Eine Spur von Verbrechen

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Aus der Reihe: Keri Locke Mystery #4
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Eine Spur von Verbrechen
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Blake Pierce

Blake Pierce ist der Autor der elfteiligen RILEY PAGE Mystery-Bestsellerserie (Fortsetzung in Arbeit). Blake Pierce hat außerdem die MACKENZIE WHITE Mystery-Serie, bestehend aus fünf Büchern (Fortsetzung in Arbeit), die AVERY BLACK Mystery-Serie, bestehend aus fünf Büchern (Fortsetzung in Arbeit) und die KERI LOCKE Mystery-Serie geschrieben.

Der leidenschaftliche Leser und langjährige Fan von Mystery und Thriller-Romanen Blake Pierce freut sich, von Ihnen zu hören. Besuchen Sie www.blakepierceauthor.com für weitere Infos.

Copyright © 2016 Blake Pierce. Alle Rechte vorbehalten. Außer durch Genehmigung gemäß U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieses Buches ohne ausdrückliche Genehmigung des Autors vervielfältigt, vertrieben oder in irgendeiner Form übermittelt oder in Datenbanken oder Abfragesystemen gespeichert werden. Dieses E-Book ist nur für ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Es darf nicht weiterverkauft oder an Dritte weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit anderen teilen möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger eine zusätzliche Kopie. Wenn Sie dieses Buch lesen, aber nicht gekauft haben, oder es nicht für Sie gekauft wurde, geben Sie es bitte zurück und erwerben Sie eine eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit des Autors respektieren. Dieses Buch ist Fiktion. Namen, Figuren, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind vom Autor frei erfunden oder werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeiten mit echten Personen, lebendig oder verstorben, sind zufällig. Jacket Image Copyright PhotographyByMK, unter der Lizenz von Shutterstock.com.

BÜCHER VON BLAKE PIERCE

RILEY PAIGE KRIMI SERIE

VERSCHWUNDEN (Band #1)

GEFESSELT (Band #2)

ERSEHNT (Band #3)

GEKÖDERT (Band #4)

GEJAGT (Band #5)

VERZEHRT (Band #6)

VERLASSEN (Band #7)

ERKALTET (Band #8)

MACKENZIE WHITE KRIMI SERIE

BEVOR ER TÖTET (Band #1)

BEVOR ER SIEHT (Band #2)

BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)

BEVOR ER NIMMT (Band #4)

BEVOR ER BRAUCHT (Band #5)

AVERY BLACK KRIMI SERIE

GRUND ZU TÖTEN (Band #1)

GRUND ZU FLÜCHTEN (Band #2)

GRUND ZU VERSTECKEN (Band #3)

GRUND ZU FÜRCHTEN (Band #4)

KERI LOCKE MYSTERY SERIE

EINE SPUR VON TOD (Buch #1)

EINE SPUR VON MORD (Buch #2)

EINE SPUR VON SCHWÄCHE (Buch #3)

EINE SPUR VON VERBRECHEN (Buch #4)

EINE SPUR VON HOFFNUNG (Buch #5)

PROLOG

Carolyn Rainey spürte, dass etwas nicht stimmte. Sie konnte das Gefühl nicht erklären, aber als sie die lange Straße entlangging, auf der sie gewöhnlich ihre zwölfjährige Tochter traf, machte sich ein merkwürdiges Kribbeln in ihrem Nacken breit.

Auf den ersten Blick schien alles wie immer zu sein. Carolyn machte sich jeden Tag um 14:30 Uhr auf den Weg zu ihrer Tochter Jessica. Sie genoss den kurzen Spaziergang, weil sie ein paar Minuten hatte, um den Kopf frei zu bekommen und die zweite Hälfte des Tages einzuläuten.

Die Playa del Rey Middle School entließ die Kinder um 2:35 nachmittags und Jessica fuhr ihr mit dem Fahrrad entgegen. Bis sie ihre Sachen eingepackt, sich von ihren Freundinnen verabschiedet und zu ihrem Fahrrad begeben hatte, war es meistens 2:45.

Meist trafen Mutter und Tochter sich gegen 2:50 auf halbem Weg zwischen der Schule und ihrem Haus. Den Rest der Strecke legten sie dann zusammen zurück, Carolyn zu Fuß und ihre Tochter im Schritttempo auf dem Fahrrad. Hin und wieder würde sie ihre Mutter lachend umkreisen.

Sie würde ihr alles von ihrem Tag in der Schule erzählen: Wer in wen verknallt war, welcher Lehrer versehentlich geflucht hatte und welche Lieder sie im Chor gesungen hatten. Zu Hause stand schon ein kleiner Snack bereit, nach dem sich Jessica auf ihre Hausaufgaben und Carolyn auf ihre Arbeit konzentrieren würde. So oder so  ähnlich liefen die Nachmittage bei ihnen ab.

Aber heute war Carolyn schon bedeutend weiter gelaufen als sonst. Es war schon fast 3 Uhr und bald würde sie bei der Schule ankommen. Eigentlich hätte sie Jessica schon längst treffen müssen.

Vielleicht war sie noch einmal auf die Toilette gegangen. Oder Kyle, der süße Typ aus ihrem Englischkurs, hatte sie angesprochen. Doch das Kribbeln in ihrem Nacken sagte ihr, dass etwas anderes geschehen war.

Als sie um die nächste Kurve bog, sah sie, dass sie Recht behalten sollte. Jessicas lilafarbenes Fahrrad, auf dem ein paar Aufkleber von der neuen Die Schöne und das Biest Verfilmung und von ihren Lieblingssängerinnen Selena Gomez und Zara Larsson klebten, lag am Straßenrand.

Carolyn rannte hinüber und starrte es an. Angst machte sich in ihr breit. Verzweifelt sah sie sich um. In einem Gebüsch nur wenige Meter weiter fiel ihr etwas auf. Schnell ging sie hin und zog an den Ästen. Als einer der Äste nachgab, fiel es ihr entgegen.

Sie konnte kaum glauben, was sie sah. Jessicas Rucksack. Carolyns Beine gaben plötzlich nach. Sie sank auf die Knie. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Dann wurde ihr klar, dass ihre Tochter verschwunden war.

KAPITEL EINS

Detective Keri Locke war frustriert. Sie saß an ihrem Schreibtisch in der West Los Angeles Pacific Einheit des LAPD und starrte den Bildschirm ihres Computers an.

Um sie herum herrschte das übliche geschäftige Treiben. Zwei Teenager hatten eine Handtasche gestohlen und waren auf der Flucht mit ihren Skateboards gefasst worden. Eine ältere Dame an einem der Nachbartische erklärte einem geduldigen Officer, dass ihre Tageszeitung zum wiederholten Male aus ihrem Vorgarten geklaut worden war. Zwei dickliche Typen saßen in Handschellen auf einer Holzbank an der gegenüberliegenden Wand, weil sie sich in einer Kneipe geschlagen hatten und offenbar versuchten, ihren Kampf hier fortzusetzen. Keri ignorierte sie alle.

Seit zwanzig Minuten studierte sie die Kleinanzeigen einer Tageszeitung in der Kategorie Gemischte Gesuche. Seit sechs Wochen las sie täglich diese Anzeigen, seit ihre Freundin Margaret „Mags“ Merrywether ihr den Tipp gegeben hatte, dass sie dort vielleicht einen Hinweis finden würde, der sie zu ihrer verschwundenen Tochter Evie führen könnte.

Evie war vor über fünf Jahren entführt worden. Nach einer unerbittlichen, aber meist ergebnislosen Suche, hatte Keri sie gefunden, doch man hatte sie ihr ein zweites Mal entrissen. Der bloße Gedanke daran, wie Evie in dem schwarzen Van fortgebracht worden und womöglich für immer verloren war, war einfach zu viel. Schnell schüttelte sie den Gedanken ab und konzentrierte sich wieder auf das, was vor ihr lag. Es ging schließlich um eine mögliche Spur. Und eine Spur brauchte sie unbedingt.

Ende November hatte Mags versucht, mit diesem geheimnisvollen Mann in Kontakt zu treten, der sich Schwarzer Witwer nennt. Er war bekannt dafür, dass er die Drecksarbeit für die Reichen und Mächtigen verrichtete. Er brachte politische Feinde zum Schweigen, ließ aufdringliche Reporter verschwinden oder beschaffte besonders vertrauliche Materialien.

In diesem Fall vermutete Keri, dass er entweder ihre Tochter in seiner Gewalt hatte, oder zumindest wusste, wo sie sich befand. Denn vor sechs Wochen hatte Keri den Mann ausfindig gemacht, der Evie all die Jahre gefangen gehalten hatte. Es handelte sich dabei um einen professionellen Entführer, der unter dem Decknamen der Sammler bekannt war. Keri wusste inzwischen, dass sein echter Name Brian Wickwire war. Bei ihrem Zusammentreffen war es zu einem Kampf auf Leben und Tod gekommen, in dem Keri ihn schließlich getötet hatte.

Als sie später sein Appartment durchsucht hatte, waren ihr Informationen in die Hände gefallen, dank derer sie Evie ausfindig machen konnte. Doch gerade als sie dort eingetroffen war, hatte sie gesehen, wie ein älterer Mann das Mädchen in einen schwarzen Van gedrängt hatte. Sie hatte nach ihrer Tochter gerufen, die inzwischen dreizehn Jahre alt war, und sie hatte gehört, wie ihre Tochter das Wort Mama gesagt hatte.

Doch dann hatte der Mann Keris Auto gerammt und war mit Evie entkommen. Benommen hatte Keri zusehen müssen, wie ihre Tochter zum zweiten Mal vor ihren Augen entführt wurde. Noch in der gleichen Nacht hatte man den Van auf einem leeren Parkplatz gefunden. Der Mann war mit einem Kopfschuss hingerichtet worden. Von Evie fehlte jede Spur.

Wochenlang hatte das Department in jede erdenkliche Richtung ermittelt und überall nach ihr gesucht. Doch sie fanden nichts als Sackgassen. Irgendwann mussten sie sich wieder auf andere Fälle konzentrieren.

Letzten Endes war es Mags gewesen, die eine frische Spur ausgraben konnte. Mags sah zwar aus wie das Titelmodell eines High Society Magazins, aber eigentlich war sie eine knallharte Enthüllungsjournalistin. Sie hatte Parallelen entdeckt zwischen Evies Verschwinden und einem Fall, an dem sie vor Jahren gearbeitet hatte. So war sie auf den Schwarzen Witwer gekommen. Nächtliche Hinrichtungen per Kopfschuss auf leeren Parkplätzen waren eine Art Markenzeichen. Außerdem wussten sie über ihn, dass er einen nicht-registrierten Lincoln Continental fuhr, und genau so einen hatte die Überwachungskamera des Parkplatzes aufgezeichnet.

So hatte Mags auf einen anonymen Tipp hin eine verschlüsselte Nachricht an den Schwarzen Witwer gesendet – und zwar über die Kleinanzeigen der Tageszeitung. Das war scheinbar seine bevorzugte Methode, um mit potenziellen Kunden in Kontakt zu treten.

Zu ihrer Überraschung hatte er fast unverzüglich geantwortet. Er würde sich bald darum kümmern, dass sie alles Nötige besprechen konnten. Bis dahin sollte sie sich eine neue E-Mail Adresse zulegen.

 

Seitdem hatte sie leider nichts mehr von ihm gehört. Mags hatte vor drei Wochen noch ein zweites Mal versucht, ihn zu erreichen, aber sie hatte keine Antwort mehr bekommen. Keri wollte, dass sie es noch einmal versuchte, aber Mags hielt das für eine schlechte Idee. Wenn sie ihn unter Druck setzten, würde er einfach komplett abtauchen. Auch wenn es frustrierend war, mussten sie abwarten, dass er sich meldete.

Keri machte sich jedoch Sorgen, dass er das vielleicht nie wieder tun würde. Als sie jetzt zum dritten Mal die Kleinanzeigen überflog, ging ihr durch den Kopf, wie sich diese zuerst so vielversprechende Spur langsam in eine weitere Sackgasse verwandelte.

Sie schloss die Webseite, schloss die Augen und atmete ein paarmal tief durch. Um gegen die Hoffnungslosigkeit anzukommen, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. Manchmal half genau das, um plötzlich Zusammenhänge zu sehen, die ihr vorher entgangen waren.

Es muss einen Hinweis geben. Was habe ich übersehen? Es ist da, ich muss es nur erkennen.

Aber sie kam nicht weiter. Ihre Gedanken kreisten um den Schwarzen Witwer. Niemand wusste, wer er wirklich war. Niemand wusste, wo man ihn finden kann.

Vor einiger Zeit hatte sie das Gleiche über den Sammler gedacht. Dennoch war es ihr gelungen, ihn aufzuspüren, ihn zu töten und die nötigen Informationen zu finden, die sie zu ihrer Tochter geführt hatte. Wenn sie es einmal geschafft hatte, würde sie es auch ein zweites Mal schaffen.

Vielleicht sollte ich mir noch einmal die E-Mails und die Wohnung des Sammlers ansehen. Vielleicht habe ich dort etwas übersehen.

Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass der Sammler und der Schwarze Witwer in derselben Unterwelt tätig waren. Beide boten ihren Kunden kriminelle Dienste an. Der eine war ein Kidnapper und der andere ein Auftragskiller. Es war nicht ausgeschlossen, dass sich ihre Wege irgendwann gekreuzt hatten. Vielleicht gab es beim Sammler tatsächlich irgendwelche Hinweise zu finden.

Plötzlich fiel ihr auf, dass es noch einen weiteren Zusammenhang gab. Beide kannten einen gewissen gut betuchten Strafverteidiger namens Jackson Cave.

Die meisten Leute kannten Cave als semi-prominenten Rechtsanwalt, aber Keri hatte eine andere Seite an ihm gesehen: einen zwielichtigen Dealmaker, der den übelsten Abschaum der Gesellschaft verteidigte und hinter den Kulissen aus Zwangsprostitution, Drogenhandel und Mord Profite schlug. Leider konnte Keri ihm nichts beweisen, weil sie selbst ein paar Geheimnisse zu hüten hatte.

Dass Cave mit beiden Männern bekannt war, lag allerdings auch ohne Beweise auf der Hand. Das wiederum würde vermuten lassen, dass sie sich wirklich gekannt hatten. Auch wenn es nicht viel war, würde es sich doch lohnen, noch einmal genauer hinzusehen. Sie brauchte irgendetwas, um nicht durchzudrehen.

Gerade als sie in den Lagerraum für Beweismittel gehen wollte, um noch einmal Wickwires Sachen durchzugehen, kam ihr Partner Ray Sands an ihren Tisch.

„Ich habe gerade Lieutenant Hillman im Aufenthaltsraum getroffen“, sagte er, „wir haben einen neuen Fall. Ich werde dir alle Informationen unterwegs geben. Können wir sofort los? Du siehst aus, als hättest du gerade etwas vorgehabt.“

„Nur ein paar Nachforschungen“, antwortete sie und schaltete ihren Computer aus. „Aber das kann auch noch etwas warten. Fahren wir.“

Ray sah sie neugierig an. Er hatte gemerkt, dass sie ihm etwas verheimlichte. Das war ihr klar. Aber er sagte nichts mehr dazu und so stand sie auf und verließ mit ihm zusammen das Revier.

*

Keri und Ray gehörten zur Einheit für Vermisste Personen bei der West Los Angeles Division. Es war eine der angesehensten Einheiten des LAPD und sie und Ray waren der Hauptgrund dafür. Sie hatten in den vergangenen achtzehn Monaten mehr Fälle gelöst, als die meisten anderen Einheiten in drei Jahren.

Leider hatte Keri auch den Ruf etwas verrückt zu sein, und ebenso viele Probleme zu verursachen wie zu lösen. Technisch gesehen wurde derzeit noch gegen sie ermittelt, weil ihre Begegnung mit dem Sammler nicht gerade nach Vorschrift abgelaufen war. Aber angeblich handelte es sich bei den Untersuchungen nur um eine Formalität, um die sich polizeiintern gekümmert werden musste. Trotzdem fühlte sie sich, als würde diese Geschichte wie eine dunkle Wolke über ihr schweben.

Obwohl man ihre Methoden hin und wieder in Frage stellen konnte, sprachen die Ergebnisse ihrer Ermittlungen für sich. Ray und Keri waren die Besten der Besten, auch wenn sie gerade privat ein paar Herausforderungen zu meistern hatten.

Keri beschloss, jetzt nicht darüber nachzudenken. Sie konnte sich schließlich nicht gleichzeitig auf eine Vermisstenmeldung und auf ihre private Beziehung zu Ray konzentrieren.  Als sie im Auto saßen, erzählte er ihr alles über den neuen Fall. Sie sah aus dem Seitenfenster, um seine starken, dunklen Hände, die das Lenkrad hielten, nicht im Blickfeld zu haben.

„Unser potenzielles Opfer heißt Jessica Rainey“, sagte Ray. „Sie ist zwölf Jahre alt und lebt in Playa del Rey. Ihre Mutter trifft sie normalerweise auf dem Fahrradweg nach der Schule, aber heute hat sie nur das Fahrrad am Straßenrand und ihren Rucksack in einem Gebüsch gefunden.“

„Was wissen wir über die Eltern?“, fragte Keri, als sie den Culver Boulevard entlang fuhren. Zufällig wohnte sie auch ganz in der Nähe. Erfahrungsgemäß konnte Entfremdung eine wichtige Rolle spielen. In gut der Hälfte aller Fälle von vermissten Kindern hatte ein Elternteil das Kind entführt.

„Nicht viel“, sagte Ray und lenkte das Auto geschmeidig durch den Stadtverkehr. Es war Anfang Januar und draußen war es kalt, aber Keri bemerkte Schweißperlen auf Rays Stirn. Er war nervös. Doch bevor Keri der Sache nachgehen konnte, redete er weiter.

„Verheiratet, Mutter arbeitet von zu Hause aus. Sie entwirft Hochzeitseinladungen. Der Vater arbeitet in Silicon Beach für eine IT-Firma. Sie haben auch einen jüngeren Sohn, er ist sechs Jahre alt. Er ist heute den ganzen Nachmittag in der Hausaufgabenbetreuung. Die Mutter hat dort angerufen um sicherzugehen, dass dort alles in Ordnung ist. Hillman hat ihr geraten, ihn vorerst noch dort zu lassen, damit für ihn alles so lange wie möglich normal bleibt.“

„Klingt soweit alles ganz normal“, kommentierte Keri. „Ist die Spurensicherung schon unterwegs?“

„Ja, Hillman hat sie informiert. Vielleicht sind sie schon vor Ort und untersuchen Fahrrad und Rucksack auf Fingerabdrücke.“

Ray passierte gerade die Kreuzung bei Jefferson Boulevard. Keri konnte ihr Appartement fast schon sehen. Der Strand war nur noch eine halbe Meile entfernt. Das Haus der Raineys lag in einem angesagten Gebiet des Stadtteils in den Hügeln. Keine fünf Minuten von dort befanden sich mehrere Multimillionen-Dollar Villen.

Keri bemerkte, dass Ray ungewöhnlich still geworden war. Sie wusste, dass er Anlauf nahm, etwas Unangenehmes anzusprechen. Ohne zu wissen warum, fürchtete sie sich davor.

Sie kannte Ray Sands seit mehr als sieben Jahren, noch bevor Evie entführt worden war. Damals hatte sie als Professorin für Kriminologie an der Loyola Marymount University gearbeitet und er war als Gastredner in ihrem Kurs gekommen.

Als Keris Leben nach der Entführung ihrer Tochter auseinanderzufallen begann, war er für sie da gewesen – als ermittelnder Detective und auch als Freund. Er stand ihr zur Seite, als sie sich von ihrem Mann scheiden ließ und als ihre Karriere den Bach hinunterging. Ray hatte sie damals überzeugt, Polizistin zu werden. Nach zwei Jahren Streifendienst kam sie dann zur Einheit für Vermisste Personen und Ray wurde ihr Partner.

Mit der Zeit waren sie sich näher gekommen. Vielleicht lag es an ihrer lockeren Art miteinander zu flirten. Vielleicht lag es daran, dass sie sich mehrmals gegenseitig das Leben gerettet hatten. Vielleicht lag es einfach an der besonderen Anziehungskraft zwischen ihnen. Irgendwann war ihr aufgefallen, dass Ray, der schon immer beliebt bei den Frauen gewesen war, aufgehört hatte, über seine weiblichen Bekanntschaften zu sprechen.

In den letzten Monaten hatten sie immer mehr Zeit miteinander verbracht. Sie besuchten sich gegenseitig nach Feierabend, sie gingen zusammen ins Restaurant, sie riefen sich gegenseitig an, wenn es Dinge zu besprechen gab, die nichts mit der Arbeit zu tun hatten. Es war fast, als wären sie ein Paar; in fast jeder Hinsicht. Sie hatten bisher nie den letzten entscheidenden Schritt gewagt, um ihre Beziehung zu besiegeln. Sie hatten sich noch nicht einmal geküsst.

Warum will ich nicht, dass er es sagt?

Keri war gerne mit Ray zusammen und ein Teil von ihr wollte mehr von ihrer Beziehung. Sie fühlte sich ihm so nah, dass es beinahe komisch war, dass nichts zwischen ihnen passierte. Dennoch fürchtete sie sich vor dem nächsten Schritt, auch wenn sie den Grund dafür nicht in Worte fassen konnte. Jetzt spürte sie, dass Ray kurz davor war, diese unsichtbare Schwelle zu überschreiten.

„Kann ich dich etwas fragen?“, begann er, als er in Pershing Drive einbog. Diese Straße würde sie bis in die reiche Gegend von Playa del Rey bringen.

„Okay.“

Bitte tu es nicht. Das wird alles ruinieren.

„Du stehst mir so nahe, wie kein anderer auf dieser Welt“, sagte er sanft. „Und ich habe den Eindruck, dass es dir mit mir nicht anders geht. Habe ich recht?“

„Ja.“

Fahr doch etwas schneller, wir sind fast da. Ich muss aus diesem Auto raus.

„Aber wir haben nichts in diese Richtung unternommen“, sagte er.

„Wohl nicht“, murmelte sie unsicher.

„Ich möchte das gerne ändern.“

„M-hm.“

„Ich bitte dich hiermit ganz offiziell um ein Date, Keri. Ich will am Wochenende gerne mit dir ausgehen. Würdest du mit mir zu Abend essen?“

Sie antwortete nicht sofort. Als sie schließlich den Mund öffnete, um etwas zu sagen, war sie selbst nicht sicher, was es war.

„Besser nicht, Ray. Aber danke für die Einladung.“

Ray starrte geradeaus auf die Straße. Sein Mund stand ein bisschen offen, aber er sagte nichts.

Auch Keri war erstaunt von ihrer Antwort und kämpfte schweigend gegen den Drang an, aus dem fahrenden Auto zu springen.

KAPITEL ZWEI

Ohne noch ein Wort zu wechseln bogen sie von Pershing Drive in Rees Street ein und fuhren den steilen Hügel hinauf, bis sie Ridge Avenue erreichten. Keri sah den Transporter der Spurensicherung vor einem großen Haus stehen.

„Ich sehe die Spurensicherung“, sagte sie tumb, um endlich das Schweigen zu brechen.

Ray nickte und parkte den Wagen hinter dem Transporter. Sie stiegen aus und gingen zum Haus. Keri fummelte an ihrem Pistolengürtel herum, um Ray ein paar Meter Vorsprung zu geben. Sie spürte, dass er nicht in der Stimmung war, Seite an Seite mit ihr zu erscheinen.

Während sie hinter ihm ging, bestaunte sie wieder einmal, wie beeindruckend seine Statur war. Ray, ein einundvierzig Jahre alter Afro-Amerikaner, war über ein Meter neunzig groß, wog bestimmt 100 Kilo und hatte einen Glatzkopf. Früher hatte er als professioneller Boxer sein Geld verdient.

Er sah immer noch aus, als wäre er fit für den Ring, trotz aller Herausforderungen, denen er sich seit dem Ende seiner sportlichen Karriere stellen musste: das Ende seiner Ehe, das neue Leben mit einem Auge aus Glas, die Schussverletzung. Er war stark bemuskelt, aber nicht übergewichtig, und gleichzeitig überraschend galant für einen Mann seiner Größe. Kein Wunder, dass er so beliebt bei den Frauen war.

Ein paar Monate zuvor hätte sie sich vielleicht gewundert, warum er sich für sie interessierte. Aber in letzter Zeit hatte sie, obwohl sie fast sechsunddreißig war, wieder den jugendlichen Elan zurückgewonnen, der ihr auch früher schon Bewunderung vom anderen Geschlecht eingebracht hatte.

Sie würde nie ein Supermodel werden, aber seit sie wieder Kampfsport betrieb und nicht mehr so viel Alkohol trank, hatte sie fünf Kilo abgenommen und war wieder so fit, wie vor der Scheidung. Außerdem hatte sie keine dunklen Ringe mehr unter den Augen und hin und wieder trug sie ihr dunkelblondes Haar sogar offen, anstatt wie gewöhnlich in einem strengen Pferdeschwanz. Sie fühlte sich endlich wieder wohl in ihrer Haut. Warum hatte sie also Rays Einladung ausgeschlagen?

Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt um persönliche Probleme zu wälzen. Konzentrier‘ dich lieber auf den Fall.

Also verdrängte sie alle irrelevanten Gedanken und sah sich aufmerksam um. Sie wollte sich einen Eindruck von der Welt der Raineys verschaffen, bevor sie die Ermittlungen aufnahm.

Playa del Rey war keine besonders große Nachbarschaft, aber die sozialen Differenzen waren gravierend. Keris Appartment befand sich beispielsweise direkt über einem chinesischen Restaurant, in einem Bezirk, in dem größtenteils Arbeiter lebten.

 

Das gleiche galt für die kleinen Wohnblocks bei Manchester Avenue. Aber je näher man dem Strand und dem Hügel kam, auf dem die Raineys wohnten, desto größer und pompöser wurden die Häuser, die fast alle Ausblick aufs Meer boten.

Das Haus, vor dem sie jetzt stand, war ziemlich beeindruckend, wenn auch nicht so mächtig wie einige Villen in der Gegend. Es strahlte jedoch eine familiäre Gemütlichkeit aus.

Das Gras im Vorgarten war ein bisschen zu lang, um ordentlich zu sein, und überall lagen Spielsachen verstreut, einschließlich einer blauen Plastik-Rutsche und einem umgeworfenen Dreirad. Der gepflasterte Weg zur Haustür war mit Kreide verziert, eindeutig das Werk des sechsjährigen Sohnes. Der Treppenabsatz an der Haustür wies die ausgefeilteren Kunstwerke eines Teenagers auf.

Ray klingelte und warf lieber einen Blick durch den Türspion als zu Keri. Sie spürte seinen Frust und seine Verwirrung und sie beschloss, sich zurückzuhalten. Sie hätte ohnehin nicht gewusst, was sie sagen sollte.

Keri hörte, wie jemand zur Tür eilte und keine Sekunde später flog die Tür auf und eine Frau Ende dreißig erschien vor ihnen. Sie trug eine lange dunkle Hose und eine elegante Baumwollbluse. Sie hatte kurzes dunkles Haar und hatte ein sympathisches, offenes Gesicht. Ihre Augen waren gerötet und feucht von Tränen.

„Mrs. Rainey?“, fragte Keri in ruhigem Ton.

„Ja. Sind Sie die Detectives?“, fragte sie hoffnungsvoll.

„Ja“, entgegnete Keri. „Ich bin Keri Locke und das hier ist mein Partner, Ray Sands. Dürfen wie hereinkommen?“

„Natürlich. Bitte. Mein Mann Tim holt gerade ein paar Fotos von Jessi. Er wird gleich zu uns stoßen. Haben Sie schon etwas herausgefunden?“

„Noch nicht“, sagte Ray. „Aber wie ich sehe, ist das Team von der Spurensicherung bereits eingetroffen. Wo sind sie?“

„In der Garage. Sie untersuchen Jessis Sachen gerade auf Fingerabdrücke. Mir wurde gesagt, dass ich nichts anrühren soll. Aber ich konnte die Sachen doch nicht einfach auf der Straße liegen lassen. Wenn jemand sie mitgenommen hätte, hätten wir überhaupt keine Beweise mehr.“

Während sie sprach, wurde ihre Stimme immer höher und panischer. Keri sah ihr an, dass sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand.

„Ganz ruhig, Mrs. Rainey“, sagte sie. „Mögliche Abdrücke können immer noch sichergestellt werden und Sie können uns später zeigen, wo Sie den Rucksack und das Fahrrad gefunden haben.“

In diesem Moment hörten sie, dass jemand die Treppe herunterkam. Keri drehte sich um und sah einen Mann mit einem Stapel Fotos auf sich zukommen. Er war schlank und hatte wirres braunes Haar und eine Brille mit einem dünnen Silberrahmen. Tim Rainey trug ein Hemd und Khakis. Er sah genauso aus, wie Keri sich einen IT-Experten vorstellte.

„Tim“, sagte seine Frau, „das sind die Detectives, die uns helfen werden, Jessi wieder zu finden.“

„Danke, dass Sie sofort gekommen sind“, sagte er so leise, dass es fast geflüstert war.

Keri und Ray schüttelten ihm nacheinander die Hand und Keri bemerkte, dass die andere Hand, in der er die Fotos hielt, leicht zitterte. Seine Augen waren zwar nicht rot, aber er war unendlich blass und auf seiner Stirn zeichneten sich Sorgenfalten ab. Er wirkte völlig überwältigt von dem plötzlichen Stress.

Keri wusste genau, wie er sich jetzt fühlte.

„Vielleicht sollten wir Platz nehmen und Sie erzählen uns ganz genau, was sich heute ereignet hat“, sagte sie, als ihre Knie ebenfalls zu zittern begannen.

Carolyn Rainey führte sie ins Wohnzimmer, wo ihr Mann die Fotos auf den Tisch legte und sich schwer auf die Couch fallen ließ. Sie setzte sich neben ihn und legte ihre Hand auf sein Knie, das jetzt wild auf und ab wippte. Unter der Berührung beruhigte er sich sofort.

„Ich bin losgegangen um Jessi von der Schule abzuholen“, begann Carolyn, „ich gehe ihr jeden Tag entgegen und sie fährt mit dem Fahrrad, bis wir uns treffen. Den Rest gehen wir gemeinsam nach Hause. Wir treffen uns fast immer an der gleichen Stelle, einen Block hin oder her.“

Tim Raineys Knie begann wieder wild zu zittern und sie tätschelte es, um ihn darauf aufmerksam zu machen. Sobald er sich entspannte, redete sie weiter.

„Als ich schon weit über die Hälfte zurückgelegt hatte, habe ich mir langsam Sorgen gemacht. Es ist erst zweimal vorgekommen, dass ich  ganz zur Schule gehen musste. Einmal hatte sie ein Textbuch in ihrem Spind vergessen und musste umkehren und einmal war ihr plötzlich schlecht geworden. Beide Male hat sie mich angerufen und Bescheid gesagt.“

„Wenn ich kurz unterbrechen darf“, sagt Ray, „geben Sie mir doch bitte ihre Handynummer. Wir können sie vielleicht tracken.“

„Daran habe ich auch schon gedacht. Ich habe sie also sofort angerufen, als ich ihre Sachen gefunden habe. Ihr Handy lag im gleichen Busch. In dem ich den Rucksack gefunden habe.“

„Haben Sie es hier?“, fragte Keri. „Vielleicht können wir noch verwertbare Daten darauf finden.“

„Die Spurensicherung hat es.“

„Sehr gut“, sagte Keri. „Wir werden es uns ansehen, sobald sie es freigeben. Darf ich Ihnen zunächst noch ein paar Fragen stellen?“

„Natürlich“, sagte Carolyn.

„Hatte Jessica in letzter Zeit mit irgendjemandem Schwierigkeiten? Vielleicht mit Freunden?“

„Nein. Aber sie hat sich plötzlich für einen anderen Jungen interessiert. Die Winterferien gingen vor kurzem zu Ende und sie sagte, dass die Ferien einiges verändert hätten. Da ihr erster Schwarm aber nie herausgefunden hat, dass sie in ihn verliebt war, glaube ich kaum, dass ihr Verschwinden etwas damit zu tun hat.“

„Es wäre dennoch hilfreich, wenn Sie uns die Namen der beiden Jungen aufschreiben könnten“, sagte Ray. „Hat sie ihnen je von besonderen Leuten innerhalb oder außerhalb der Schule erzählt?“

Die Raineys schüttelten gleichzeitig den Kopf.

„Darf ich?“, fragte Keri und deutete auf die Fotos.

Carolyn nickte. Keri nahm den Stapel in die Hand und begann, sich die Aufnahmen anzusehen. Die zwölfjährige Jessica Rainey sah ganz normal aus. Sie zeigte ein breites Lächeln und hatte die leuchtenden Augen ihrer Mutter und die wilden braunen Haare ihres Vaters.

„Wir werden jede mögliche Spur untersuchen“, versicherte Ray ihnen. „Aber bitte ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse. Es ist durchaus möglich, dass es sich nur um ein Missverständnis handelt. Seit über zwei Jahren gab es in dieser Gegend keine gemeldeten Fälle von Kindesentführung, wir sollten uns mit solchen Vermutungen also vorerst zurückhalten.“

„Das ist uns auch bewusst“, sagte Carolyn Rainey, „aber Jessi würde nicht einfach mit Freunden nach Hause gehen und ihre Sachen am Straßenrand liegen lassen. Und sie würde niemals freiwillig ihr Handy zurücklassen. Das passt einfach nicht zu ihr.“

Ray antwortete nichts darauf. Keri wusste, dass er das Gefühl hatte, eine andere Erklärung anbieten zu müssen. Normalerweise würde er auch nicht so schnell an eine Entführung glauben wie Keri. Aber jetzt schien selbst Ray keine Gründe zu finden, warum Jessica ihre Sachen einfach auf der Straße liegengelassen hätte.

„Können wir ein paar dieser Fotos mitnehmen?“, fragte Keri, um die unangenehme Stille zu überbrücken. „Wir würden sie gerne an ein paar Kollegen weitergeben.“

„Natürlich. Nehmen Sie alle mit, wenn Sie wollen“, sagte Carolyn.

„Nicht alle“, meldete Tim sich zu Wort und zog ein Foto aus dem Stapel. „Das hier würde ich gerne behalten, wenn Sie einverstanden sind.“

Auf dem Foto war Jessica mit Wanderstiefeln und einem viel zu großen Rucksack in einem Wald zu sehen. Ihr Gesicht zeigte eine Art Kriegsbemalung und um den Kopf hatte sie ein buntes Band gewickelt. Sie grinste fröhlich. Zur Identifikation war es eher ungeeignet, und Keri spürte, dass es ihrem Vater sehr wichtig war.

„Behalten Sie es. Wir haben, was wir brauchen“, sagte sie sanft, bevor sie wieder zur Sache kam. „Es gibt noch ein paar andere Dinge, die wir so schnell wie möglich von Ihnen brauchen. Schreiben Sie es sich besser auf. In solchen Situationen ist Zeit ein wichtiger Faktor. Leider werden wir nicht immer Rücksicht auf Ihre Gefühle nehmen können. Sind Sie bereit?“

Beide nickten.

„Gut“, sagte Keri. „Wir werden folgendermaßen vorgehen. Mrs. Rainey, Sie zeigen uns bitte ganz genau, welchen Weg Sie und Jessica normalerweise nehmen. Außerdem müssen wir uns in ihrem Zimmer umsehen, einschließlich Computer und Tablet, wenn Jessica solche Geräte besitzt. Wie schon erwähnt werden wir auch ihr Handy untersuchen.“