Buch lesen: «Seewölfe Paket 22», Seite 4

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6.

Geoff Kearney, Decksmann von der „Dragon“, ließ die Blätter der Schlingpflanze vorsichtig zurückgleiten. Die Lücke im grünen Vorhang des Dickichts, durch die er mit seinem Gefährten gespäht hatte, schloß sich wieder.

„He, hast du plötzlich die Hosen voll?“ flüsterte Thomas Haddock, der neben ihm ausharrte und das Geschehen beim Lager der „Orion“ mitbeobachtet hatte. „Die sind doch noch weit weg.“

Die Rede war von Sir Robert Monk und Charles Stewart, die mit verkniffenen Gesichtern am Rand des Dickichts entlangmarschierten. Daß sie sich bei Corbett eine Abfuhr geholt hatten, war deutlich zu verstehen gewesen.

„Ich bin nur vorsichtig“, sagte Geoff Kearney leise. „Unser Kommandant hat Augen wie ein Luchs, das weißt du. Sollte er zufällig sehen, daß sich was bewegt, dann hetzt er uns womöglich dieses Ungetüm auf den Hals.“ Kearney deutete mit dem Daumen in die Richtung, in der sie beide Joe Doherty und die Jolle mit den beiden Goldkisten wußten.

„Hm“, brummte Haddock, „hast wohl recht, Geoff. Also verdrücken wir uns lieber.“

Sie benutzten die verschiedenen Trampelpfade, die sie inzwischen ausgekundschaftet hatten, um zur Lichtung zurückzukehren. Keiner der beiden kräftig gebauten Männer war feige oder scheute sich davor, seine Meinung notfalls auch mit den Fäusten durchzusetzen. Normalerweise hätten sie sich auch vor Joe Doherty nicht gefürchtet. Aber sie hatten dieses Monstrum lange genug erlebt, um zu wissen, wie hinterhältig und grausam der Kerl war. Einen ehrlichen Kampf konnte man mit dem Ungeheuer nicht austragen.

Die gesamte Crew der „Dragon“ war bestürzt, daß sich Charles Stewart ausgerechnet diesen Doherty als Leibwächter ausgesucht hatte.

Und: Brauchte ein Kapitän Ihrer Majestät überhaupt einen Leibwächter? So etwas war unter Seeoffizieren zumindest ungewöhnlich.

Kearney und Haddock erreichten den Lagerplatz ihrer Gefährten von der „Dragon“, ohne daß die Killigrew-Strolche und die Hochwohlgeborenen etwas davon bemerkten. Denn die beiden Decksleute krochen im Schutz der am Boden Hockenden aus dem Dickicht hervor und befanden sich im nächsten Moment mitten unter ihnen. Von weitem war es unmöglich gewesen, festzustellen, wer oder was sich dort bewegt hatte.

Flüsternd berichteten Kearney und Haddock über das Geschehen, das sie soeben miterlebt hatten. Ebenfalls im Flüsterton erzählten es jene, die in ihrer Nähe saßen, weiter. Innerhalb von wenigen Minuten hatte die Neuigkeit die Runde gemacht. So geschah es, daß die „Dragon“-Crew eher über den Stand der Dinge informiert war als etwa die Killigrew-Meute oder gar die sehr ehrenwerten Gentlemen.

Wenn sie sich auch zu harten und ruppigen Seeleuten entwickelt hatten, so waren die meisten der Männer von der „Dragon“ doch ehrliche und anständige Burschen, denen gedankliche Winkelzüge und hinterlistige Tricks fremd waren. Allein schon deshalb war ihnen ein hirnloser Wüterich vom Schlage eines Joe Doherty zuwider.

Nicht ganz geheuer war ihnen das Enterunternehmen gegen die „Orion“ von Anfang an gewesen. Kein Wunder, daß Marc Corbett so sauer reagiert hatte. Eigentlich geschah es Stewart und diesem Monk nur recht, daß sie sich eine Abfuhr geholt hatten.

„Ein eigenes Schiff zu überfallen und zu entern!“ murmelte Geoff Kearney und schüttelte in der Erinnerung daran fassungslos den Kopf. „Das war doch regelrechter Wahnwitz“, ergänzte Thomas Haddock.

„Wahnwitz?“ fragte einer der Nebenmänner erbittert. „Soll ich euch mal sagen, was das wirklich war? Ein Akt von Meuterei, noch dazu vom Kommandanten befohlen.“

„Woher willst du denn das wissen?“ entgegnete einer der anderen spöttisch. „Bist doch kein Rechtsverdreher oder so was.“

„Ich weiß, von was ich rede“, ereiferte sich der Mann. „Ich bin mal vor Jahren auf einer Kriegsgaleone gefahren, deren Kommandant sich vor Gericht verantworten mußte. Und ich wurde als Zeuge vernommen, Freunde. Der Kommandant hatte eine von den eigenen Galeonen entern lassen. Wir waren nämlich in Seenot geraten, lagen in der Bucht eines Felseneilands und hatten seit Tagen nichts mehr zu beißen. Wir waren vor Hunger halb verrückt, und da hat der Kommandant befohlen …“

„Das ist doch mit unserem Fall gar nicht zu vergleichen“, sagte Kearney.

„Aber ja! Der besagte Kommandant wurde nämlich unter anderem verurteilt, weil er einen meuterischen Akt begangen hatte.“

„Welchen Namen das Kind kriegt, ist mir ziemlich egal“, brummte ein anderer Decksmann. „Es geht ja auch nicht bloß um das Entern der ‚Orion‘. Was Stewart sich hinterher geleistet hat, ist für mich noch viel schlimmer. Reißt sich die verdammten Goldkisten unter den Nagel, ohne sich um unser Schiff zu kümmern!“

„Jawohl, eine Riesenschweinerei ist das!“

„Und so was von einem Kapitän Ihrer Majestät!“

„Der hat die Ehre der Marine besudelt!“

„Uns alle in den Dreck gezogen!“

„So einer darf doch kein Kommandant mehr sein!“

Die zornigen Stimmen wollten nicht abreißen. Je mehr sie über das Verhalten Stewarts nachdachten, desto mehr brachte es sie in Rage. Daß sie trotzdem ihre Stimmen gedämpft hielten, lag nur daran, daß die Halunken des alten Killigrew in der Nähe hockten und auf keinen Fall etwas mithören durften.

Still wurden sie erst kurz darauf, als Charles Stewart und Sir Robert wieder auf der Lichtung erschienen.

Nein, Stewart hatte kein Recht mehr, sich noch länger als Kommandant aufzuspielen. Darin waren sich jetzt alle einig. Was aber plante er jetzt – gemeinsam mit diesen vornehmen Affen, die sich beim Untergang der „Dragon“ wie Halbirre gebärdet hatten? Daß Stewart und Monk etwas im Schilde führten, hatten die Männer bereits geahnt, als die beiden zum Lagerplatz der „Orion“-Leute aufgebrochen waren. Deshalb hatte Arthur Gretton, der Erste Offizier, auch nichts dagegen gehabt, als sich Kearney und Haddock freiwillig gemeldet hatten, ein wenig zu lauschen.

Aus schmalen Augen beobachteten die Männer von der „Dragon“, wie sich am jenseitigen Rand der Lichtung eine Besprechungsrunde zusammenfand. Teilnehmer waren Charles Stewart, Bootsmann O’Leary von der „Lady Anne“, die beiden ferkelgesichtigen Killigrew-Söhne und die acht blasierten Gentlemen einschließlich Sir Robert Monk.

Die Beratung dauerte nur etwa eine halbe Stunde. Das Ergebnis waren barsche Anweisungen, die O’Leary den Galgenstricken gab, die einmal die Crew der „Lady Anne“ gebildet hatten. Jetzt hasteten sie los und begannen, die drei Jollen seeklar zu machen.

Die Männer hatten sich von ihrer Überraschung noch nicht erholt, als Charles Stewart unvermittelt auf sie zustelzte und sich breitbeinig vor ihnen aufbaute. Er stemmte die Fäuste in die Hüften und hob energisch den Kopf.

„Herhören!“ verkündete er. „Ihr werdet jetzt alle eure Waffen abgeben!“

Das eisige Schweigen, das seinen Worten folgte, drückte die Ablehnung der Männer aus.

Langsam, herausfordernd langsam, erhob sich der Erste Offizier der „Dragon“. Arthur Gretton war ein hagerer, sehniger Mann mit einer Säbelnarbe auf der rechten Wange. Der Ausdruck seiner scharfen und hellen Augen wurde von einem energischen Kinn verstärkt. Er verschränkte die Arme vor der Brust.

„Darf man erfahren, was diese ungewöhnliche Maßnahme zu bedeuten hat?“ fragte er kühl.

Stewart sperrte den Mund auf und starrte seinen Ersten ungläubig an. Nicht sofort brachte er eine Antwort hervor.

Gretton war bisher ein stets loyaler Offizier gewesen. Aber der Überfall auf die „Orion“ und die wahrhaft schamlose Verhaltensweise Stewarts in der letzten Nacht hatten ihm die Augen geöffnet. Nein, Arthur Gretton war nicht länger gewillt, diesem ehrlosen Mann zu gehorchen.

Es war, als ginge ein Aufatmen durch die Reihen der Männer von der „Dragon“. Endlich wurden klare Verhältnisse geschaffen. Daß dies durch ihren Ersten Offizier geschah, war ihnen mehr als recht. Arthur Gretton genoß ihren vollen Respekt. Er war zwar ein scharfer Hund, der nie etwas durchgehen ließ. Aber er war gerecht und kein Schinder. Das allein zählte.

So schätzten sie ihn alle ein, und im stillen hatten sie auch gehofft, daß er es sein würde, der diesem Hurensohn von einem Kommandanten endlich entgegentreten würde.

So geschah es wie von selbst, daß sich die Männer nach und nach aufrichteten – erst langsam, doch dann immer energischer. Hinter Arthur Gretton versammelten sie sich als unübersehbare Rückenstärkung – eine Phalanx trotziger Männer mit harten Gesichtern.

Stewart hatte indessen Luft geholt und endlich die Sprache wiedergefunden. Sein Gesicht war krebsrot angelaufen.

„Mann, Sie haben keine Fragen zu stellen!“ brüllte er. „Sie haben Befehle zu befolgen! Ist das klar?“

„Nein“, entgegnete Arthur Gretton kalt. „Seit der letzten Nacht habe ich keinen Kommandanten mehr. Folglich kann mir auch niemand etwas befehlen – am allerwenigsten eine Unperson wie Sie, Mister Stewart.“ Das „Mister“ betonte Gretton besonders.

Stewart schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.

„Dafür werden Sie …“, setzte er an.

„Nichts werde ich“, schnitt ihm Gretton eisig das Wort ab. „Sie haben hier nichts mehr zu befehlen, Stewart. Nicht Sie, der Sie es offenbar vorziehen, sich mit Galgenvögeln zu verbünden, statt sich um die eigene Crew zu kümmern. Jedenfalls haben diese Strolche nichts bei den drei Jollen der ‚Dragon‘ zu suchen.“

„Haben Sie den Verstand verloren, Mann?“ brüllte Stewart erneut los. „Ich brauche die drei Jollen und die Waffen, um die Inseln zu erkunden. Die Mannschaft muß nämlich auf eine größere Insel gebracht werden, wo es entsprechend bessere Überlebenschancen gibt.“

Die Männer von der „Dragon“ mußten an sich halten, um nicht in brüllendes Gelächter auszubrechen.

„Bemühen Sie sich nicht, Stewart“, sagte Gretton verächtlich. „Sie haben nämlich gar nicht die Absicht, sich um die Mannschaft zu kümmern. In Wirklichkeit wollen Sie sich heimlich absetzen, weil Sie scharf darauf sind, die ‚Lady Anne‘ zu finden.“

Stewart erbleichte, gewann seine Fassung aber im nächsten Moment zurück.

„Lüge!“ brüllte er. „Alles Lüge!“

Arthur Gretton straffte seine Haltung.

„Nein!“ brüllte er zurück. Er konnte sich jetzt nicht mehr beherrschen. Es war einfach zuviel, was sich diese Witzfigur von einem Kommandanten herausnahm. „Es ist keine Lüge, Stewart. Zufällig habe ich sehr scharfe Ohren, und zufällig war ich in der Nähe, als Sie mit diesem Schlitzohr Monk gesprochen haben. Von der ‚Orion‘-Mannschaft wollten Sie Pulver und andere Sachen erpressen. Deshalb hatten Sie vor, Kapitän Tottenham als Geisel zu nehmen. Glücklicherweise ist Ihnen das ja gründlich mißlungen – dank Marc Corbett, dem unser aller Hochachtung gilt.“

Stewart brachte keine Antwort hervor, obwohl Gretton eine kurze Pause zum Luftholen einlegte.

„Als Ersatz wollen Sie jetzt unsere Waffen haben“, fuhr der Erste Offizier der „Dragon“ mit metallisch klingender Stimme fort. „Und damit wollen Sie allen Ernstes die Galgenvögel ausrüsten, die erst kurz zuvor als Gefangene entwaffnet wurden. Ist Ihnen nicht klar, daß Sie die Pflicht hätten, diese Burschen wieder festzunehmen – wenn Sie wirklich ein Kommandant wären, der seine Aufgaben ernst nimmt?“

Charles Stewart stand wie versteinert. Noch nie zuvor hatte jemand gewagt, so mit ihm zu reden. Obwohl sich die Gedanken in seinem Schädel zu überschlagen schienen, begriff er doch sehr gut, was diese Szene bedeutete. Es war eine unvorstellbare und unwürdige Szene für ihn, den Kommandanten einer Kriegsgaleone Ihrer Majestät.

Niemals und unter keinen Umständen hatte ein Offizier das Recht, die Autorität eines. Vorgesetzten in Gegenwart von Mannschaften anzuzweifeln. Und dieser Gretton zweifelte nicht nur seine Autorität an – nein, der Mistkerl stellte sie sogar in Abrede!

Es war unglaublich, einfach ungeheuerlich.

„Ich werde Sie vor ein Kriegsgericht bringen“, sagte Stewart tonlos. „Was Sie sich hier herausnehmen, ist glatte Meuterei, Aufwiegelung der Mannschaft. Glauben Sie nur nicht, daß Sie damit durchkommen.“

Gretton juckte es in den Fingern. Er hatte Mühe, seinen aufwallenden Zorn herunterzuschlucken.

„Stellen Sie die Dinge nicht auf den Kopf, Stewart“, sagte er schneidend. „Die Männer der ‚Dragon‘ lassen sich nicht für dumm verkaufen, bilden Sie sich das nicht ein. Und glauben Sie nur nicht, daß sich diese Männer von einer Unperson, wie Sie es sind, etwas befehlen lassen. Wenn Sie sich also zusammen mit den Galgenstricken und den ehrenwerten Gentlemen von hier entfernen wollen, dann ist das von uns aus sehr zu begrüßen. Sie und Ihresgleichen lungern ja doch nur herum. Eine Jolle kann ich Ihnen zur Verfügung stellen – mehr nicht. Notfalls müssen Sie eben einen Pendelverkehr zu der Insel einrichten, die Sie hoffentlich bald finden werden.“

Die Männer der Crew klatschten Beifall, grölten und hieben sich gegenseitig vor Begeisterung auf die Schulter. Verdammt noch mal, das war nach ihrem Geschmack. Gretton hatte es dem Schweinehund Stewart endlich gegeben. So einer verdiente es überhaupt nicht, daß man vor ihm noch Haltung annahm. Damit hatte Gretton völlig recht. Und dieser Erste Offizier der „Dragon“ konnte sich voll und ganz auf jeden einzelnen Mann der Crew verlassen.

7.

Charles Stewart reagierte mit einem Tobsuchtsanfall.

Fast sah es aus, als würde sein Kopf auseinanderfliegen – so sehr rötete sich seine Haut vom Hals an aufwärts, und so sehr schwollen seine Adern an. Ruckartig wandte er sich um und stürmte auf den wilden Haufen von der „Lady Anne“ zu.

„Mister O’Leary!“ brüllte Stewart mit sich überschlagender Stimme. „Sofort zu mir!“ Es sollte wie die Anweisung eines ordnungsgemäß eingesetzten Kommandanten an einen ordnungsgemäß eingesetzten Untergebenen klingen.

Doch die Männer von der „Dragon“ vernahmen es mit um so mehr Verachtung. Was Stewart da von sich gab, war das Befehlsgeschrei eines Halunken, der einen Galgenstrick übelster Sorte heranrief.

Widerstrebend hatte sich O’Leary aufgerappelt. Die übrigen Kerle von der Karavelle des alten Killigrew zeigten keine Anstalten, ihre gerade begonnene „Pause“ beim Ausrüsten der Jollen schon wieder zu beenden.

„Sir?“ sagte der Bootsmann unwirsch.

O’Leary war nicht einfältig genug, um nicht in etwa zu ahnen, was jetzt bevorstand. Es entwickelte sich eben doch alles anders, als Stewart geplant hatte.

„Nehmen Sie Ihre Männer!“ schrie Stewart, und es klang beinahe kreischend. „Entwaffnen Sie die verdammten Meuterer. Und dann besetzen Sie alle drei Jollen, wie ich angeordnet habe, verstanden?“

„Mal sehen, wie die Stimmung ist“, entgegnete O’Leary gelassen. „Die da drüben haben wenigstens ihre Blankwaffen, unsereins nur die leeren Hände.“ Bevor Stewart etwas einwenden konnte, drehte sich O’Leary zu seiner Meute um. „Ihr habt gehört, wie die Lage ist. Kann sein, daß wir was auf die Jacke kriegen, wenn wir drauflos gehen. Also, was ist?“ Fragend blickte er in die Runde.

Der Stolz der Kerle war angestachelt.

„Sehen wir so aus, als ob wir den Schwanz einziehen?“ knurrte einer von der wüstesten Sorte.

„Wir doch nicht!“ schrie ein anderer, sprang auf und reckte die rechte Faust. „Diese Marineaffen schlagen wir auch so zu Klump!“

„Auf was warten wir dann noch?“ brüllte ein dritter.

Gleich darauf schrie die ganze Meute Zustimmung.

„Langsam, langsam“, sagte O’Leary dröhnend, als sie blindlings auf die „Orion“-Crew losstürmen wollten. „Sucht euch wenigstens ein bißchen was zusammen, Knüppel oder so was. Oder wollt ihr einen Schiffshauer mit dem Arm parieren?“

Das leuchtete ein. In aller Eile begannen die Kerle, sich im nahegelegenen Dickicht umzusehen.

Charles Stewart begab sich unterdessen zur Gruppe der Gentlemen, um sich während der Angriffsvorbereitungen O’Learys mit Sir Robert Monk abzusprechen.

„Meine Freunde und ich haben immerhin Blankwaffen“, sagte Sir Robert.

Die Gentlemen erbleichten unter den kümmerlichen Resten ihrer Puderschicht. Hatte dieser Monk den Verstand verloren? Glaubte er etwa, daß ein Mann von Stand sich in Handgreiflichkeiten einmischen würde?

„Zierdegen“, sagte Charles Stewart verächtlich. „Die können Sie Kindern zum Spielen geben, aber gegen einen ausgewachsenen Mann richten Sie damit nichts aus. Und in Ihren ziselierten Pistölchen dürfte das Pulver naß geworden sein – wenn die Dinger überhaupt geladen waren.“

Ein Aufatmen ging durch die Reihe der Gentlemen. Dieser Stewart sah die Dinge wenigstens realistisch. Wozu sollte man sich mit irgendwelchem Pöbel herumschlagen, wenn es doch keinen Sinn hatte! Die Gentlemen konnten indessen nicht ahnen, wie sehr ihre augenblicklich gute Meinung von Stewart schon bald ins Gegenteil umschlagen sollte.

Arthur Gretton und seine Männer hatten sich derweil seelenruhig auf den bevorstehenden Angriff vorbereitet. Die Offiziere und Decksleute von der „Orion“ hatten sich zu einer breiten Front halbkreisförmig auseinandergezogen. Schiffshauer, Enterbeile und Messer blitzten in ihren Fäusten.

Für Arthur Gretton schien es unverständlich, daß die achtundzwanzig Killigrew-Schnapphähne allen Ernstes einen Angriff auf die achtzigköpfige Übermacht der „Dragons“ riskieren wollten. Dieser O’Leary und seine Halunken schienen der Ansicht zu sein, es mit den Männern von der Marine aufnehmen zu können.

Gewiß, Schlägereien und alle anderen Arten von Kämpfen und Gefechten waren ihr Metier, und darin fühlten sie sich stark. Aber es gegen eine mehr als zweieinhalbfache Übermacht zu versuchen, die noch dazu bewaffnet war, das übertraf denn doch das Maß aller Dreistigkeit, die Gretton bislang erlebt hatte.

Diese Strolche mußten übergeschnappt sein. Oder die Gier nach dem Gold im Bauch der „Lady Anne“ hatte ihnen den Verstand geraubt.

Minuten später begann mit Gebrüll der Vormarsch der Horde. Die meisten hatten sich mit langen Knüppeln aus dem Dickicht versorgt. Vier waren es, die Bootsriemen vom Strand geholt hatten und diese wie Lanzen führten.

Den Männern von der „Dragon“ verschlug es jedoch endgültig die Sprache, als sie sahen, wer an der Spitze der Horde losstürmte.

Charles Stewart, ihr eigener Kommandant!

Nein, dieser Hundsfott war nie und nimmer mehr Kommandant. Auch dem letzten Mann in den Reihen der „Dragon“-Crew schwand in diesem Moment jeglicher Zweifel. Stewart war ein Halunke ohnegleichen. Er verdiente nicht, daß man im Zusammenhang mit ihm überhaupt noch daran dachte, daß er jemals den Kommandantenrang innegehabt hatte.

Das Gebrüll der anrückenden Horde schwoll an.

Die Männer von der „Dragon“ standen geduckt und mit angespannten Muskeln.

Geoff Kearney und sein Freund Thomas Haddock gehörten zu jenen, die eine der Bootsriemen-Lanzen auf sich zurasen sahen. Wie die anderen auch wichen sie diesem Angriff im letzten Moment durch einen blitzschnellen Sprung zur Seite aus.

Doch sie begingen nicht etwa den Fehler, die wertvollen Riemen durch Säbelhiebe zu zerschmettern. Vielmehr ließen sie die dazugehörigen Kerle kurzerhand leerlaufen und trieben sie dann mit wohlgezielten Hieben der Plattseiten ihrer Klingen zurück.

Erste Schmerzensschreie gellten, als die Riemen zu Boden fielen und die Kerle sich fluchtartig herumwarfen.

Im nächsten Augenblick war die Hauptangriffswelle der Killigrew-Meute heran. Mit schwirrenden Knüppelhieben versuchten sie, die drohenden Klingen von Schiffshauern, Enterbeilen und Messern beiseite zu fegen. Ein Versuch, der im Ansatz erstickt wurde.

Nachdem die Bootsriemen-Träger gleich zu Beginn die Flucht ergriffen hatten, kamen auf jeden Angreifer mindestens drei Männer von der „Dragon“. Arthur Gretton konnte es sich leisten, Stewart an den Rand des Kampfgetümmels zu treiben und die Klinge mit ihm zu kreuzen.

Nur wenige der Knüppelhiebe trafen überhaupt. Innerhalb von zwei, drei Minuten mußten O’Learys Kerle begreifen, daß sie den Mund zu voll genommen hatten. Säbel und Äxte zerschmetterten ihre primitiven Schlagwaffen, und dann setzten die Männer von der „Dragon“ ihre keineswegs ungeübten Fäuste ein.

Das verbissene Keuchen der Kämpfenden wurde immer mehr von Schmerzenslauten und Schreien überlagert. Nach wie vor klirrten die Säbelklingen Grettons und Stewarts, doch schon jetzt war abzusehen, daß der Erste Offizier seinen ehemaligen Kommandanten in zunehmende Bedrängnis brachte.

Plötzlich mußte Arthur Gretton voller Verblüffung feststellen, daß sich Stewart mitten in einer neuen Attacke Hals über Kopf herumwarf und die Flucht ergriff.

Erst einen Atemzug später erkannte Gretton den Grund für dieses absonderliche Verhalten. Lächelnd ließ er den Säbel sinken.

Am Rand der Lichtung waren etwa dreißig Männer von der „Orion“ aufmarschiert. Unter dem Kommando von Marc Corbett nahmen sie Aufstellung und brachten ihre Musketen in Anschlag. Zusätzlich waren sie noch mit Pistolen und Entersäbeln bewaffnet.

Sekunden später hatten auch O’Leary und seine Kerle begriffen.

Hals über Kopf warfen sie sich herum und folgten Stewarts Beispiel, als säße ihnen der Gehörnte persönlich im Nacken. Jene, die von den „Dragons“ nicht sofort Abstand gewinnen konnten, kriegten zur Untermalung der neuen Lage noch einen Tritt in den Hintern.

„Auf geht’s, Freund, so kommst du schneller in Fahrt!“ brüllte Geoff Kearney, nachdem er einem der O’Leary-Strolche seinen Stiefel in den Achtersteven gerammt hatte.

Der Mann stolperte armrudernd, raste mit kleinen schnellen Schritten los und hatte gleich darauf die übrigen Fliehenden eingeholt.

Brüllendes Gelächter von der „Dragon“-Crew hallte den Kerlen nach, und gleich darauf stimmten auch die Männer von der „Orion“ mit ein. Sie ließen ihre Musketen sinken, denn es war nicht erforderlich gewesen, auch nur einen einzigen Schuß abzugeben.

In panischer Hast erreichten Charles Stewart und Sir Robert als erste die „Privat-Jolle“ des ehemaligen Kommandanten. Keuchend verharrten sie, nachdem sie die beruhigende Feststellung getroffen hatten, daß sich die beiden Goldkisten noch an ihrem Platz befanden.

Joe Doherty hockte unerschütterlich wie ein Granitfelsen auf der Achterducht.

Mit einer Kopfbewegung deutete er zu den beiden anderen Jollen, die etwa einen Steinwurf weit entfernt lagen.

„Gibt wohl Ärger, was?“

Stewart und Monk ruckten herum.

Drüben marschierten die Bewaffneten unter dem Kommando von Marc Corbett auf und versperrten den Weg zu jenen Jollen, die Arthur Gretton für sich beanspruchte.

„Dieser Hurensohn!“ fluchte Stewart. „Dieser verdammte Schweinehund von einem Ersten Offizier erdreistet sich …“

Sir Robert unterbrach ihn mit einer heftigen Handbewegung. Schon waren die Schritte der anderen im Dickicht zu hören.

„Lamentieren hilft uns nicht weiter, Stewart. Wir müssen sehen, wie wir mit dem Problem fertig werden. Wie viele Männer passen in die Jolle?“

Stewart starrte ihn an.

„Neunzehn“, sagte er tonlos. „Das ist die äußerste Belastung.“

„Dann müssen wir unsere Auswahl treffen“, sagte Sir Robert kalt.

Aus dem Unterholz brachen sie jetzt hervor, stolpernd, fluchend und keuchend. Auch die sieben Gentlemen waren dabei, das Entsetzen stand in ihren bleichen Gesichtern.

Charles Stewart hatte augenblicklich verstanden, auf was Sir Robert hinauswollte. Eilends wandte sich der Ex-Kommandant zu seinem Leibwächter um.

„Es könnte wirklich Ärger geben, Mister Doherty. Aber mehr von unseren eigenen Leuten. Wenn einer gegen meine Befehle verstößt, hauen Sie ihm was aufs Maul. Klar?“

Ein Grinsen kerbte sich in das wüste Gesicht des Monstrums.

„Aye, aye, Sir“, sagte er, und es klang wie ein Grollen aus der Tiefe seines mächtigen Oberkörpers. Voller Vorfreude auf mögliche Taten richtete er sich auf und nahm hinter Stewart Aufstellung, als dieser die heranstürmende Meute mit Donnerstimme und energischen Handbewegungen zum Stehen brachte.

„Halt, halt! Zur Panik gibt es keinen Grund, verdammt noch mal. Haltet gefälligst Ruhe. Wir müssen jetzt sorgfältig überlegen, wie es weitergeht.“

Einer der Gentlemen trat einen Schritt vor und zupfte dabei mit blasierter Miene an seiner verdreckten Kleidung. Die Art, wie er es tat, hatte etwas Vorwurfsvolles – als sei Stewart für den derzeitigen erniedrigenden Zustand der Hochwohlgeborenen verantwortlich.

Der Mann war ein dünnes und blasses Bürschchen von fünfundzwanzig Lenzen, doch er sah wesentlich älter aus. Das zügellose Leben hatte unübersehbare Spuren in sein Gesicht gegraben. Sein Name war Sir James Sandwich. Stewart kannte ihn bereits.

„Was gibt es da zu überlegen?“ sagte Sandwich mit unangenehm hoher Stimme. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Bewaffneten unter Corbetts Kommando. „Allem Anschein nach steht uns nur diese eine Jolle zur Verfügung. Es dürfte eine Selbstverständlichkeit sein, daß zuerst wir, die Angehörigen des Adels, damit in Sicherheit gebracht werden. Später können Sie dann Ihre Überlegungen anstellen, Stewart.“

Sandwich wollte allen Ernstes auf die Jolle zustelzen, und er forderte seine Standesgenossen mit einer Handbewegung auf, ihm zu folgen.

„Keinen Schritt weiter!“ brüllte Stewart mit Donnerstimme.

Wenn die Hochwohlgeborenen tatsächlich erschrocken zurückprallten, lag das aber nicht an ihm, sondern an Doherty. Das Monstrum war einen Schritt neben seinen Gebieter getreten und neigte drohend den riesenhaften Oberkörper vor. Mehr war nicht nötig.

„Was soll das heißen?“ schrie Sandwich schrill.

Sir Robert Monk gab ihm die Antwort mit eiskaltem Grinsen.

„Daß Sie hierbleiben, mein Bester. Sie und die anderen. Mister Stewart und ich brauchen Sie nicht. Sie sind absolut nutzlos.“

Sir James Sandwich sperrte den Mund auf, und auch die übrigen Gentlemen starrten Monk fassungslos an. Ausgerechnet er, einer der ihren, war ihnen in den Rücken gefallen. Das war mehr, als sie auf Anhieb verkraften konnten. Eine bittere Medizin, die sich nicht so schnell herunterwürgen ließ.

Und in den nächsten Minuten gab es keine Gelegenheit mehr für sie, abermals Proteste zu äußern.

„Mister O’Leary“, sagte Stewart entschlossen.

„Sir?“ Der Bootsmann der „Lady Anne“ trat vor.

„Sie gehen mit an Bord, außerdem die beiden Söhne Sir John Killigrews. Bestimmen Sie weitere dreizehn Mann aus Ihrer Crew, die Sie für geeignet halten, die Jolle zu besetzen.“

„Aye, aye, Sir“, sagte O’Leary knapp. Er hatte sofort begriffen. Jetzt war sich jeder selbst der Nächste, nichts anderes zählte mehr. Und er wußte, daß sich die Auserwählten haargenau nach diesem Grundsatz richten würden.

Im Handumdrehen bestimmte O’Leary die brutalsten und rücksichtslosesten Schläger aus der „Lady Anne“-Crew als Jollenbesatzung. Sie waren gewitzt genug, sich schnellstens auf die Seite von Charles Stewart, Sir Robert Monk und O’Leary zu begeben, wo inzwischen auch die ferkelgesichtigen Killigrew-Söhne erleichtert Aufstellung genommen hatten.

Die übrigen Kerle aus O’Learys Meute brüllten ihren Protest hinaus. Doch die Stentorstimme ihres Bootsmanns übertönte alles.

„Schnauze halten, oder ich lasse sie euch stopfen!“

Das wirkte. Denn die von O’Leary Bevorzugten bauten sich mit drohendem Grinsen in einer Linie auf. Ihre Pranken, zu Fäusten geballt, waren deutlich genug.

Im nächsten Moment war es Sir Robert Monk, der den Gentlemen einen erneuten Schock zufügte.

„Mister O’Leary!“ rief er. „Bitte veranlassen Sie, daß Sir James und seinen Freunden die Waffen abgenommen werden.“

Der Bootsmann der „Lady Anne“ brauchte es nicht ausdrücklich zu wiederholen.

„Dann mal los, Männer“, sagte er grinsend und teilte mit knappen Handbewegungen fünf Kerle ein, die die Spezialaufgabe zu übernehmen hatten.

Während die Hochwohlgeborenen vor Entsetzen zu zittern begannen, erkannten die Zurückgewiesenen aus der Killigrew-Meute ihre Chance.

„Los jetzt!“ schrie einer von ihnen. „Das lassen wir uns nicht gefallen!“ Und mit erhobenen Fäusten stürmte er als erster auf die Jollen-Crew zu. Die anderen folgten ihm wutentbrannt.

O’Leary und die anderen duckten sich verteidigungsbereit.

„Mister Doherty!“ rief Stewart schneidend.

Das Monstrum walzte auf die Angreifer los und fällte drei von ihnen mit einem einzigen sensenartigen Hieb.

Zur selben Zeit stießen die Gentlemen quiekende Schreie aus, als ihnen von derben Pranken die zierlichen Prunkdegen entrissen wurden. Viel ließ sich mit diesen Waffen nicht anfangen, aber sie waren besser als nichts.

O’Leary und seine Auserwählten ließen nun ebenfalls ihre Fäuste wirbeln. Gemeinsam mit dem wild grunzenden Doherty gelang es ihnen, die Angreifer zurückzutreiben. Ein halbes Dutzend der Kerle wälzte sich jammernd am Boden – die Auswirkung von Dohertys Hieben. Der Anblick wirkte auf die übrigen demoralisierend.

„Los jetzt!“ befahl Charles Stewart. „Bringt die Jolle zu Wasser! Und dann nichts wie weg!“

Joe Doherty stemmte sich als erster gegen den Spiegel des Bootes, folglich genügte es für die anderen, mit halber Kraft zu schieben.

Die Kerle an Land erwachten aus ihrer Fassungslosigkeit, als die Jolle bereits vollständig bemannt war und im Uferwasser Fahrt aufnahm.

Mit wildem Gebrüll stürmten ein paar von ihnen in die Fluten und schwammen dem Boot nach.

Die sieben Gentlemen beschränkten sich darauf, ein schrilles Wehklagen anzustimmen.

Unterdessen erreichten drei, vier Kerle schwimmend die Jolle und versuchten, das Dollbord zu packen. Es blieb beim Versuch. Doherty hieb ihnen die Faust auf die Schädel, daß sie unter Wasser gestoßen wurden und blubbernd zurückblieben.

Einer aus der Meute, der mit den anderen in ohnmächtiger Wut am Strand ausharrte, bückte sich nach einem Stein und schleuderte ihn mit einem wilden Schrei dem Boot nach. Augenblicklich folgten die anderen seinem Beispiel.

Schon der erste Stein war ein Volltreffer.

Charles Stewart verspürte einen harten Schlag am Kopf und kippte bewußtlos nach vorn. Doherty konnte ihn gerade noch abfangen und verhindern, daß sein Master zwischen die Duchten fiel.

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Umfang:
1872 S. 21 Illustrationen
ISBN:
9783954397815
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