Buch lesen: «Seewölfe Paket 22», Seite 2

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2.

Alle drei Jollen der „Dragon“ waren hoch auf den Strand gezogen worden. Eine lag jedoch ein Stück abseits, von Palmwedeln sogar ein wenig beschattet. Die beiden Männer, die dort Wache hielten, waren froh, der sengenden Sonne nicht schutzlos ausgesetzt zu sein.

Aus dem Dickicht sahen sie unvermittelt Charles Stewart auftauchen. Irgendwo dort lungerten auch die anderen herum und pflegten ihre faule Haut. Daran, etwas Eßbares aufzutreiben, dachte keiner. Vorläufig begnügten sie sich mit Kokosnüssen.

Drüben, in einiger Entfernung, hatten die „Orion“-Leute unterdessen ein Kochfeuer angefacht – deutlich sichtbar auf dem Strand. Am liebsten wären die beiden Wachtposten hinübergelaufen und hätten um einen Schlag Suppe gebettelt. Aber sie wußten, daß sie dort gewiß nicht mit offenen Armen empfangen worden wären.

Stewart war nicht allein. An seiner Seite walzte ein Ungetüm aus dem Unterholz hervor, wie es seinesgleichen keine Crew kannte: Joe Doherty, der persönliche Profos des verblichenen Sir Andrew Clifford, Earl of Cumberland.

Dieser Doherty war ein Bulle von einem Kerl, was allein gar nicht mal so schlimm gewesen wäre. An Land hätte er in einem Zirkus auftreten können – als Kinderschreck. Denn sein Gesicht sah wahrhaftig zum Fürchten aus.

Gesicht konnte man diese wüste Landschaft von Narben und Furchen allerdings kaum noch nennen. Einige der Narben waren blutrot, andere dunkel und bläulich. Die Nase war plattgeschlagen, zu allem Überfluß fehlten diesem Monstrum auch noch ein Ohr und die Hälfte der Zähne.

Stewart war schon ein Brocken von einem Mann. Aber neben Doherty wirkte er geradezu zierlich. Zielstrebig marschierten die beiden durch die Sonnenglut am Rand des Dickichts auf die bewachte Jolle zu. Die beiden Posten ahnten, daß ihre geruhsame Zeit im Schatten abgelaufen war.

Sie täuschten sich nicht.

„Ihr könnt abhauen“, sagte Stewart barsch. „Mister Doherty übernimmt diese Aufgabe jetzt.“

Der Profos Sir Andrews stemmte die Riesenpranken in die Hüften und grinste geschmeichelt. Dabei bemerkte er einen Ausdruck des Entsetzens in den Gesichtern der beiden Kerle, die sich da von den Duchten der Jolle erhoben.

Doherty hatte eine Art dumpfes Wissen um die Wirkung seines Erscheinungsbildes. Das hatte er schon oft erlebt, infolgedessen war es nichts Ungewohntes: Sein Grinsen rief bei manchen Leuten geradezu fluchtartige Reaktionen hervor. Gelegentlich hatte er das ausgenutzt. In Hafenschänken beispielsweise, wenn es darum ging, einen guten Platz am Tresen zu ergattern.

Bedauerlicherweise pflegte in solchen Fällen zumeist auch die holde Weiblichkeit Reißaus zu nehmen. Joe Doherty hatte sich schließlich damit abgefunden, daß er stets tiefer in die Tasche greifen mußte als andere, wenn er eins von den Hafenmädchen für sich interessieren wollte. Und dann waren es meist auch nur die fetten älteren Weiber, die sich für ihn zu begeistern schienen.

Er hatte bis heute nicht begreifen können, warum die drallen und hübschen jungen Dinger immer einen großen Bogen um ihn schlugen.

Männer wie Charles Stewart brauchten indessen nur ein paar Worte mit Joe Doherty zu wechseln, um zu wissen, daß die Natur ihn unterhalb der Schädeldecke äußerst sparsam ausgestattet hatte. Das bedeutete allerdings nicht, daß dieses Monstrum ein gutmütiger Trottel gewesen wäre, wie man es oft bei Einfaltspinseln erlebt.

Nein, Joe Doherty hatte alle Eigenschaften, die ein Dienstherr vom Schlage Sir Andrews zu schätzen gewußt hatte – gewalttätig bis zur Grausamkeit, rücksichtslos, frei von menschlichen Empfinden jedweder Art und bärenstark.

Über Dohertys Körperkraft gab es die wildesten Gerüchte. Er selbst brüstete sich bisweilen mit einer Geschichte aus Falmouth in Cornwall. Dort, so behauptete er, hätte er bei einem Gauklermarkt einen ausgewachsenen Stier bei den Hörnern gepackt und auf den Rücken geworfen. Wenn Doherty so etwas erzählte, wagte niemand, ihm zu widersprechen, geschweige denn auch nur Zweifel anzumelden.

Die beiden Wachtposten wollten sich verdrücken.

„Einen Moment noch“, sagte Stewart.

Er bückte sich und überzeugte sich, daß die beiden Goldkisten mit unversehrten Schlössern unter der Achterducht standen. Dann erst scheuchte er die beiden Männer mit einer Handbewegung weg.

Von seinem Mißtrauen blieb niemand verschont, auch die nicht, die sich stets als absolut zuverlässig erwiesen hatten. In besonderem Maße galt das jetzt, da er die beiden Kisten hüten mußte wie seinen Augapfel. Nicht zuletzt deshalb hatte er Doherty mit freundlicher Aufmerksamkeit bedacht.

Das Monstrum war der geborene Befehlsempfänger. Doherty konnte nicht leben ohne jemanden, der ihm sagte, was zu tun war.

„Davon hängt meine Zukunft ab“, sagte Stewart und klatschte mit der flachen Hand auf das Kistenholz. „Also auch die Ihre, Mister Doherty. Ich denke, wir beide verstehen uns.“ Stewart kniff bei diesen Worten in kumpelhafter Vertraulichkeit das linke Auge zu.

„Aye, aye, Sir“, sagte Doherty geschmeichelt. Sir Andrew hatte ihn zwar auch ordentlich behandelt, jedenfalls so, wie er es gewohnt war. Aber der Kapitän Stewart redete ihn sogar mit „Mister Doherty“ an und war auch sonst sehr höflich zu ihm. Dies erfüllte Doherty mit besonderem Stolz, vor allem dann, wenn andere es auch mitkriegten.

Stewart richtete sich wieder auf.

„Sie sind jetzt meine Vertrauensperson, Mister Doherty“, sagte er bedeutungsvoll. „Ich weiß, daß ich mich in jeder Beziehung auf Sie verlassen kann. Was ich vorläufig noch nicht weiß, ist, wie wir von dieser lausigen Insel verschwinden werden. Aber das Gold“, er stieß mit dem Stiefelabsatz gegen die Bootsplanken, „wird uns in jedem Fall dabei helfen. Passen Sie gut auf das Gold auf, Mister Doherty. Und auch darauf, daß mir nie jemand in den Rücken fällt oder sonstwie versucht, mich zu überlisten. Bin ich raus aus dem Schlamassel, dann sind Sie es auch. Klar?“

„Aye, aye, Sir“, sagte Doherty abermals, diesmal dröhnend und voller Selbstzufriedenheit.

Die Ehre, Vertrauensperson des Kommandanten sein zu dürfen, ließ ihn noch um einiges breiter werden. Es sah aus, als sei er aufgeblasen worden. Sir Andrews Umgangston ihm gegenüber war von der Art eines Herrn zu seinem Hund gewesen. Gemessen daran fand sich Doherty nun als Vertrauensperson Kapitän Stewarts in seiner Wichtigkeit um ein Vielfaches angehoben.

Für Stewart indessen war der Kerl nichts weiter als ein nützlicher Idiot. Leichter konnte man es gar nicht haben, sich einen persönlichen Leibwächter zuzulegen. Ein paar freundliche Worte genügten, und man konnte den hirnlosen Narren mit dem kleinen Finger in jede nur beliebige Richtung bugsieren. Auf die Idee, daß er nur ausgenutzt wurde, kam Joe Doherty nie im Leben.

Und Charles Stewart hatte seinerseits nicht vor, das Monstrum bis ans Ende seiner Tage mit sich zu schleifen. Hatte man erst einmal wieder England erreicht und sich ein Leben in Wohlstand gesichert, dann würde es Mittel und Wege geben, sich des ungeschlachten Kerls zu entledigen.

Stewart wies ihn an, sich auf die Achterducht der Jolle zu setzen und niemanden an die Goldkisten heranzulassen.

„Sollte es doch einer wagen“, sagte Stewart, „dann …“ Er fuhr mit dem Zeigefinger an der Gurgel entlang.

Joe Doherty lachte glucksend, wobei sein mächtiger Oberkörper regelrecht bebte.

„So einem reiße ich den Kopf ab“, sagte er dumpf.

Stewart war überzeugt, daß Doherty das sogar wörtlich meinte. Er nickte dem Monstrum zu und stiefelte durch den weichen Sand los. Bevor er im Dickicht verschwand, sah er sich noch einmal um.

Doherty hockte auf der Achterducht wie ein Granitblock. Bei ihm war das Gold in der Tat so sicher wie in Abrahams Schoß. Er selbst würde es sich ganz gewiß nicht unter den Nagel reißen, denn er wußte ja nicht einmal, was man damit anfangen konnte.

Der Lagerplatz der „Dragon“-Crew war den Umständen entsprechend gar nicht einmal schlecht. Das mußte Stewart erneut feststellen, als er nach dem kurzen Weg über den sonnendurchglühten Strand die schattige Lichtung erreichte. Die Sonne drang nicht bis hierher vor, die Luft war beinahe als angenehm kühl zu bezeichnen, da eine sanfte Brise durch das Dickicht strich. Im Inneren der Insel mochte es undurchdringlich, stickig und feucht sein. Aber hier in Ufernähe konnten es Menschen noch aushalten.

Stewart hatte nicht vor, die Insel näher zu erkunden. Was interessierte ihn dieses dämliche Eiland! Er mußte weg von hier, und zwar so schnell wie möglich.

Die hochwohlgeborenen Gentlemen, die samt und sonders arg gerupft aussahen, hatten sich abgesondert. Wie immer zogen sie es vor, unter sich zu sein.

Sollen sie, dachte Stewart. Der einzige nach seinem Geschmack war Sir Robert Monk. Mit dem Mann konnte man etwas anfangen, das spürte Stewart instinktiv. Er hatte auch den Eindruck, daß dieser Sir Robert durchaus seiner Adels-Clique den Rücken zuwenden würde, wenn es die Lage erforderte. Aber das war im Augenblick noch Zukunftsmusik.

Die insgesamt etwa achtzig Crewmitglieder der „Dragon“ hockten in der Mitte der Lichtung. Einige von ihnen kauten mißmutig auf Stücken von Kokosnüssen herum, andere schlürften die Milch aus angebohrten Nüssen. Auf die Dauer war das natürlich keine Ernährung für ausgewachsene Männer, darüber war sich Stewart im klaren. Aber wie sollten sie etwas Besseres beschaffen? Sie besaßen ja nicht einmal Schußwaffen, um irgendwelches Viehzeug zu erlegen.

Stewart wollte sich bereits wieder auf seinen ursprünglichen Platz niederlassen, als er eine Gestalt sah, die ihm vom jenseitigen Rand der Lichtung aus zuwinkte. Dort gab es eine Schneise und daran angrenzend eine Nebenlichtung – Zufluchtsort der Burschen von der „Lady Anne“. Verständlich, daß sie sich nicht in die Nähe von Corbett und Tottenham trauten, wobei man den letzteren nach Stewarts Meinung besser auf „Trottelham“ umtaufte.

Die winkende Gestalt war niemand anders als O’Leary, der Bootsmann mit der Holzhackervisage. Unter dem Kommando des alten Killigrew mußte er eine große Nummer gewesen sein. Stewart hatte das daraus gefolgert, daß O’Leary sogar das Recht hatte, die beiden ferkelgesichtigen Söhne des Alten herumzukommandieren. Geblieben war dem vierschrötigen Bootsmann immerhin ein uneingeschränkter Respekt der Crewmitglieder von der „Lady Anne“.

Stewart ging auf ihn zu und ließ sich von ihm beiseite nehmen.

„Die Jungs haben gesagt, ich sollte mal mit Ihnen reden, Sir“, sagte O’Leary und setzte dabei ein vertrauliches Grinsen auf.

„Da haben die Jungs dir einen guten Rat gegeben“, entgegnete Stewart und grinste zurück.

Bei jenen Zukunftsplänen, die ihm allerdings noch nicht genau umrissen vorschwebten, paßten die Killigrew-Leute unter O’Leary besser zu ihm als die Crew der „Dragon“. Diesen Burschen, die für den alten Halunken aus Cornwall durch dick und dünn gegangen waren, brauchte man nicht lange zu erklären, warum man sich beispielsweise zwei Goldkisten unter den Nagel riß. Denen brauchte man auch nicht zu verklaren, warum man sich für die legendäre Schatzbeute des Seewolfs mehr interessierte als dafür, den Mann in England vor Gericht zu stellen.

O’Leary rannte bei Stewart gewissermaßen ein offenes Schott ein.

„Ja, das ist so“, sagte der Bootsmann gedehnt, „wir wissen irgendwie nicht richtig, wo wir hingehören. Dieser Corbett hat uns zwar aus der Vorpiek rausgelassen. Aber wenn wir freiwillig hingehen, läßt das Schwein uns bestimmt in Ketten legen.“

„Damit ist zu rechnen“, sagte Stewart grinsend.

„Aber bei Ihnen wissen wir auch nicht, woher der Wind weht“, fuhr O’Leary fort.

„Warum nicht?“

„Kann man schwer sagen. Die Kerls von der ‚Dragon‘ sind nicht gerade die freundlichsten. Sieht so aus, als wollten sie mit uns nichts zu tun haben.“

„Das entscheiden nicht die Kerls von der ‚Dragon‘, sondern immer noch ich, ihr Kommandant“, entgegnete Stewart. „Und ich meine, daß ihr von der ‚Lady Anne‘ brauchbare Burschen seid, die wissen, wann und wie sie zupacken müssen.“

O’Leary strahlte.

„Dann heißt das …“

„… daß ihr bei mir gut aufgehoben seid“, fiel ihm Stewart ins Wort. „Ihr braucht euch also nicht länger abseits zu halten. Und keine Sorge: Ab sofort steht ihr unter meinem persönlichen Schutz.“

Der Bootsmann blinzelte verblüfft.

„Dann macht es Ihnen gar nichts aus, daß wir mit dem Gold von der ‚Santa Cruz‘ einfach abgehauen sind?“

„Erstens habt ihr einen Befehl ausgeführt, den euch Sir John. Killigrew gegeben hat. Zweitens“, Stewart hieb ihm auf die Schulter und lachte dröhnend, „seien wir doch mal ehrlich! Ich hätte an eurer Stelle nicht anders gehandelt. Zum Teufel, eine ganze Schiffsladung Gold! Da ist man doch nicht so blöd, mit allen Leuten zu teilen.“

O’Learys Verblüffung schlug in ein Grinsen um. Auf einmal begriff er, daß dieser Kapitän aus einem ähnlichen Holz geschnitzt war wie Sir John Killigrew, der alte Schnapphahn von der Feste Arwenack.

Charles Stewart seinerseits hatte indessen längst erkannt, daß die achtundzwanzig Kerle von der „Lady Anne“ besser zu ihm paßten als alle anderen, die hier auf der Insel versammelt waren. Mit solchen Burschen konnte man mitten durch die Hölle segeln und dem Gehörnten höchstpersönlich am Schwanz ziehen.

Aus keinem anderen Grund war Charles Stewart auch seinerzeit in England höchst erfreut gewesen, an der Fahrt in die Karibik teilzunehmen. Insgeheim hatte er von Anfang an nur seine persönliche Bereicherung im Sinn gehabt, wie das bei vielen Kapitänen vor ihm der Fall gewesen war.

Stewart kannte all die Geschichten, die man sich in den englischen und irischen Schänken erzählte. Aber auch aus seinem Dienst bei der britischen Marine wußte er, wie viele Kapitäne Ihrer Majestät, der königlichen Lissy, von einer Kaperfahrt in die Karibik nicht zurückgekehrt waren.

Wie viele spanische Gold- und Silberschiffe hier in der Neuen Welt ausgeplündert wurden, wußte man von den Protestnoten, die der spanische Botschafter ständig bei Hofe vorgebracht hatte. Seine Allerkatholischste Majestät in Madrid geruhten besorgt darüber zu sein, wie oft man ihm etwas von seinem Mammon abzwackte.

Kurzum – Charles Stewart beneidete die Kapitäne, die sich zu einem Piratenleben in Saus und Braus auf einsame Karibik-Inseln zurückgezogen hatten. Wem er das Gold und sonstige Schätze abnahm, ob dem Seewolf oder den Spaniern, das war ihm letzten Endes völlig gleichgültig.

Fest stand jedenfalls, daß er das gesteckte Ziel mit O’Leary und seinen Kerlen am besten erreichte. Diese Burschen mußte man bei Laune halten, solange sie von Nutzen waren.

Kurz entschlossen ließ Stewart die ganze Meute von O’Leary zusammenrufen, und dann führte er sie hinüber zur großen Lichtung.

„Herhören!“ rief er. „Mister O’Leary und die Crew Sir John Killigrews gehören ab sofort zu uns. Ihre Gefangenschaft auf der ‚Orion‘ war unrechtmäßig, denn sie trifft in keiner Beziehung ein Verschulden. Sie haben lediglich Befehle ausgeführt.“

Die Crewmitglieder der „Dragon“ reagierten mit eisigem Schweigen. Nicht ein einziges Wort wechselten sie mit den Killigrew-Strolchen, die sich jetzt ganz in ihrer Nähe niederließen. Stewart übersah es nicht, doch es kratzte ihn herzlich wenig.

Wenn es darauf ankam, wußte er, auf wen er sich verlassen konnte und auf wen nicht. Alles andere war unwichtig, solange sie sich nicht gegenseitig die Schädel einschlugen. Und so etwas würden sie zur Zeit gewiß nicht anfangen, denn mit knurrendem Magen hatte man erfahrungsgemäß andere Gedanken im Kopf als unsinnige Keilereien.

3.

Sir Robert Monk hatte das Geschehen beobachtet und begann, gezielte Überlegungen anzustellen, was die Lage im allgemeinen und ihn persönlich betraf.

Sein Gesicht war verquollen. Er konnte die Schrammen und Platzwunden fühlen, aber er hatte längst aufgegeben, sie immer wieder zu betasten, wie das die anderen taten, die jammernd und wehklagend in seiner Nähe hockten.

Natürlich war den Decksleuten der Kragen geplatzt, als man an Bord der sinkenden „Dragon“ verlangt hatte, bevorzugt zur Insel übergesetzt zu werden. Da hatten diese strohköpfigen Narren eben ihre Fäuste gebraucht und sämtliche Gentlemen kurzerhand über Bord befördert.

Sir Robert hatte seine Schrammen und Beulen allerdings nicht jenem blasierten Verhalten zu verdanken, das die anderen sieben der Clique an den Tag gelegt hatten. Nach dem gescheiterten Enterunternehmen gegen die „Orion“ und während des anschließenden Angriffs des Zweideckers hatte er sich schwimmend den Weg zum rettenden Ufer freikämpfen müssen.

Seine inzwischen getrocknete Kleidung hatte er wieder angezogen. Besonders vor der Sonne mußte man die empfindliche Haut schützen. Darin unterschied sich Sir Robert nicht von den übrigen Gentlemen. Wo man gezwungen war, unbedeckte Haut der Außenluft preiszugeben, schützte man sie tunlichst mit einer Schicht Puder.

Bedauerlicherweise waren nun aber mit der „Dragon“ auch alle persönlichen Sachen der Gentlemen untergegangen, so auch die Vorräte an Puder, die man aus England mit auf die Reise genommen hatte.

Harte Zeiten standen bevor. Ungeschützt würde man widrigen Witterungseinflüssen ausgesetzt sein. Eine Tatsache, die üble Launen hervorrufen würde, unter denen dann wiederum die mehrköpfige Dienerschaft der acht Gentlemen zu leiden hatte.

Keiner von ihnen zeigte allerdings auch nur das geringste Bedauern darüber, daß Sir Henry, Duke of Battingham, nicht mehr unter ihnen weilte. Vermißt wurde er von niemandem, und im Grunde konnte man der rätselhaften Korsarin nur dankbar sein, daß sie diesen Schwachkopf mit seinem ewigen Gekreisch fortgeschafft hatte.

Als Führer des Verbandes, wie ihm das in seinen krankhaften Hirngespinsten vorschwebte, hatte Sir Henry nie eine Rolle gespielt. Denn die Qualitäten dafür fehlten ihm. Wenn man ihn hatte faseln lassen und zum Teil auf seine idiotischen Anweisungen eingegangen war, dann eben nur deshalb, weil er das Karibik-Unternehmen finanziert hatte.

Insofern war er für den verblichenen Sir Andrew und die übrigen Gentlemen nichts weiter als ein Mittel zum Zweck gewesen. Niemand hatte Grund, ihm eine Träne nachzuweinen. Seine Person war in höchstem Maße überflüssig geworden. Überdies war sich in der augenblicklichen desolaten Situation ohnehin jeder selbst der Nächste.

Sir Robert Monk war keineswegs entgangen, wie Charles Stewart begonnen hatte, seine Pläne für die weiteren Schritte in die rechten Bahnen zu leiten. Äußerst clever war es gewesen, die beiden Goldkisten Sir Henrys zu vereinnahmen. Neidlos mußte Sir Robert anerkennen, daß er sich nicht geschickter hätte verhalten können.

Die Crew der „Dragon“ verfügte nur noch über drei Jollen, und eine davon betrachtete Stewart sozusagen als seinen Privatbesitz. Ebenso hatte Sir Robert bemerkt, daß Stewart den hirnlosen Doherty auf seine Seite gezogen hatte und ihn nun als Leibwächter betrachtete.

Es bestand durchaus die Möglichkeit, daß dieser Stewart in noch größerem Ausmaß Gerissenheit bewies und die Gunst der Stunde zu nutzen verstand – was bedeuten konnte, daß außer ihm und der Killigrew-Meute alle anderen das Nachsehen hatten.

Sir Robert war indessen nicht der Typ, der sich gern in eine aussichtslose Position manövrieren ließ. Meist geschah so etwas aufgrund eigener Untätigkeit. Sir Robert kannte sich selbst schließlich gut genug, und so wußte er auch, worin er sich von der adligen Nichtstuer-Clique unterschied.

Als einziger war er bereit und in der Lage, Belastungen zu ertragen oder sogar bewußt in Kauf zu nehmen, wenn sie durch das angestrebte Ziel gerechtfertigt wurden. Die übrigen Gentlemen konnten sich gerade dazu aufraffen, beim Essen das Besteck zum Mund zu führen. Manchmal fragte sich Sir Robert ernsthaft, warum sie sich nicht auch noch von ihren Dienern füttern ließen.

Er war indessen stolz darauf, daß man ihm den Charakter eines eiskalten Rechners nachsagte. Wobei jene, die ihn kannten, natürlich auch nicht übersahen, daß ein gehöriger Schuß Abenteuerblut in seinen Adern floß.

Zur letzteren Eigenschaft gehörte auch seine Neigung zum Falschspiel. Mit den präparierten Würfeln hatte er Sir Henry während der Fahrt über den Atlantik gehörig geschröpft, und als der Dummkopf ihn schließlich zum Duell gefordert hatte, war es nur aus alkoholseliger Großmäuligkeit geschehen.

Erst einmal wieder nüchtern, hatte Sir Henry natürlich aus Unpäßlichkeit nicht an dem Duell teilnehmen können. Bedauerlicherweise war die Schiffsbesatzung dadurch auch um ein Schauspiel gebracht worden, das Sir Robert ihr gern geboten hätte.

Sir Robert Monk hatte bislang mit keinem darüber gesprochen, warum er sich dem Karibik-Unternehmen angeschlossen hatte. Sein Ziel war von Anfang an gewesen, mit einer fetten Beute nach England zurückzukehren. So hatte er zwar vorgegeben, an der Jagd auf Philip Hasard Killigrew ebenfalls interessiert zu sein. Doch in Wahrheit ging es ihm nur um dessen legendäre Schätze. Was sich davon abzweigen ließ, mußte man auf die elegante Art und Weise zum persönlichen Vorteil auf die Seite schaffen.

Wenn es dann gewissermaßen außer der Reihe noch so eine famose Gelegenheit gab wie die Galeone „Santa Cruz“, dann konnte man gar nicht anders handeln als Sir John Killigrew, der sich mit der Goldladung im Bauch der „Lady Anne“ schleunigst abgesetzt hatte.

Allerdings hatte der alte Killigrew den Fehler begangen, nicht sofort nach England zurückzusegeln. Solche Fehler entstanden eben oft dann, wenn man sich zu sehr dem Alkohol hingab. Sir Robert wußte von sich selbst, daß er stets nüchtern zu denken pflegte – und das in jeder Beziehung.

Auch in der augenblicklichen Situation verschwendete er seine Gedanken weniger auf die Frage, wie man es am besten anstellte, am Leben zu bleiben. Viel wichtiger erschien ihm, über die „Lady Anne“ und ihre Ladung nachzudenken. So wartete er geduldig ab, bis sich eine erste Gelegenheit ergab, Sondierungsgespräche zu führen. Dies war der Fall, als Charles Stewart die träge Runde auf der Lichtung verließ, um noch einmal nach seinen Goldkisten zu sehen.

Sir Robert erhob sich und tat, als recke er sich voller Behagen. Scheinbar planlos stelzte er ein paar Schritte hin und her und erweiterte schließlich seinen Bewegungsbereich, bis er wie zufällig in die Nähe von O’Leary schlenderte.

Sir Robert blieb stutzend stehen, als erinnere er sich unvermittelt an den Mann.

„Begleiten Sie mich ein Stück?“ sagte er höflich. „Ich möchte mir ein bißchen die Beine vertreten, aber nicht schutzlos der Wildnis preisgegeben sein.“

„Warum nehmen Sie nicht Ihren Diener mit?“ entgegnete O’Leary grinsend, und die anderen lachten rauh.

Sir Robert ließ sich nicht aus der Fassung bringen.

„Ein Diener als Leibwächter?“ entgegnete er und lächelte dabei. Zufrieden bemerkte er, daß seine Worte den Stolz der rauhbeinigen Kerle wachkitzelten. Natürlich fühlten sie sich geschmeichelt, wenn man zu erkennen gab, daß man ihre besonderen – und wahrscheinlich einzigen – Fähigkeiten zu schätzen wußte. Das galt auch für O’Leary. „Also gut“, sagte er brummend. „Kann nicht schaden, sich ein bißchen zu bewegen – noch dazu in so erlauchter Gesellschaft.“ Er blickte beifallheischend in die Runde, und prompt lachte die Killigrew-Meute denn auch wiehernd los.

Wenig später erreichten sie die Nebenlichtung, und O’Leary blieb stehen.

„Sie haben doch etwas im Sinn“, sagte er rundheraus. „Daß Sie eine so ängstliche Natur sind, können Sie mir nicht erzählen, Sir Robert.“

„Danke für das Kompliment.“ Monk lächelte wieder und deutete eine Verbeugung an. „Sie haben es erfaßt, Mister, O’Leary. Mir geht es um ein Gespräch unter vier Augen.“

Der Bootsmann zog die Schultern hoch.

„Wüßte nicht, was ich Ihnen zu erzählen hätte.“

„Wir müssen an unsere Zukunft denken, Mister O’Leary. Jeder von uns hat sicher andere persönliche Interessen. Im Augenblick aber sitzen wir alle in einem Boot.“

„Hoffentlich tun wir’s bald“, sagte O’Leary knurrend, „damit wir bald weg sind von dieser verdammten Insel.“

„Nur, um auf eine andere Insel zu gelangen?“ Sir Robert schüttelte den Kopf. „Nein, damit können wir uns nicht begnügen. Mit der Zukunft meine ich auch das, was uns erwartet, wenn wir nach Hause zurückkehren. Was wollen Sie denn Ihren Freunden erzählen, Mister O’Leary, wenn die sagen: ‚Was? Du warst in der Neuen Welt, wo man Gold und Silber fast von den Bäumen pflücken kann, und du kehrst mit leeren Händen zurück? Wahrscheinlich warst du gar nicht da. Bestimmt flunkerst du uns was vor.‘ Habe ich recht? Mit solchen Fragen müssen Sie rechnen, Mister O’Leary.“

Der Bootsmann blickte sein Gegenüber betroffen an. Daß Sir Robert nichts anderes bezweckte, als seine schlummernde Gier ans Tageslicht zu holen, ging ihm nicht auf. Denn der Falschspieler traf genau den richtigen Ton. O’Leary konnte sich regelrecht bildlich vorstellen, wie er den Kerlen in der Schenke gegenübersaß und sie sich über ihn amüsierten. Verdammt, ja, es würde schon ein großer Mist sein, mit nichts als leeren Händen aus der Karibik heimzukehren.

„Stimmt haargenau.“ Er senkte den Kopf. „Aber im Moment geht’s doch wohl ums Überleben, Sir Robert. Wie stellen Sie sich das vor mit dem Mammon? Soll ich mit bloßen Händen eine spanische Galeone angreifen? Oder“, ein Lauern trat in seine Augen, „erwarten Sie etwa, daß ich diesem Stewart die beiden Goldkisten abnehme?“

Sir Robert Monk winkte entrüstet ab. So etwas hatte er nun wiederum nicht bezweckt.

„Nicht doch, Mister O’Leary. Die beiden Kisten hat sich Mister Stewart sehr redlich angeeignet. Seien sie ihm also gegönnt. Außerdem ist es doch nichts gegen das, was man wirklich an Land ziehen könnte. Ich denke da ganz besonders an die Ladung der ‚Lady Anne‘.“

Der Bootsmann riß die Augen weit auf.

„Die ist futsch, Sir Robert. Da ist nichts mehr zu machen.“

„Das würde ich nicht unbedingt sagen. Wenn ich einen Weg finden würde, um die ‚Lady Anne‘ doch noch zu erwischen – würden Sie mich unterstützen?“

„Darauf können Sie Gift nehmen“, erwiderte O’Leary begeistert.

„Na fein. Dann tun Sie mir einen Gefallen und schildern Sie mir genau, was sich ereignet hat, als Sie diesen englischen Piraten und dem schwarzhaarigen Teufelsweib in die Hände fielen.“

O’Leary nickte grimmig. In der Erinnerung an das Geschehen trat ein seltsames Leuchten in seine Augen.

„Das ist vielleicht ein Weib“, sagte er heiser. „Mann, die würde ich mir gern noch mal genauer ansehen und …“ Er hielt inne und schüttelte den Kopf, als sei ihm bewußt geworden, daß der kumpelhafte Ton unpassend war. „Verzeihung, Sir. Sollte sich nicht so anhören, als ob ich Sie für meinesgleichen halte.“

Sir Robert winkte gönnerhaft ab.

„Schon gut, Mister O’Leary. Wenn wir unter uns sind, brauchen Sie kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Also fangen Sie an. Die ganze Crew der ‚Lady Anne‘ stand wohl ziemlich unter Alkohol, wenn ich richtig gehört habe.“

„Kann man wohl sagen“, erwiderte O’Leary und grinste. Dann begann er zu berichten, wie man vor Anker gegangen wäre in der Hoffnung, „nackte Indianerweiber“ aufzustöbern. Das nackte Weib, das man dann prompt in einer Lagune entdeckt hätte, wäre natürlich keine Indianerin, sondern die verdammte Piratin gewesen. Und wenn man nicht zu tief in die Humpen geschaut hätte, wäre man in eine solche Falle natürlich nicht getappt. Aber so hatte das Verhängnis seinen Lauf genommen, und die gesamte Mannschaft einschließlich Sir John Killigrew wäre von dem Seewolf und der Korsarin gefangengenommen worden.

Umständlich begann O’Leary zu beschreiben, was zu dem Duell zwischen Sir Andrew und Philip Hasard Killigrew geführt und dann ein so verrücktes Ende genommen hatte.

Sir Robert winkte jedoch ab.

„Diese Einzelheiten sind für uns nicht so wichtig. Viel wichtiger ist etwas anderes: In welche Richtung haben sich die Piraten gewandt, von denen die ‚Lady Anne‘ übernommen wurde?“

O’Leary zögerte. Er begriff sehr wohl, daß dies der springende Punkt war. Was, wenn man diesem aalglatten Sir nun doch nicht trauen konnte? Wenn er doch mit seiner Clique unter einer Decke steckte und auch in diesem Fall ein falsches Spiel im Sinn hatte?

Sir Robert spürte, welche Bedenken dem Bootsmann durch den Kopf gingen.

„Wir müssen uns gegenseitig klaren Wein einschenken“, sagte er daher. „Ich kann verstehen, daß Sie daran nicht so recht glauben wollen, Mister O’Leary. Deshalb erkläre ich es ganz deutlich: Wir sollten gemeinsam versuchen, die ‚Lady Anne‘ aufzuspüren und die Goldbeute zurückzuerobern. Natürlich werden wir das Gold nicht der Krone übereignen, sondern unter uns aufteilen. Genauso, wie das Sir John vorgehabt hat.“

O’Leary begann zu grinsen. Eben dies war genau nach seinem Geschmack.

„Wenn das so ist“, sagte er gedehnt, „sind wir uns natürlich einig, Sir Robert. Also, ich habe leider nur gesehen, wie die ‚Lady Anne‘ mit einem Teil von diesen Halunken losgesegelt ist.“ Umständlich begann er zu beschreiben, wie die Karavelle nach Südosten gesegelt sei und damit einen Kurs entlang der Atlantikseite der Bahama-Inseln aufgenommen habe. O’Leary hatte indessen nur eine ungefähre Vorstellung von den Bahamas. Das Kartenmaterial, über das Sir John Killigrew verfügt hatte, war alles andere als das Beste gewesen, was es derzeit für Navigationszwecke in der Karibik gab.

„Ihr Bericht gibt Anlaß zur Hoffnung“, sagte Sir Robert im Tonfall eines Schulmeisters, der einen besonders willigen Zögling lobt. „Ich kann also davon ausgehen, daß Sie und Ihre Crew mit von der Partie wären, wenn wir die erforderliche Ausrüstung zusammenhaben?“

„Klar doch“, sagte O’Leary großspurig. „Wir sind alle dabei. Das Wichtigste, was wir brauchen, wären wohl Waffen, denke ich.“

„Womit Sie den Nagel auf den Kopf getroffen haben“, erwiderte Sir Robert. „Ich möchte Sie allerdings bitten, über unser Gespräch vorerst Stillschweigen zu bewahren. Wir müssen Unruhe vermeiden. Denken Sie an die Crew der ‚Dragon‘.“

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0+
Umfang:
1872 S. 21 Illustrationen
ISBN:
9783954397815
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Rechteinhaber:
Bookwire
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