Seewölfe Paket 22», Seite 5

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Im nächsten Moment ging bereits ein Steinhagel auf die Jolle nieder. Flüche und Aufschreie der Getroffenen waren die Folge.

Die Kerle am Strand stimmten ein Triumphgeheul an. Ein paar von ihnen liefen auf den für sie erreichbaren Ausgang der Bucht zu, um die Jolle von dort aus mit weiteren Steinwürfen einzudecken. Daß sie Monk und Stewart nicht mehr aufhalten konnten, dämmerte ihnen bereits. Doch die mit aller Kraft geschleuderten Steine milderten, wenigstens ihre Wut.

8.

Es war ein beschämendes Bild, das den Zuschauern von der „Orion“ und der „Dragon“ geboten wurde.

Dieses Bild wurde um keinen Deut schöner, als jetzt Sir James Sandwich auf den Ersten Offizier der „Orion“ zustelzte.

Die Männer aus den Crews der beiden Kriegsgaleonen hatten sich inzwischen gemeinsam am Strand versammelt. Angesichts des blasierten Jünglings mit den verlebten Gesichtszügen wechselten sie belustigte Blicke. Viele von ihnen mußten sich die Hand vor den Mund halten, um nicht in Lachen auszubrechen.

Die übrigen Hochwohlgeborenen verharrten in einiger Entfernung und spähten erwartungsvoll herüber. Unterdessen befanden sich die zurückgebliebenen Kerle aus der Killigrew-Meute noch auf der Landzunge. Sie hatten das Steinewerfen aufgegeben. Die Jolle hatte inzwischen zuviel Distanz gewonnen.

Für die Männer von der „Dragon“ und auch für ihre Gefährten von der „Orion“ bestätigte sich unterdessen der Eindruck, den sie in den vergangenen Stunden von Charles Stewart gewonnen hatten. Schon früher war er durch seine rauhbeinige und oft rücksichtslose Art aufgefallen. Doch dabei hatte er sich meistens noch fair verhalten.

Die Aussicht auf Gold und Reichtum schien jetzt allerdings sein wahres Ich ans Tageslicht gebracht zu haben. Nichts hielt ihn mehr zurück, auf sein Ziel loszusteuern. Das entwürdigende Schauspiel, das er soeben mit der Jolle geboten hatte, war das letzte deutliche Beispiel dafür.

Die Männer aus den beiden Crews konnten nur noch Abscheu und Ekel für Stewart empfinden. Wer sich in einer Gemeinschaft von Schiffbrüchigen befand und dann nur an den eigenen Vorteil dachte, der war nichts anderes als ein gewissenloser Schurke.

Während die Jolle bereits das offene Wasser erreicht hatte, baute sich Sir James Sandwich vor dem Ersten Offizier der „Orion“ auf. Sandwich verschränkte die dürren Arme vor der mageren Brust und reckte überheblich das spitze Kinn vor. Seine verdreckte Kleidung ließ nur noch ahnen, wie elegant er einmal ausgesehen hatte, als er noch frisch gepudert in den ersten Reisetagen an Bord des Flaggschiffs herumgelungert hatte.

Ihm selbst wurde indessen keineswegs bewußt, daß sein Anblick zur Heiterkeit reizte.

„Sie sind der Erste – äh – Offizier der ‚Orion‘, nicht wahr?“ sagte er schnarrend und musterte Corbett dabei geringschätzig von Kopf bis Fuß.

Corbett lächelte kaum merklich. Dieses Bürschchen kannte ihn natürlich genau. Nur versuchte Sandwich, sich an die Gepflogenheit der Hochwohlgeborenen zu halten, sich Namen von Menschen niederen Standes nicht zu merken.

„Warum sollte ich Ihnen verraten, wer ich bin?“ entgegnete Corbett und verstärkte sein Lächeln.

Sir James blinzelte irritiert. Sein Mund klappte auf und wieder zu.

„Lassen Sie den Unsinn, Mister!“ schnarrte er. „Was fällt Ihnen ein, sich mir gegenüber so aufzuführen!“

Das Lächeln des Ersten Offiziers schwand. Ruckartig trat er einen Schritt vor, es hatte den Anschein, als wolle er den Dürren am Kragen packen und durchschütteln. Doch er beließ es bei der drohenden Geste.

Sir James war erschrocken zurückgewichen, stolperte und konnte sein Gleichgewicht gerade noch halten.

Die Männer von den beiden Kriegsgaleonen lachten glucksend. Es war einfach unfaßbar, woher diese gepuderten Affen ihre Unverschämtheit nahmen – in einer Situation wie dieser, in der nichts von dem zählte, was sie daheim in England an Macht und Beziehungen spielen ließen.

„Weshalb tun Sie so, als ob Sie mich nicht kennen?“ sagte Corbett schneidend. „Heraus damit, Sandwich. Wenn Sie schon mit mir reden wollen, dann will ich zuerst diese Frage beantwortet haben.“

„Papperlapapp“, fauchte der Hochwohlgeborene. „Ich habe nicht Ihre, sondern Sie haben meine Fragen zu beantworten. Ist das klar? Im übrigen verlange ich, Sir Edward zu sprechen. Er ist der einzige Mann von Stand in dieser ganzen Bande von …“

Corbetts Fäuste zuckten vor und gruben sich eisenhart in den Seidenstoff des Hochwohlgeborenen-Wamses. Ohne sonderliche Anstrengung schüttelte er das Kerlchen durch, daß dessen Kopf vor und zurück wackelte.

„Ich habe eine Frage gestellt“, sagte Corbett wütend. „Wenn Sie nicht gleich antworten, lasse ich Sie in Eisen legen. Haben Sie mich verstanden!“ Das war natürlich höllisch übertrieben. Aber der Zweck heiligte die Mittel. Diesen arroganten Burschen mußte endlich der Kopf zurechtgerückt werden. Wenn ihnen auch der Grips fehlte, so mußten sie doch begreifen lernen, daß sie die Rechte anderer Menschen nicht ständig mit Füßen treten durften – nicht in einer Situation wie dieser, in der sie ohnehin alle an einem Strang zogen.

Corbett wiederholte seine Frage: „Weshalb taten Sie so, als ob Sie mich nicht kennen?“

Sandwich ächzte gequält.

„Ich habe Sie nicht sofort erkannt, Mister Corbett. Wirklich nicht. Nach diesen furchtbaren Geschehnissen sind wir alle ein bißchen durcheinander, nicht wahr?“

„Sie vielleicht.“ Corbett stieß ihn angewidert von sich. „Sagen Sie, was Sie von uns wollen, und dann ersparen Sie uns Ihren Anblick.“

Hinter ihm nickten die Männer voller Grimm. Was sich dieser magere Schnösel von einem Gentleman leistete, ging auch ihnen mächtig gegen den Strich. Lachen konnte man darüber nur begrenzte Zeit. Dann kochte einem unweigerlich die Galle über.

Sir James Sandwich zupfte sein Wams zurecht und straffte seine Haltung. Er wandte sich kurz um und erblickte die anderen, die ihn fordernd und aufmunternd ansahen. Er räusperte sich, und es klang wie das Rascheln von trockenem Herbstlaub.

„Zunächst einmal, Mister Corbett“, sagte er näselnd, „sind für mich und die übrigen sechs Gentlemen umgehend Hütten zu errichten. Selbstverständlich brauchen wir Einzelquartiere.“

Marc Corbett schüttelte fassungslos den Kopf.

„Haben Sie sonst noch einen Wunsch?“ erkundigte er sich mit gespielter Höflichkeit.

„Eine fast überflüssige Frage“, sagte Sandwich von oben herab. „Die Mittagszeit ist längst vorüber. Für mich und die anderen Gentlemen ist es höchste Zeit, zu speisen. Lassen Sie also schleunigst die Tafel richten und dann servieren.“

Marc Corbett beschwichtigte die Männer hinter sich mit einer Handbewegung. Er selbst wußte, daß er sich nicht mehr lange zur Ruhe zwingen konnte.

„Mehr Wünsche haben Sie nicht?“ fragte er, immer noch scheinbar höflich.

„Im Augenblick nicht“, erwiderte Sir James Sandwich. „Auch wir müssen uns der Ausnahmesituation anpassen und uns in Bescheidenheit üben. Sie und die Männer sollten sich ein Beispiel daran nehmen, Mister Corbett. Später dürfen Ihre Leute unsere Schuhe putzen …“

Das war mehr als genug.

Ein zorniges Raunen ging durch die Reihen der Seeleute.

Marc Corbett konnte nicht mehr verhindern, daß ihm der Kragen platzte.

„Warum verlangen Sie nicht auch noch, daß wir Sie füttern sollen?“ brüllte er. Die Zornesadern an seinen Schläfen schwollen an. „Oder jeden einzelnen Bissen vorkauen, was?“

Sandwich war noch einen Grad blasser geworden. Entsetzt wich er zurück und streckte abwehrend die Arme aus.

„Ich warne Sie, Corbett!“ schrie er mit zitternder Stimme. „Nehmen Sie sich nicht zuviel heraus!“

Aber der Erste Offizier war nicht mehr aufzuhalten. Mit einer raschen Bewegung hieb er dem mageren Bürschchen die Arme weg und packte ihn erneut am Kragen. Wieder schüttelte er ihn durch, wobei der beängstigende Eindruck entstand, Sandwichs Kopf auf dem dürren Hals könne abbrechen.

„Jetzt hören Sie mal gut zu“, sagte Corbett grob. „Ich werde den Teufel tun und für Sie und Ihresgleichen Hütten bauen lassen. Und keiner der Männer wird eine Tafel für Sie richten oder Sie sonstwie bedienen. Haben Sie das begriffen?“

Sir James schluckte krampfhaft. Sein Adamsapfel bewegte sich dabei ruckend auf und ab.

„Ja“, sagte er weinerlich, „um Himmels willen, ja.“

Corbett stieß ihn von sich.

„Dann ist es gut. Denken Sie ein bißchen nach. Spucken Sie selbst in die Händchen, und sorgen Sie für sich selbst.“

Sandwichs Augen weiteten sich. Der Gedanke, die bloße Vorstellung dessen, was Corbett angedeutet hatte, erschien ihm grauenvoller als alles andere, was bisher geschehen war.

„Das – das kann doch nicht Ihr Ernst sein“, stammelte er.

Diesmal konnten sich die Männer nicht mehr zurückhalten. Schallendes Gelächter ertönte. Spätestens jetzt mußten auch die in einiger Entfernung wartenden Gentlemen begriffen haben, wie wenig der sehr ehrenwerte Sir James Sandwich mit seinem Befehlsgang ausgerichtet hatte.

Corbett musterte den Müßiggänger verächtlich und von oben bis unten.

„Begreifen Sie endlich“, sagte er barsch, „daß Sie hier keine Rechte oder Privilegien mehr genießen. Es sei denn, Sie ordnen sich in die Gemeinschaft ein und packen mit an, wie wir alle es tun.“ Er wandte sich halb um und deutete zum Strand, wo Sir Edward Tottenham gemeinsam mit dem Schiffszimmermann dabei war, einen angetriebenen Schiffsbalken zu zersägen. „Nehmen Sie sich ein Beispiel daran. Sir Edward, auch ein Mann von Stand, läßt sich nicht bedienen!“ Ohne den Dürren noch zu beachten, wandte sich Corbett kurzerhand um.

Sir James Sandwich blickte den Männern nach, die sich einfach von ihm entfernten, als sei er Luft. Er verstand die Welt nicht mehr. Insgeheim verfluchte er seine Teilnahme an dieser Karibik-Reise als den schlimmsten Fehler, den er jemals in seinem Leben begangen hatte. Doch das durfte natürlich niemand wissen. Ein Mann von Adel gestand anderen gegenüber keine Fehler ein.

Während er zu den anderen zurückschlurfte, überlegte Sir James bereits, wie er seinen Freunden am besten erklärte, daß das Pack zur Zeit mit dringlicheren Arbeiten beschäftigt sei und daher für das Richten der Tafel noch keine Gelegenheit bestehe.

Marc Corbett einigte sich unterdessen rasch mit Arthur Gretton, dem Ersten Offizier der „Dragon“.

Ein Teil der Crew half beim Bau der Hütten mit, ein anderer Teil der Männer von der „Dragon“ wurde den Tauchergruppen zugeordnet. Es sollte versucht werden, die beiden gesunkenen Kriegsgaleonen so weit wie möglich auszuschlachten. Die beiden letzten Jollen der „Dragon“ wurden in den Bereich des nunmehr gemeinsamen Lagers verholt.

Niemand kümmerte sich jetzt mehr um die erlauchten Adligen und ebensowenig um die zwölf zurückgebliebenen Kerle von der „Lady Anne“. Bei ihnen handelte es sich um eine so unbedeutende Minderheit, daß von ihnen kaum eine Gefahr drohte, zumal das Lager mittlerweile nach allen Seiten gut bewacht wurde.

Sir James Sandwich und seine Gentlemen setzten sich beleidigt in den Schatten oberhalb des Strandes und zeigten weiterhin keine Bereitschaft, auch nur einen Finger zu rühren.

Die zwölf Kerle von der „Lady Anne“ trödelten am Strand entlang, immer weiter vom Lager weg, bis sie sich schließlich vollends verdrückt hatten.

Die Jolle mit Stewart, Monk und den übrigen Halunken war unterdessen nach Südosten gesegelt und ebenfalls außer Sichtweite.

9.

Für die Arwenacks war dieser Tag so düster, als hingen dichte schwarze Wolken unmittelbar über ihren Köpfen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß die Sonne nach wie vor strahlend am blauen Himmel stand und eine handige Brise die See zu freundlichem Wellengang streichelte.

Die „Isabella“ lag an diesem Nachmittag des 23. August in der Südbucht der östlichsten Insel der Pensacola Cays. An Bord des schlanken Schiffes herrschte im wahrsten Sinne des Wortes Grabesruhe.

Der Kutscher hatte an Bord das Regiment übernommen, und keiner wagte, seinen Anordnungen auch nur andeutungsweise zu widersprechen. Klipp und klar und unmißverständlich hatte er erklärt, daß auf dem Schiff absolute Ruhe zu herrschen habe. Andernfalls könne er für nichts mehr garantieren.

Am gestrigen Tag, auf der Fahrt zu den Pensacola Cays, hatte der Kutscher das Unmögliche gewagt. Mit Hilfe Mac Pellews und der Zwillinge hatte er die Pistolenkugel herausgeholt, die in Hasards Rücken eingedrungen und dicht vor dem Herzen steckengeblieben war.

Alle an Bord der „Isabella“ hatten den Atem angehalten und das Schlimmste befürchtet.

Aber der Seewolf war dem Kutscher nicht unter der Hand weggestorben.

Dennoch hatte sich bislang keine rechte Besserung einstellen wollen. Jeder wußte, daß Hasard noch lange nicht über den Berg war.

Ben Brighton harrte regungslos wie ein Standbild an der Heckbalustrade des Achterdecks aus. Doch seine Ruhe war nur äußerlich. Innerlich empfand er ein Vibrieren und Rumoren, wie er es selten erlebt hatte.

Ähnlich erging es zweifellos den Männern. Die meisten hockten auf der Kuhl, redeten nur im Flüsterton, und wenn sie sich tatsächlich einmal bewegen mußten, dann taten sie es so leise, daß sie sich dabei selbst nicht hörten.

Die Anspannung, die auf der Crew des Seewolfs lastete, war geradezu körperlich spürbar.

Es war wie ein Schmerz, der sie alle gepackt hatte und zur Hilflosigkeit verdammte.

Sie konnten nichts tun für Philip Hasard Killigrew, buchstäblich nichts. Das bißchen Hilfe, das möglich war, mußte sich zwangsläufig auf einen kleinen Personenkreis beschränken. Denn es konnten nicht ständig alle Mann in die Krankenkammer poltern, wo Hasard noch immer ohne Bewußtsein lag.

Ben Brighton wußte, wie düster es in den Köpfen der Männer aussah. Er selbst konnte sich von dieser Stimmung nicht befreien.

Ben und all die anderen hatten viele Menschen sterben sehen. Unendliche Tragik hatten sie erlebt und immer wieder lernen müssen, wie schwach und hilflos jeder einzelne von ihnen doch im Grunde war.

Ihre Stärke aber hatten sie in der Gemeinschaft mit dem Seewolf bewiesen. Und nun sollte es mit dieser Gemeinschaft plötzlich vorbei sein? Denn ohne Hasard, das spürten sie alle, würde ihr Haufen nie wieder der alte sein.

Auch Ben Brighton hatte in den letzten Stunden erkennen müssen, daß es sich anders verhielt als in früheren Gefahrensituationen. Seinerzeit, als der spanische Kampfverband unter Don Antonio de Quintanilla gegen die Schlangen-Insel vorgerückt war, war Hasard in den Wirren des Gefechtsgeschehens über Bord gegangen. Doch es hatte in der Zeit seines Verschollenseins immer noch Hoffnung gegeben. Man hatte ja nicht einmal gewußt, ob er verwundet worden war.

Jetzt aber waren die Arwenacks mit einer völlig neuen Gefahr konfrontiert – mit der Tatsache, daß Hasards Leben wahrhaftig an einem seidenen Faden hing.

Die Männer waren gewohnt, gegen faßbare und sichtbare Gegner zu kämpfen. In solchen Situationen wußten sie, woran sie waren. Da konnten sie zuschlagen und sehen, welches Ergebnis ihr Mut und ihre Entschlossenheit bewirkten. Im Augenblick jedoch gab es niemanden, den sie mit einem Säbelhieb, einer Pistolenkugel oder auch nur mit der bloßen Faust davon abhalten konnten, sich auf den wehrlosen Seewolf zu stürzen und ihm das Lebenslicht auszublasen.

Nein, die Macht, die ihn bedrohte, war stärker als sie alle zusammen. Und sie würde sich bei der Entscheidung, ob Philip Hasard Killigrew am Leben blieb oder nicht, kaum dreinreden lassen.

Ben Brighton konnte nicht umhin, an die vielen Jahre zu denken, die er gemeinsam mit Hasard auf den Achterdecks ihrer Schiffe verbracht hatte. Die neunte „Isabella“ war es bereits, auf der sie jetzt fuhren, und es war die stolzeste von allen Galeonen, die die Arwenacks ihr eigen genannt hatten. Sollte die neunte „Isabella“ für den Seewolf etwa zum Schicksalsschiff werden?

Unzählige Male hatten sie in den vergangenen Jahren dem Tod ins Auge geblickt. Mörderische Gefahren waren sie mit heiler Haut entronnen, oder sie hatten schlimme Blessuren davongetragen. Aber immer waren ihre Entschlossenheit und ihre Kampfkraft stärker gewesen als alles, was sich ihnen in den Weg gestellt hatte.

Auch die fürchterlichsten Unwetter hatten sie auf den sieben Weltmeeren erlebt, und manches Mal hatten sie dabei geglaubt, den entfesselten Naturgewalten nicht mehr entrinnen zu können.

Das alles sollte nun umsonst durchgestanden worden sein?

Es mußte wohl etwas Wahres daran sein, wenn man sagte, daß auch der stärkste Mann eine Kugel nicht verkraften konnte, die ihn in den Rücken getroffen hatte.

Sir Andrew Clifford hatte für seine Hinterlist beim Duell mit Hasard mit dem Leben bezahlt. Batuti hatte in ohnmächtigem Zorn gehandelt, und er hatte dabei genauso gedacht wie alle anderen an Bord der „Isabella“, als er den Pfeil abfeuerte, der den niederträchtigen Kerl auf der Stelle tötete.

Doch die Rache hatte niemandem an Bord ein Gefühl der Erleichterung gebracht.

Zu ungeheuerlich war das Geschehen gewesen, und zu ungewiß war jetzt die Zukunft. Hasard war es gewesen, der maßgeblich daran mitgewirkt hatte, die neue Heimat in der Karibik aufzubauen. All das, was heute die Schlangen-Insel bedeutete, war zum großen Teil sein Werk. Sie hatten England den Rücken gekehrt, um hier, in der Neuen Welt, ein Leben in Freiheit zu führen. Sollte Hasard etwa der einzige sein, der diesen Vorzug nicht mehr genießen konnte?

Ben Brighton hielt es auf dem Achterdeck nicht länger aus. Er wußte auch, daß die Männer die Ungewißheit kaum noch ertragen konnten. Er war der einzige, dem der Kutscher erlaubt hatte, die Krankenkammer zu betreten. Es war also gerechtfertigt, wenn er nach Stunden wieder einmal nach dem Rechten sah und die Männer anschließend über die Lage informierte.

Auf Zehenspitzen bewegte er sich über die Decksplanken. Im Vorbeigehen nickte er den Arwenacks zu, die ihn mit fragenden und besorgten Blicken ansahen. Er bemerkte, daß die meisten nicht einmal mehr zu flüstern wagten. Sie unterhielten sich nur noch in der Zeichensprache, wenn eine Verständigung überhaupt nötig war.

Einen Moment blieb Ben Brighton vor dem Schott der Krankenkammer stehen und horchte. Dann pochte er behutsam mit der Kuppe des Mittelfingers an das Holz.

Es dauerte Sekunden, die wie Ewigkeiten währten, bis das Schott einen Spaltbreit geöffnet wurde. Die Augen des Kutschers spähten durch den Spalt.

„Darf ich nach ihm sehen?“ fragte der Erste Offizier der „Isabella“ kaum hörbar.

Der Kutscher antwortete nicht sofort. Die Entscheidung schien ihm schwerzufallen.

„Tritt ein, Ben“, flüsterte er schließlich. „Aber bitte …“ Er legte mahnend den Zeigefinger auf die Lippen.

Ben Brighton schlüpfte geräuschlos in die Kammer und verharrte gleich neben dem Schott, nachdem der Kutscher es behutsam hinter ihm geschlossen hatte. Ben kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Es dauerte einen Moment, bis er sich nach dem grellen Sonnenlicht an das Halbdunkel gewöhnt hatte.

Der Anblick verursachte ein Würgen in seiner Kehle.

Mit Gurten hatten sie den Seewolf auf seinem Lager festgezurrt.

Der Kutscher bemerkte den entsetzten Gesichtsausdruck des Ersten.

„Das mußte leider sein“, flüsterte er. „Zu seinem eigenen Schutz, verstehst du? Als heute vormittag das Fieber einsetzte, fing er an, sich hin und her zu wälzen und mit den Gliedern zu zucken. Wir mußten das natürlich verhindern.“

Ben Brighton nickte und schluckte trocken. Hasard war auch jetzt noch unruhig, man sah es an seinem Kopf, der sich fortwährend bewegte. Sein Gesicht war fahl und schweißüberströmt. Die Zwillinge und Mac Pellew waren bei ihm und legten ihm immer wieder nasse Leinentücher über die Stirn.

Ben wandte sich zur Seite und sah den Kutscher voller Besorgnis an.

„Wann wird er wieder bei Bewußtsein sein? Kannst du das nicht wenigstens vorhersagen?“

Der stets so ernst aussehende Mann schüttelte müde den Kopf.

„Ich kann überhaupt nichts sagen, Ben. Mac und ich haben ihm einen Sud eingetrichtert, der zum einen das Fieber dämpft und zum anderen die Abwehrkräfte des Körpers mobilisiert oder zumindest stärkt.“

„Abwehrkräfte gegen was?“

Der Kutscher senkte den Kopf und preßte die Lippen aufeinander.

„Gegen eine Blutvergiftung“, sagte er tonlos und so leise, daß Ben Mühe hatte, es zu verstehen. „Ja, Ben, das ist es, womit wir rechnen müssen. Ich kann niemandem auch nur die leiseste Hoffnung machen. Nicht einmal seinen Söhnen.“

Ben Brighton blickte auf die beiden Jungen, die in dieser Stunde wie Erwachsene aussahen. Nichts Kindliches war mehr an ihnen, die Sorge um den Vater, so schien es, hatte sie älter werden lassen.

Wortlos legte der Erste dem Kutscher die Hand auf die Schulter. Es war ein Zeichen stummer Anerkennung und eines Dankes, der nicht ausgesprochen werden mußte. Alle vier, die hier in der Krankenkammer ausharrten, taten das menschenmögliche. Im übrigen konnten sie wie alle an Bord auch nur warten und hoffen und beten.

Ben Brighton wandte sich ab, denn hier war er überflüssig. Er fühlte sich genauso hundeelend wie alle anderen Männer an Bord, denen er gleich darauf einen geflüsterten Lagebericht gab. Selbst Ed Carberry, das Urvieh mit dem Narbengesicht, konnte nur fassungslos den Kopf schütteln.

Eine Blutvergiftung bedeutete das Ende für Hasard. Das brauchte ihnen niemand ausdrücklich zu sagen.

Ferris Tucker holte tief Luft, um einen Fluch auszustoßen. Im letzten Moment besann er sich und knirschte lediglich mit den Zähnen. Selbst dieses Geräusch trug ihm empörte Blicke von den anderen ein.

Im nächsten Atemzug gefror ihnen das Blut in den Adern.

Heiseres Gebrüll ertönte plötzlich aus dem Vorschiff.

Keiner der Arwenacks brauchte herumzurätseln, wer das war.

John Killigrew, das alte Miststück, randalierte in der Vorpiek – nicht einmal weit von der Krankenkammer entfernt.

Edwin Carberry war als erster auf den Beinen. Ben Brighton und die anderen folgten ihm dichtauf. Unter normalen Umständen hätten sie vermutlich über sich selbst gelacht, wie sie mit seltsam verkrampften Bewegungen über die Planken schlichen. Aber zur Zeit war ihnen nach allem anderen zumute, nur nicht nach Lachen.

Und immer noch grölte der alte Halunke, was das Zeug hielt.

Wutentbrannt riß Ed Carberry das Schott zur Vorpiek auf. Ferris Tucker und Luke Morgan hielten es fest und ließen es zur Seite gleiten, damit kein Poltern verursacht wurde.

Das Gebrüll dröhnte ihnen jetzt mit voller Lautstärke entgegen.

„Hunger! Durst! Verdammt noch mal, ihr Schweine, gebt mir endlich was zu …“

Ein dumpfer Schlag ließ den Alten verstummen.

Ed Carberry langte mit seiner Pranke noch zweimal hin und verharrte dann schnaufend vor dem Bewußtlosen.

„Dreckskerl“, knurrte er und beugte sich über die Pütz, die noch zur Hälfte mit Wasser gefüllt war. „Wenn du denkst, daß du dich hier mit Bier oder Schnaps vollaufen lassen kannst, hast du dich aber mächtig getäuscht.“ Auch der Brotkanten, den man dem Gefangenen gegeben hatte, lag noch unberührt.

Ferris Tucker brachte bereits einen Lappen.

„Stopf ihm das Maul“, sagte der hünenhafte Schiffszimmermann grob. „Verdammt noch mal, wenn dieser Strolch dafür verantwortlich ist, daß Hasard …“ Er sprach nicht weiter, doch alle dachten das gleiche.

Unter keinen Umständen durfte geschehen, daß ausgerechnet der alte Killigrew mit seinem Gebrüll den Zustand des Seewolfs verschlimmerte.

Ed Carberry knebelte den Alten sorgfältig. Anschließend fesselten sie ihn so gründlich, daß er sich nicht mehr rühren konnte.

Ein unnötiges Risiko war ausgeschaltet.

Mit hängenden Schultern kehrten die Männer auf das Hauptdeck zurück. Grund zum Aufatmen gab es noch immer nicht.

Am späten Nachmittag dieses schicksalsschweren 23. August 1594 lief die „Caribian Queen“ in die Südbucht der Insel ein.

Sobald sie freies Blickfeld über die Wasserfläche der Bucht hatte, hob Siri-Tong das Spektiv. Auf den Decks der „Isabella“ war keine Bewegung zu erkennen. Ben Brighton lehnte an der Heckbalustrade des Achterdecks. Auf der Back war niemand zu sehen, auf der Kuhl nur die Köpfe der Männer, die dort auf Taurollen hockten. Ansonsten verwehrte die Verschanzung den Blick.

Die Rote Korsarin spürte, wie sich eine trockene Masse in ihrer Kehle bildete – etwas, das sie trotz aller Anstrengung nicht herunterschlucken konnte. Um die Lage an Bord der „Isabella“ zu erkennen, brauchte sie nicht zweimal hinzusehen. Es stand kritisch um den Seewolf, keine Frage.

Noch im Eingang der Bucht gab die Rote Korsarin ihre Befehle. Da ihr und der Crew nicht das gewohnte Begrüßungsgebrüll entgegentönte, war eindeutig, daß völlige Ruhe zu herrschen hatte. Sie beauftragte Barba, dafür zu sorgen, daß jeder einzelne Mann an Bord des Zweideckers nachdrücklich instruiert wurde. Keiner durfte auch nur einen Muckser von sich geben. Wenn jetzt noch Befehle erteilt werden mußten, dann hatte das per Zeichensprache zu geschehen. Für eine so gut eingespielte Crew wie die der Roten Korsarin waren Befehle ohnehin überwiegend schmückendes Beiwerk.

So glitt die „Caribian Queen“ nahezu lautlos wie ein Geisterschiff in die Bucht. Nur das Knarren von Tauwerk, das Schlagen des Tuchs beim Aufgeien und das Knirschen des Ankerspills ließen sich nicht vermeiden.

In einer guten Kabellänge Entfernung von der „Isabella“ ging der Zweidecker vor Anker. Ein Beiboot wurde abgefiert, und sechs Bootsgasten begannen, so behutsam und so kraftvoll wie möglich zu pullen. Siri-Tong, die auf der Achterducht saß und die Ruderpinne hielt, bemühte sich, ihre Unrast zu verbergen. Doch es war überflüssig, denn die Männer empfanden die gleiche Sorge um den Seewolf wie sie auch.

Gemeinsam mit den restlichen Männern spähte Barba, der das Kommando an Bord der „Caribian Queen“ übernommen hatte, hinüber zur „Isabella“. Ihnen allen stand Philip Hasard Killigrew genauso nahe wie den Arwenacks. Die beklemmende und unheilschwangere Stille hatte auch ihnen sofort die Sprache verschlagen.

Die Männer im Boot nahmen die Riemen ein, und Siri-Tong manövrierte die Jolle vorsichtig an die Jakobsleiter. Die freien Hände ausgestreckt, verhinderten die Bootsgasten, daß die Jolle gegen den Rumpf der Galeone stieß. Der dumpfe Laut wäre sicherlich durch das ganze Schiff zu hören gewesen.

Auf leisen Sohlen enterte die Rote Korsarin über die Jakobsleiter auf. Ben Brighton empfing sie bei der Pforte im Schanzkleid.

„Sieht es schlimm aus mit ihm?“ fragte sie leise und biß sich voller Anspannung auf die Unterlippe.

Ben Brighton nickte.

„Der Kutscher befürchtet eine Blutvergiftung“, antwortete er flüsternd. „Du weißt, was das bedeutet.“

Für Siri-Tong war es wie ein Stich, der sie mitten ins Herz traf. Die böse Nachricht glich einem körperlich spürbaren Schmerz. Die Rote Korsarin empfand es um so deutlicher, da sie die Entscheidung des Seewolfs von Anfang an für blanken Unsinn gehalten hatte. Fast verzweifelt hatte sie versucht, ihm das Duell auszureden. Aber er hatte nicht auf sie gehört und seinen Dickschädel durchsetzen müssen.

Sie begriff es auch jetzt noch nicht: Wie hatte er sich wegen seiner verletzten Ehre mit einem Lumpenhund duellieren können, der selbst keinen Funken Ehrgefühl hatte. Auch das beabsichtigte zweite Duell mit Sir John Killigrew hätte sich in dem Punkt durch nichts von dem ersten unterschieden.

Das Verhalten dieses Earl of Cumberland hatte Siri-Tong in ihrer Meinung bestätigt. Nach wenigen Schritten hatte er sich umgedreht und dem Seewolf die Pistolenkugel in den Rücken gejagt. Aus Feigheit hatte dieser Lump die Regeln des Duells gebrochen – was die Rote Korsarin im Grunde vorhergesehen hatte. Nur war sie natürlich die einzige gewesen, die solche Befürchtungen gehegt hatte. Und Hasard hatte am allerwenigsten auf sie gehört, obwohl sie wie mit Engelszungen geredet hatte.

Dennoch war es ungerecht, daß er jetzt mit dem Leben bezahlen sollte – er, ein aufrechter Mann, der durch die Beleidigungen tief in seinem Inneren getroffen worden war. Er hatte es nicht ertragen können, daß die adligen Halunken – Sir Andrew und Sir Henry an der Spitze – seinen Namen gegenüber der Königin in den Dreck gezogen hatten. Siri-Tong hatte das sehr wohl verstehen können. Was sie jedoch bis jetzt nicht verstand, war die Tatsache, daß der Seewolf solche Kreaturen wie diese schleimigen Hochwohlgeborenen als ernstzunehmende Gegner betrachtete.

Zweifellos waren sie gefährlich – wegen der Intrigen, die sie zu spinnen verstanden. Aber mußte man sie nicht gerade deshalb hinwegfegen wie lästiges Ungeziefer?

Siri-Tong gab sich einen Ruck.

„Ich möchte ihn sehen“, sagte sie leise. „Meinst du, daß der Kutscher etwas dagegen hat?“

Ben Brighton schüttelte den Kopf.

„Bestimmt nicht. Du hast das Recht, den Seewolf zu besuchen.“

Die Rote Korsarin nickte den Männern zu, die zu ihr aufblicken. Geräuschlos bewegte sie sich auf die Back zu und pochte dann behutsam an die Planken des Schotts zur Krankenkammer.

Die Miene des Kutschers spiegelte Unwillen, als er öffnete. Doch sein Gesicht glättete sich in dem Moment, in dem er Siri-Tong erkannte – was ihm erst nach einigem Blinzeln gelang, da ihn die gleißende Helligkeit des Tageslichts blendete. Mit einem Wink forderte er die schwarzhaarige Frau auf, einzutreten.

Um ein Haar hätte Siri-Tong einen Entsetzenslaut ausgestoßen. Sie schlug die flache Hand vor den Mund. Es geschah selten, daß sie derart erschrak, und es gehörte schon eine Menge dazu, sie aus der Fassung zu bringen.

Aber der Anblick des Seewolfs war wie ein Schock. So durchsichtig und fahl hatte sie ihn nie zuvor erlebt, obwohl er bereits einige Verwundungen davongetragen hatte. Schweiß rann in Strömen über sein Gesicht, die Zwillinge und Mac Pellew hielten nicht inne, dem immer noch Bewußtlosen mit Tüchern Linderung zu verschaffen.

Für einen Augenblick wandten sich Hasards Söhne zu der Roten Korsarin um. Es rührte an ihr Herz, denn sie war eine Frau. Unendlicher Schmerz lag wie ein Hilfeschrei in den Gesichtern dieser Jungen, die allzu früh ihre Mutter verloren hatten. Aber da war auch wilde und trotzige Entschlossenheit in ihren Augen, und dieser Ausdruck gab ihnen schon eher etwas von Mannhaftigkeit. Sie wollten nicht auch noch ihren Vater verlieren. Was sie tun konnten, um das zu verhindern, das würden sie tun.

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Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
1872 S. 21 Illustrationen
ISBN:
9783954397815
Verleger:
Rechteinhaber:
Bookwire
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