Buch lesen: «Deine Zeit läuft ab», Seite 3

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Lenny atmete gehetzt, deshalb wartete Palmer, bis er wieder zur Ruhe gekommen war.

»Wie genau hat denn Susas Plan ausgesehen?«

»Letztes Jahr sind die Klatschspalten voll gewesen von Diethelms High-Society-Party, deshalb hat sich Susa rechtzeitig beim Hotel als Bedienung für die diesjährige Veranstaltung beworben. Ihre Idee war, unerwartet vor ihm aufzutauchen, um an ihn ranzukommen. Sie wollte endlich mal mit ihm sprechen, ihm, wenn nötig, eine Szene machen.«

»Ihn um Geld anflehen. Ja, so viel habe ich verstanden. Aber angenommen, es hätte geklappt: Wie könnte sein Geld dir ein neues Herz verschaffen?«

Lenny hob kapitulierend die Hände und schwieg, während es Palmer langsam dämmerte.

»Moment. Dich mit Geld an die Spitze der Empfängerliste zu rücken, bedeutet, jemanden zu bestechen. Ihr habt sie doch wohl nicht alle.« Sie wedelte mit ihrer Hand so heftig, dass die durch die Sonne sichtbaren Staubpartikel in der Luft tanzten. »Verdammt.« Sie presste die Lippen aufeinander und fühlte, wie ihre Wangen vor Wut heiß wurden. »Seid ihr kriminell oder was? Jemanden zu schmieren, ist alles andere als in Ordnung. Zudem schnappt ihr einem anderen Patienten das Herz vor der Nase weg. Was, wenn dieser deswegen stirbt? Und ich soll euch helfen? Da würde ich mich ewig schuldig fühlen.«

»So ist das nicht.« Lenny blickte Palmer eindringlich an. »Klar beabsichtigen wir nicht den Tod eines Kranken. Wärst du selber betroffen, kämen dir vielleicht noch ganz andere Gedanken. In meiner Situation kann vielleicht nur noch Geld etwas bewirken.« Mittlerweile klang er ziemlich gereizt. »Es herrscht ein riesiger Mangel an legal erhältlichen Organen. Viele auf der Warteliste sterben, bevor man ein passendes Organ findet.«

Palmer legte den Kopf in den Nacken und blickte Lenny über den Nasenrücken hinweg an. »Quatsch, das funktioniert nie. Die Empfängerliste wird international geführt, ein riesiger Apparat. Kein Geld der Welt würde reichen, um all die Leute an den Schalthebeln in ganz Europa zu bestechen. Abgesehen davon kann ich mir nicht vorstellen, dass sich auch tatsächlich jeder Einzelne schmieren lässt. Zumal ihr sicher nicht die Ersten seid, die das versuchen.« Palmer entfernte einen Fussel von ihrer Hose und blickte nach unten. »Schlagt euch meine Hilfe aus dem Kopf. Ich bin ein Fan von Fair Play. In jeder Hinsicht.«

Diese Worte schienen Hannah aufzuscheuchen, denn sie wandte sich jetzt Palmer zu. In ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, für den Palmer keine beschreibenden Worte parat hatte. »Ein Todkranker hat nichts mehr zu verlieren. Verständlicherweise ist ihm dann fast jedes Mittel recht. Deshalb hat sich ein weltweiter Schwarzmarkt entwickelt. Reiche Menschen kaufen sich Organe in Entwicklungs- und Schwellenländern. In China kriegst du ein Alles-inklusive-Paket für das Organ eines Verkehrstoten, dessen Verpflanzung inbegriffen, für eine Viertel Million. Falls du das Geld aufbringst. Klar, illegal ist es hier wie dort. Die wissen schon, weshalb. Wie kann ein Krankenhaus die Operation sauber planen und den Empfänger auf Termin hin einfliegen, wenn man im Voraus noch gar nicht weiß, ob dann tatsächlich ein Verkehrstoter mit exakt passendem Herzen auf dem Schragen liegt. Welch ein Zufall. Vergiss nicht, es bleiben nur vier Stunden von Feststellen des Hirntods bis zur Verpflanzung.«

»Susas Idee mit Bestechung ist da viel humaner. Kein Mensch wird auf Bestellung von der Straße geraubt und ausgeweidet.« Lenny zuckte kläglich die Schultern, verfiel dann aber in Schweigen.

»Palmer, wie kannst du nur annehmen, wir wollten mit solchen Machenschaften etwas zu tun haben?« Hannah blickte Palmer ernst in die Augen. »Susas Plan war ein anderer.« Sie setzte sich zu Lenny aufs Bett.

»Viel Zeit bleibt dir nicht, und ich marschiere hier raus.«

»Auf der Spenderseite läuft dies wie folgt: Zwei erfahrene Ärzte stellen unabhängig voneinander den Hirntod des Patienten fest. Also null Aktivität messbar in Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm. Ein totaler, nicht behebbarer Ausfall. Bei unverletztem Hirnstamm kommt es vor, dass das Herz noch schlägt, beispielsweise nach einem Unfall mit zerstörtem Hirn. Ein Hirnschlag oder eine Hirnblutung mit tödlichem Verlauf kämen auch infrage.«

Palmer rollte den Stuhl vom Arbeitstisch zu Lennys Bett, setzte sich, verschränkte die Arme und lauschte mit zusammengepressten Lippen Hannahs Worten.

»Mit künstlicher Beatmung wird der Kreislauf in Schwung gehalten, damit das Organ keinen Schaden nimmt. Im Weiteren ist die vorausgehende Einwilligung des Toten zur Organspende notwendig. Oder jene der nächsten Angehörigen. Als Susa und Lenny dies im Internet recherchiert haben, ist ihre Zuversicht auf null gesunken. Ihnen war klar, diese strikten Regeln würden sie von außen kaum brechen können.«

»Was jetzt? Wo käme Diethelms Geld ins Spiel?« Palmer zog die Luft tief ein und erkannte, dass Lenny den Augenkontakt mied. »Ich will alles wissen.«

»Jetzt kommt’s. Wir haben im Internet einen anderen Weg gefunden, auf der Empfängerseite. Ein Fall in Deutschland hat Aufsehen erregt. Die Ärztekammer hat sich damals rausgewunden mit dem Hinweis, keinem der Ärzte sei es ums Geld gegangen, und niemand habe sich bereichern wollen. Das Wettbewerbsdenken unter den Kliniken, das Streben nach Ruhm und Ehre habe zum ganzen Schlamassel geführt. Offenbar gilt die Transplantationsmedizin innerhalb der Ärzteschaft als Königsdisziplin.«

»Mach vorwärts.« Palmer schnaubte und wartete ohne geringste Spur eines Lächelns auf ihren Lippen.

Lenny suchte Palmers Blick, und die traurigen Augen des Jungen berührten etwas in ihr.

»Mein Leben hat bereits mehrmals am seidenen Faden gehangen. Ich war auf der Intensivstation der höchsten Dringlichkeit zugeordnet. Aber kaum ist es mir dann etwas besser gegangen, haben sie mich nach Hause geschickt. Schön und gut. Nur falle ich hiermit zurück in die einfache Dringlichkeit, sodass ein verfügbares Herz meiner Blutgruppe jemand anderem eingepflanzt wird. Aber: Es gibt da gewisse Medikamente. Verabreicht durch einen Arzt täuschen sie Analysewerte vor, die eine höchste Dringlichkeit ausweisen. Dies hat eine sofortige Aufnahme auf der Intensivstation zur Folge. Es geht noch einfacher. Der Arzt schreibt den Patienten sogar ohne Medikament bloß auf dem Analysepapier kränker, als er ist. Auch so rutscht er auf der Empfängerliste nach oben, ohne tatsächlich aus dem letzten Loch zu pfeifen. Alles nur vorgegaukelt. Auf diesem Weg brauchen wir bloß bei einem einzigen Arzt etwas nachzuhelfen.« Lenny rieb den Daumen am Zeigefinger und lächelte etwas hilflos. Gleichzeitig schien er in Palmers Gesicht nach einer anerkennenden Regung zu suchen. »Susas Plan war genau das. Mit Diethelms Geld.«

»Und ich soll euch nun bei diesem Bestechungsversuch helfen?« Angewidert stieß Palmer die Luft aus. »Hör zu, Hannah«, fauchte sie. »Eines stelle ich hier mal klar. Unter keinen Umständen lasse ich mich von dir in etwas Illegales reinziehen. Egal, wie rührselig eure Geschichte ist. Egal, wie unfair das Leben ist. Ich werde euch nicht helfen, Gott zu spielen.«

Hannah holte Atem, um zu antworten, aber Palmer gebot ihr mit erhobener Hand zu schweigen.

»Eben noch hast du behauptet, mich aus Interviews zu kennen. Dann wüsstest du auch, nicht nur bezüglich Gerechtigkeit, sondern auch bei der Einhaltung von Gesetzen gehe ich keine Kompromisse ein.« Es fiel Palmer schwer, nicht die Beherrschung zu verlieren.

»Nein, jetzt geht es nicht mehr um mein Herz, sondern um Susas Leben. Sie liegt im Krankenhaus und braucht deine Hilfe am allernötigsten. Hannah sagt, mein Vater will sie umbringen. Versprich mir, dass du sie beschützt. Einfach nur das. Tu nichts für mich, halte dich aus allem raus, aber beschütze meine Mutter.« Lenny atmete kurz und stoßweise.

Palmer schüttelte den Kopf mit fast geschlossenen Lidern. Aber ehe sie klipp und klar absagen konnte, kam ihr Hannah zuvor.

»Jetzt lass du uns nicht auch noch im Stich. Stell dir vor, Diethelm bringt Susa tatsächlich um und du hättest es verhindern können. Wie würdest du dich dann fühlen? Reiche Schweine können sich alles erlauben, und niemand unternimmt etwas dagegen. Nicht mal du.«

Palmer spürte ein dumpfes Pochen in der Brust. Hannah hatte ihre empfindliche Stelle getroffen. Palmer hatte schon immer Wert darauf gelegt, auf der richtigen Seite zu stehen. Konnte sie die Bitte abschlagen, einer Frau in Not zu helfen, wenn es niemand anderer tat? Würde sie nicht ihr eigener Ehrenkodex zur Hilfe verpflichten? Aber was, wenn das wieder bedeutete, in eine Straftat hineingezogen zu werden?

Bei diesem Auftrag ging es nicht darum, eine Straftat aufzuklären, sondern die Ermordung eines Menschen zu verhindern. Palmer kämpfte mit sich.

Schon mehr als einmal hatte sich Palmer gewünscht, sie hätte ein ganz durchschnittliches Pflichtgefühl, das sie einen völlig normalen Job ausüben ließ, um sich pünktlich um 17 Uhr in den Feierabend zu verabschieden. Auf einem kurzen Umweg ins Pub würde sie ein Bier heben, anschließend nach Hause schlendern und vor dem Fernseher die Füße hochlegen. Doch sie war aus anderem Holz geschnitzt. So funktionierte sie einfach nicht. Um eine Wahrheit an den Tag zu bringen, konnte sie sich völlig verbohrt in fremde Leben verbeißen. Etwas in ihr hielt es einfach nicht aus, jemanden in Not zu sehen.

Sollte sie Lenny und Hannah helfen? Palmer wog die Vorteile gegen die Nachteile ab. Falls sie den beiden half, mischte sie sich wieder in fremde Angelegenheiten ein. Das hatte sie bereits mehrmals beinahe das Leben gekostet. Aber sie hatte sich vorgenommen, sich auf nichts mehr einzulassen, das sie eigentlich nichts anging. Und sie hatte sich geschworen, ihr Leben nicht wieder aufs Spiel zu setzen. Beides hatte sie sogar Alex gelobt, ihrem Freund. Der würde sich das nicht bieten lassen, das wusste sie. Abgesehen davon hatte sie jetzt anderes zu tun. Sie musste dringend einen Job finden, wollte sie am Ende nicht auf fremde Hilfe angewiesen sein.

Sie stülpte die Unterlippe vor, klappte sie wieder ein und fasste einen Entschluss.

5

Es gab Gut, und es gab Böse. Palmer sah es als ihre Pflicht, als rechtschaffener Mensch dazu beizutragen, das Gute zu fördern und das Böse zu bekämpfen. Sie hatte sich gefragt, was für ein Mensch sie eigentlich war, dass sie einer Frau in Not ihre Hilfe verwehrte. Eine tiefe Entschlossenheit bemächtigte sich ihrer, da sie erkannt hatte, Lennys Bitte um Hilfe nachgeben zu müssen.

Du kannst rumsitzen und dich fragen, was in dieser Welt falsch läuft. Oder du kannst dich erheben und gegen Unmenschen kämpfen. Das Böse siegt, wenn die Guten gleichgültig zusehen.

Aber da war noch etwas, und Palmer konnte sich schmerzhaft in Lenny hineinfühlen. Auch sie hatte einen Vater, der sich zeitlebens keinen Deut um sie geschert hatte.

Also ließ sich Palmer Diethelms Adresse von Hannah aushändigen, und die drei tauschten ihre Handynummern aus.

»Ruf mich an, wenn dir etwas Wichtiges einfällt.«

»Alaska«, sagte Lenny.

Kaum hatte Palmer ihm durch ein Kopfnicken zu verstehen gegeben, sie habe sein »alles klar« verstanden, rang er wieder nach Luft und drückte sich die Maske ins Gesicht.

Palmer fühlte sich in dieser tragischen Situation völlig hilflos. Sie ertappte sich dabei, wie sie an seiner Stelle hastig ein- und ausatmete. Wie viel Zeit blieb Lenny noch? Niemand konnte das wissen. Aber seine Mutter sollte ihn noch zu sehen bekommen und nicht vorher von Diethelm beseitigt werden. Wenigstens das würde sie verhindern, wenn sie auch sonst nichts tun konnte.

Als sie am Nachmittag ihren Wagen Richtung Meggen lenkte, ließ sie sich den Fahrtwind bei offenen Fenstern über die Arme streichen und war dankbar für diese Brise, die vom See her wehte, denn eine Klimaanlage in dieser Karre würde wohl ein Wunschtraum bleiben. Persönlich hatte sie Sicherheitsgurte für ein Zeichen von Feigheit gehalten bis zum Zeitpunkt, als sie Alex kennenlernte. Seither überwand sie ihre Abneigung und legte sie um, auch wenn diese alten Dinger kaum passten.

Beim Museum Verkehrshaus gewährte sie einem schnittigen Elektrofahrzeug den Vortritt und staunte, wie leise diese modernen Autos rollten, im Gegensatz zu ihrem alten Datsun Pickup, klapprig, mit durchhängenden Federn, gebaut zu Zeiten, als Umweltschützer noch zum Stromsparen aufriefen. Während sich ihr Wagen die Kreuzbuchstraße hochkämpfte, begann der Motor zu stottern. Schweiß trat auf Palmers Stirn, sogleich sprach sie sich Mut zu. Diese Kiste hatte bereits mehrere Jahrzehnte durchgehalten, bevor ihre Mutter ihn gebraucht gekauft hatte, weshalb sollte er ausgerechnet jetzt schlapp machen? Kurz vor Meggen fuhr Palmer in die Haltebucht eines Busses und kramte ihr Handy hervor, um sich übers Internet einen Eindruck von Diethelm zu verschaffen, war aber enttäuscht, wie wenig sie über ihn fand. Dass er mit Luxusuhren handelte, hatte sie schon gewusst, über ihn als Privatperson war gar nichts herauszubekommen.

Von der Kreuzbuchstraße bog sie zu den top modernen Villen ein, entlang der Schwerzihöhe. Vor Diethelms Doppelgarage war noch Platz für einen zweiten Wagen, da nur ein Range Rover davorstand, auf dessen glanzpolierter Karosserie sich die Sonne spiegelte. In dieser Umgebung, wo sonst nur nagelneue Porsches und Jaguars vor den Garagen parkten, nahm sich ihre alte Karre eigenartig aus.

Als sie mit zwei Rädern auf dem Gehsteig stehend den Motor ausdrehte, lobte sie ihren Datsun und bedankte sich bei ihm. Sonst tat sie dies nur nach längeren Autofahrten. Die Federn ächzten, als sie ausstieg. »Hast du toll geschafft.« Sanft klopfte sie ihm aufs Dach.

Zum Schutz vor der Sonne hielt sie sich die Hand über die Augen und genoss zwischen Diethelms Anwesen und der noblen Behausung seines Nachbarn hindurch das Alpenpanorama, welches sich mit seinen weiß überzuckerten Bergspitzen gleich hinter dem Vierwaldstättersee erhob. Sie hatte sich nie darüber gewundert, weshalb so viele der reichsten Schweizer an dieser Südlage vor den Toren Luzerns wohnten. Eine topmoderne Villa grenzte an die nächste, jede um Individualität ringend, glichen sie sich im Endeffekt trotzdem. Stahl, Beton und Glas herrschten vor, und Palmer erriet, dass nicht nur beim Bau, sondern bereits bei der Planung ein Vermögen draufgegangen war. Irgendwie mussten halt die Millionäre zeigen, dass sie im Überfluss lebten. Palmer kannte den einen oder anderen, allerdings war ihr noch nie aufgefallen, dass sie glücklicher aussahen als die weniger Begüterten. Gekaufte Dinge füllten offensichtlich keine Löcher in der Seele.

Sie überlegte, wie sie Diethelm dazu bewegen sollte, überhaupt mit ihr zu sprechen, denn er hatte keinen Grund, ihr auch nur eine Sekunde zu widmen. Sie hatte ihre Ankunft telefonisch nicht angemeldet, denn er hätte nur auflegen müssen.

Von Hannah wusste Palmer, dass er nicht verheiratet, aber zweimal geschieden war. Mit etwas Glück würde Diethelm ihr persönlich öffnen, falls sich ein Geschäftsmann wie er tagsüber zu Hause aufhielt. Aber möglich war es immerhin. Diese eine Chance wollte sie beim Schopf packen und mit ihm reden, bevor er ihr die Tür vor der Nase zuschlug. Aber noch wusste sie nicht, wie sie ihn in ein Gespräch verwickeln sollte, um herauszubekommen, was genau er mit Susa im Schilde führte. Genau genommen zweifelte sie sogar daran, in dieser Geschichte überhaupt etwas herauszukriegen.

Sie sprach sich Mut zu. Immerhin hatte sie früher die Erfahrung gemacht, dass reiche Pinkel sich oftmals nicht für andere interessierten, sondern lieber von sich und ihren eigenen Leistungen erzählten. Darauf setzte sie, hier würde sie einhaken.

Nun witterte sie den Duft des Sommers, der von der Wiese unterhalb von Diethelms Quartier sachte heraufwehte. Sie spitzte die Ohren und lächelte, als sie das gezirpte Lied eines Buchfinks erkannte, allerdings gefolgt von dessen Alarmruf. Kurz darauf hörte sie den kleinen Vogel nicht mehr.

Unterhalb der Wiese streiften ihre Blicke die moderne Kirche von Meggen mit dem frei stehenden Glockenturm und dem beeindruckenden geometrisch strengen weißen Kubus. Die gesamte Kirche kam ohne ein einziges Fenster aus. Was von außen kühl wirkte, barg im Inneren ungeahnte Werte. Tageslicht schimmerte durch die Wände aus Marmor hindurch und erhellte den Raum. Die Stärke des Außenlichts schuf unterschiedliche Farbeindrücke.

Ohne ihre Körperhaltung zu verändern, richtete Palmer die Augen auf den Boden, denn sie erinnerte sich an das traurige Lichtspektakel in diesem Sakralbau während der Abdankungsfeier von Niki, der Sängerin in ihrer früheren Rockband. Ihre Miene verdunkelte sich, die Tränen hielt sie jedoch zurück. Am damaligen düsteren Tag hatte sich mitten in der Feier die Sonne durch die Wolken gekämpft und die Wände und den gesamten Innenraum der Kirche von einem Ockergelb in ein strahlendes Orange verwandelt. Damit wurde eine unvergessliche emotionale Wärme geschaffen und der Trauergemeinde etwas Trost geschenkt. Ein magischer Moment, der Palmer geholfen hatte, Linderung ihrer Trauer zu finden. Palmer war nicht gerade ein Mensch, der Trost in Bibelworten fand. Da waren zu viele Dinge, die sie nicht verstand und die ihr das Leben eher erschwerten. Beispielsweise hatte die Bibel sie gelehrt, die andere Wange hinzuhalten. Nur, Auge um Auge hatte sie dort halt ebenfalls gelesen.

Sie schüttelte sich die tristen Gedanken aus dem Kopf und wollte das Treffen mit Diethelm hinter sich bringen. Auf dessen Vorplatz schritt sie an einem knuffigen Schäfchen aus dunkler Bronze vorbei und erkannte an den verschiedenen golden schimmernden Stellen an dessen Kopf, dass wohl kein Kind dieses Schäfchen passierte, ohne dessen Ohren zu kraulen.

Während sie tief durchatmete, um zur inneren Ruhe zu kommen, wunderte sie sich über den hohen weißen Mast, an dem ganz zuoberst die Schweizer Flagge sachte im lauen Lüftchen wehte. Auch brach sich das Sonnenlicht im feinen Sprühnebel von Nachbars Rasensprenger und schuf einen winzigen Regenbogen.

Palmer schritt zwischen peinlich genau geharkten Kiesfeldern mit je einem kleinen Felsbrocken darin hindurch und dem einen oder anderen Bonsai außen herum. Bereits im Garten zeigte Diethelm, was er hatte. An der Tür drückte sie ihren Finger auf den Touchscreen und war sich sicher, dort drin versteckte sich auch eine Überwachungskamera. Im Innern erklang eine Melodie, und sie wartete. Nach einer halben Minute läutete sie noch einmal. Sie hatte sich fest vorgenommen, sachte ins Gespräch zu starten, was ihr aber nicht leichtfiel angesichts eines Millionärs, der auf seine Vaterpflichten pfiff und möglicherweise sogar seiner ehemaligen Freundin nach dem Leben trachtete.

Endlich klickte das Schloss, und in der geöffneten Tür kam ein Gesicht zum Vorschein. Die Dame war Mitte 20, vielleicht fünf Zentimeter größer als Palmer, drückte sich ein Handy ans Ohr und betrachtete Palmer mit dem Blick einer Frau, die mögliche Konkurrenz gesichtet hatte. Ihr Telefonat unterbrach sie nicht, sondern fragte nur nebenbei, was Palmer wolle. In ihrem Blick erkannte Palmer nicht mal die Andeutung eines Lächelns.

Schmal gezupfte Brauen wölbten sich über grünen Augen. Oder waren sie grau? Vielleicht kam es wie beim Ozean auf die Stimmung an. Ihr Mund unter der markant geschnittenen Nase war kunstvoll nachgezogen. Das ganze Gesicht hatte sie cremig geglättet und geschminkt ganz im Stil der Kardashians. Sie trug eine bronzefarbene Bluse, die den Ansatz ihres Busens erkennen ließ, aber nicht allzu viel davon. Ein goldenes Kettchen zierte ihr Dekolleté, nichts Aufdringliches, aber definitiv teuer. Sie war gut gebaut, aber etwas üppiger, als die aktuelle Mode vorschrieb, und sie trug teure Jeans, die an ihren Fußknöcheln zwei kleine Tattoos zur Hälfte verdeckten. Ihre nackten Füße hatte sie in goldglänzende High Heels gezwängt, mit so hohen Absätzen, dass sie gerade nicht mehr als bequem durchgingen. Auf jeden Fall sah sie toll aus. Allerdings hatte sie etwas zu viel von einem vermutlich teuren Parfüm aufgetragen, das Palmer nicht kannte.

Die Frau nickte mit ihrem Kinn in Palmers Richtung, am Ohr noch immer das Handy, das sie an einer Kordel um den Hals trug, so wie Leute von Welt dies seit Neuestem taten, wobei nicht immer klar war, wer hier wen an der Leine führte.

»Ich bin eine Freundin von Lenny und Sus…«

»Was wollen Sie?«

Als führe eine Messerklinge durch sie hindurch erstarrte sie in der Bewegung ihres Arms zu ihrer Hüfte, als Palmer die Namen erwähnte.

»Ich habe eine Frage an Lennys Vater.«

»Was gibt’s da zu bereden?«

»Besser, ich bespreche das mit Herrn Diethelm persönlich.« Die Frau schwieg und überlegte, während sie Palmer mit einem angewiderten Gesichtsausdruck bedachte, der ihr jegliche Schönheit aus dem Gesicht wischte.

»Wen muss ich melden?«

»Darf ich reinkommen?«

Sie verdrehte die Augen, zögerte und erlaubte Palmer schließlich mit einer Bewegung des gestreckten Arms einzutreten. Auf dem kurzen Weg ins Wohnzimmer schaffte sie es, ihre honigblonden Locken, die ihr bis über die Schultern fielen, zweimal nach hinten zu werfen. Der unverputzte Sichtbeton der Hausfassade setzte sich im Inneren fort, und Palmer schien es, als würden die nackten Betonwände ihre Schritte als Echo zu ihnen zurückwerfen. Wie ein Mannequin schritt sie vor Palmer her, wobei sie einen Fuß direkt vor den anderen setzte und ihr Becken hin und her wiegen ließ, während ihr linker Arm in kurzem Bogen an ihrer Seite schwang. Mit der Rechten drückte sie ihr schwarzes iPhone knapp unterhalb der Brust an den Körper. Schließlich gab sie mit der flachen Hand Palmer zu verstehen, hier zu warten.

»Thomas, kommst du mal?« Das Gewicht auf einem Bein, die Hand an der Hüfte, blickte sie über die Schulter zurück, ganz wie es all die Models in den Zeitschriften vormachten. Gleichzeitig sprach sie gedämpfte Worte in ihr Smartphone.

Palmer überlegte, wie sie sich selber zu einem halbwegs überzeugenden Lächeln überlisten konnte, mit Bedacht auf den niederträchtigen Schweinehund, auf den sie gleich treffen würde. Sie blickte in den Salon, und es verschlug ihr beinah die Sprache. Mit der unverbaubaren Sicht auf See und Berge hätte man in diesem Raum Tennis spielen können. Nicht die obligatorische Sofalandschaft, sondern der riesige Kamin mit den drei Sesseln davor ließ Palmer vor Neid erblassen. Allerdings verstand sie, als sie sich umblickte, dass die Bewohner dieser Residenz es erfolgreich schafften, mit einem Perserteppich, einem aufgeklappten Globus im Antiklook, bestückt mit verschiedenen edlen Destillaten, Bauernschrank und Biedermeier-Sitzgruppe den ganz besonderen Charme dieses stylisch modernen Bauwerks zu neutralisieren. Und dann erst diese komplette Eisenrüstung, ganz als stünde ein mittelalterlicher Ritter unter gekreuzten Schwertern stramm Wache vor dem Durchgang ins Wohnzimmer. In dieser riesigen Eingangshalle fühlte sich Palmer belästigt durch den konzentrierten Geruch einer Duftkerze, wo doch bei offenem Fenster die Sommerwiese so wunderbar geduftet hätte.

Aus dem Arbeitszimmer von der anderen Seite des Salons schritt ihr ein lächelnder End-50er in Designeroutfit entgegen. Sein weißes Hemd hatte er sich tadellos in die schwarze Hose gestopft, ein Ledergürtel hielt es an Ort und Stelle. Die üblichen Gewichtsprobleme der meisten Männer in seinem Alter kannte er wohl nicht.

Vielleicht hält er sich in einem Studio fit, dachte Palmer. Im Gehen zog er sich sein Jackett an, rückte die Krawatte zurecht und breitete seine Arme aus, als er ihr entgegenschritt.

Was für Menschen binden sich sogar zu Hause eine Krawatte um?, dachte Palmer. Vom Hals baumelte an einem Goldkettchen die Lesebrille, am linken Handgelenk guckte, halb verdeckt vom Ärmel, eine Golduhr hervor, jedoch keine Rolex. Palmer wusste, Leute mit wirklich viel Kohle verschwendeten diese nicht an eine Rolex. Zwar eine absolute Topmarke, aber zu viele Billigkopien prangten an den Handgelenken von Leuten, die sich nie im Leben eine echte leisten konnten. Palmer hätte ihn eher als sympathisch denn als gutaussehend bezeichnet, wenn auch für ihren Geschmack zu glatt und wohl auch zu bieder. Bemerkenswert war die Uhrmacherbrille auf seiner Nase, perfekt, um mechanische Zeitmesser zu reparieren. Allerdings schob er diese jetzt zur Stirn hoch, sodass sie sich vor dem kahlen, gut gebräunten Schädel wie eine Krone über den Augen ausnahm.

Palmer staunte, nie hätte sie erwartet, dass er höchstpersönlich Servicearbeiten an den edlen Dingern ausführte.

Erst als er vor ihr stand, erkannte sie, er war kleiner als die junge Frau, die Palmer die Tür geöffnet hatte, und die ihnen jetzt mit einigem Abstand beim Telefonieren den Rücken zudrehte.

»Thomas Diethelm.« Sein hervorstehender Adamsapfel hüpfte, als er Palmer mit seiner tiefen Baritonstimme überraschte, die sie an den Sänger Rag’n’Bone Man erinnerte, während er kräftig ihre Hand drückte.

Wie konnte er nur so guter Stimmung sein nach dem dramatischen Vorfall mit der Mutter seines Sohnes?

»Mein Name ist Palmer.«

Er nickte. »Freut mich. Kann es sein, dass wir uns schon mal begegnet sind? Ich kann mir Gesichter ziemlich gut merken.«

»Da muss ich Sie enttäuschen.«

Er schnippte triumphierend mit dem Finger. »Sie sind Chris Palmer, ich kenne Sie aus den Medien, stimmt’s? Doch, doch, Sie erledigen die Arbeit der Polizei, wenn diese nicht mehr weiterweiß. Sie haben diese Sängerin gefunden. Wie hieß sie doch gleich? Sagen Sie’s nicht. Es liegt mir … auf der Zun… Niki, so hieß sie. Niki Aschwanden.« Er strahlte Palmer an, als müsste sie ihn jetzt beglückwünschen. Palmer jedoch ging nicht darauf ein, und Diethelm nahm einen tiefen Atemzug durch die Nase, als würde er nachdenken. Endlich stimmte er mit einer Bewegung seines Kopfes zu. »Was führt Sie hier heraus nach Meggen? Wie kann ich Ihnen behilflich sein?« Diethelm rieb sich die Hände und nickte noch einmal.

Palmer dachte spontan, dies habe ihm vielleicht bereits beim Militär Erfolg gebracht. Dort sicherte man sich eine Beförderung am einfachsten dadurch, den Vorgesetzten glauben zu lassen, man wäre ein bisschen dümmer als er.

»Es geht um Lennys Mutter.«

Auf einen Schlag verschwand sein Lächeln, gleichzeitig verschränkte er die Arme vor der Brust.

»Tragisch, der ganze Vorfall.« Er blickte zu Boden, schüttelte den Kopf und stemmte seine Hände in die Hüften. »Der ganze Raubzug. Und dann wird auch noch ein Mensch verletzt! Wir waren wegen dieser Vorkommnisse auch heute Vormittag wieder bei der Polizei.«

Die junge Lady hatte sich inzwischen hinter Diethelm gestellt und machte sich daran, ihren Anruf zu beenden. Sie winkte dem Gesprächspartner zu, als sie sich von ihm am Telefon verabschiedete, drückte eine Taste und warf ihr Haar schwungvoll nach hinten.

»Habe ich richtig gehört, Sie sind Palmer?« Ihre Augen glänzten. »Eine echte Berühmtheit!« Sie schenkte Palmer ein erstauntes Lächeln.

»Hören Sie, dieser brutale Überfall, der war für alle nicht leicht.« Diethelm schien echt bewegt.

Palmers Herz setzte einen Moment aus, als unversehens ein gleißender Blitz ihre Augen blendete. Einen Wimpernschlag später erkannte sie, wie die junge Frau sich neben sie gestellt und mit ihrer Handykamera ein Selfie von ihnen beiden geschossen hatte.

»Lassen Sie das!« Palmer reckte ihr Kinn vor.

»Einen Medienstar kriegt man nicht alle Tage vor die Linse.«

»Tragisch, das mit Anna-Susanna.« Diethelm zog sich die Hose hoch. »Ich wusste nicht mal, dass sie dort im Schlosshotel arbeitet. Aber für mein Geschäft ist eine solche Gewalttat ganz schlecht. Diese Langzeitfolgen. Ich meine nicht den materiellen Schaden, das Ausstellungsstück ist glücklicherweise gut versichert. Nein, ich meine das Gerede, die Verunsicherung, die sich bei meinen Gästen einstellen könnte. Ka-tas-tro-phal, verstehen Sie?«

Palmer erkannte ein geplatztes Äderchen auf dem Nasenflügel, aber sogleich stach ihr etwas anderes ins Auge. Seine gut sichtbare Narbe auf der linken Wange. Ein Schmiss. Ihre Mutter hatte ihr diesen Brauch, als sie noch ein Kind war, erklärt. Nun bekam sie eine solche Narbe zum ersten Mal zu Gesicht. Früher hatte diese aus einem studentischen Fechtkampf davongetragene Schnittverletzung als typisches Erkennungszeichen eines Akademikers gegolten. Allerdings meinte ihre Mutter, solches sei seit Langem nicht mehr üblich, heute würde ein Schmiss nur noch dann und wann von Leuten präsentiert, die vorgaukeln wollten, sie hätten eine Universität besucht. Palmer überlegte, Diethelm später darauf anzusprechen.

»Ach, entschuldigen Sie bitte. Darf ich vorstellen? Aurelia Amberger, meine Assistentin.« Diethelm drehte sich zu seiner Begleiterin um. Aber diese warf den Kopf zu ihm herum und bedachte ihn mit einem wütenden Blick.

»Beruhige dich, okay? Ich bin doch gar nicht fertig.« Er wandte sich wieder Palmer zu. »Aurelia Amberger, meine Assistentin. Und meine Lebensgefährtin. Besser jetzt?« Die Frage galt Aurelia, aber bevor diese in irgendeiner Form seine Korrektur kommentieren konnte, fuhr er fort: »Aurelias Mitarbeit ist unbezahlbar. Sie weiß wunderbar, wie man die elektronischen Medien gewinnbringend einsetzt.« Er schenkte ihr ein anscheinend von Herzen kommendes Lächeln. »Als meine Social-Media-Managerin habe ich sie eingeführt in die Welt der Wohlhabenden, die sich meine Uhren leisten können. Ich gebe zu, ich mache mir nicht nur diese eine gute Eigenschaft dieser gerissenen Dame zunutze. Sie kreiert kurze und knackige Storys und bringt sie unter unsere Kunden, alles zielgerichtet, abgestimmt aufs Geschäft. Und sie schafft es ganz toll, auf schamloses Geschwätz in meinen professionellen Facebook- und Instagram-Konten zu verzichten.«

In Gedanken fragte sich Palmer, ob Aurelia hierfür einen privaten Account pflegte. Denn Palmer kannte die Foto- und Videoplattformen gut genug, auf der insbesondere junge Menschen die perfekte Version ihrer selbst posteten. Man zeigte nicht, wer man war, sondern wofür man sich hielt oder wofür die Leute einen halten sollten. Man präsentierte, was man gerade Tolles erlebte und die anderen nicht.

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