Buch lesen: «Alt werden wie ein Baum»

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Alt werden wie ein Baum
Die Wissenschaft und Kunst des achtsamen Älterwerdens
Nils Altner, Birgit Ottensmeier


Table of Contents

Vorwort

Einführung

Achtsamkeit

Schützt Achtsamkeit vor Erschöpfung?

Im Moment verweilen

„Verweile doch, Du bist so schön“

Literatur

Ganzheit

Weltfürsorge betreiben

Heilige, zeitlose Momente

Körperliche Alterungsprozesse

Kulturentwicklung

Ein nachhaltig gestaltetes Leben

Ritter Rost oder die Kraft der Antioxidanzien

Glykämischer Index und Glyx-Kost

Vollwert-Ernährung

Obst und Gemüse

Die Macht der Telomere – Teilen und überleben

Altern als Summe entzündlicher Prozesse

Stress, Achtsamkeit und Entzündungen

Sonne, Vitamin D und Glück

Weniger ist mehr

Achtsamkeitsmeditation

Atemfokussierung

Body Scan – Die Reise durch den Körper

Die Reise durch den Körper

Entscheidungen für ein gesundes und achtsames Leben im Alter

Literatur

Emotional-geistige Dimension Ruhe und Gelassenheit

Sitzen in Stille mit Gedanken und Gefühlen

AutorIn unseres Lebens werden

Ruhe, Vertrauen und Offenheit

Der innere Hochsitz

Der frische Blick

Weisheit, Selbsterkenntnis und Mitgefühl

Mitgefühl mit mir selbst

Lebenslanges Veränderungspotenzial

Literatur

Die soziale Dimension

Soziale Anerkennung, Kompetenz und Bildung

Beziehungen gestalten

Soziale Integration

Mensch sein heißt in Beziehung sein

Authentische Beziehungen pflegen

Einander Aufmerksamkeit und Zuwendung schenken

Einander leibhaftig spüren

Mitgefühl und liebende Güte

Metta-Meditation

Vergeben

Meditation zum Verzeihen

Literatur

Die räumliche Lebenswelt Leben und Wohnen

Wie möchte ich wohnen?

Literatur

Ökologie und Natur

Natur erleben als Gesundheitsressource

Verantwortung für die Natur

Literatur

Transpersonale-integrale Einheit

Der weite Blick

Im Augenblick sein

Drei Bewusstseinszustände

Im Moment verweilen

Engagierte Spiritualität

Literatur

Lebenspflege aus Sicht der Traditionellen Chinesischen Medizin

Gesundes Älterwerden aus Sicht des Ayurveda

Der Autor/ Die Autorin

Alt möcht ich werden wie ein alter Baum,

mit Jahresringen, längst nicht mehr zu zählen,

mit Rinden, die sich immer wieder schälen,

mit Wurzeln tief, dass sie kein Spaten sticht (...)


Alt möcht ich werden wie ein alter Baum,

zu dem die sommerfrohen Wandrer fänden,

mit meiner Krone Schutz und Schatten spenden

in dieser Zeit, wo alles neu beginnt (...)

(Louis Fürnberg)

Vorwort

Wie Gesundheit und Vitalität erhalten bleiben können, wenn naturheilkundliche Kenntnisse und Fähigkeiten unser Leben prägen, konnte ich in einer Email von einer 80 Jahre alten Dame lesen, die seit vielen Jahrzehnten Mitglied bei Natur und Medizin ist. Sie bedankt sich darin für die vielen Anregungen aus der naturheilkundlichen Forschung, die sie durch uns erhält. Seit kurzem, so schrieb sie, habe sie, nachdem sie seit langem mit Email und Internet vertraut sei, nun auch gelernt, per Skype mit ihrem Enkel in Griechenland zu sprechen.

Wach und interessiert bleiben, kontinuierlich freudvoll lernen und die eigenen Fähigkeiten entwickeln, dabei lebendige Beziehungen zu nahen Menschen pflegen und fürsorglich mit uns selbst und den anderen umgehen – wenn wir so leben können, stärken und nutzen wir die erstaunlichen selbstregulierenden und selbstheilenden Kräfte unseres Organismus. In diesem Buch sind die wichtigsten aktuellen Erkenntnisse dazu versammelt und kombiniert mit Anregungen, damit im eigenen Leben zu experimentieren.

In unserer Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin in Essen vermitteln wir unseren PatientInnen diese Fähigkeiten zur Selbstheilung. Neben der europäischen Naturheilkunde beziehen wir dabei auch Wissen aus den traditionellen chinesischen und indischen Medizinsystemen ein. Zudem untersuchen wir im Auftrag der Bundesregierung, wie sich gesundheitsfördernde Lebensweisen präventiv umsetzen lassen. Hier forschen Nils Altner und Birgit Ottensmeier seit Jahren. In diesem Buch stellen sie ihr Wissen und ihre Erfahrungen erstmals umfassend einem breiten Publikum zur Verfügung.

Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, viel Entdeckerfreude und Gesundheit beim Lesen und Umsetzten.

Dr. Anna Paul

Einführung

Die Bremer Stadtmusikanten

Es hatte ein Mann einen Esel, der schon lange Jahre die Säcke unverdrossen zur Mühle getragen hatte, dessen Kräfte aber nun zu Ende gingen, so dass er zur Arbeit immer untauglicher ward. Da dachte der Herr daran, ihn aus dem Futter zu schaffen, aber der Esel merkte, dass kein guter Wind wehte, lief fort und machte sich auf den Weg nach Bremen; dort, meinte er, könnte er ja Stadtmusikant werden.

Im Märchen der Brüder Grimm teilen Esel, Hund und Katze ein gemeinsames Schicksal: Sie haben ihre Jugend hinter sich, erfüllen die Erwartungen ihrer Herren an ihre Arbeitskraft nicht mehr und machen sich deshalb auf, eine Lebensform zu finden, die ihren Fähigkeiten entspricht und ihnen gefällt. Sie nehmen noch den Hahn mit, der beinahe im Kochtopf gelandet wäre. Die vier beginnen kurzerhand ein neues Leben, indem sie sich auf ein gemeinsames Ziel ausrichten und so neuen Lebensmut und neue Lebenskraft schöpfen. Vielleicht können die Bremer Stadtmusikanten damit ein Sinnbild für uns sein. Denn auch für uns steht im Alter ein neuer Lebensentwurf an.

Wir leben inmitten radikaler Veränderungen: Noch nie gab es so viele Alte, denn unsere Lebenserwartung hat sich in den letzten 130 Jahren verdoppelt. Sie liegt heute durchschnittlich bei 82 Jahren für einen Mann und bei 85 Jahren für eine Frau, Tendenz steigend. Und je länger wir zu leben haben, desto interessanter wird für jede und jeden von uns die Frage danach, wie wir unser Leben gestalten wollen und können, damit es lange gut ist. Noch nie stand uns so viel Wissen und Erfahrung zur Verfügung darüber, was Älterwerden biologisch, psychologisch, sozial und spirituell bedeutet und wie es sich gut gestalten lässt. In unserem Buch bringen wir aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und Experimente zum eigenen Erproben dieser Erkenntnisse im Alltag zusammen.

Wie wollen wir die zweite Hälfte oder das letzte Drittel unseres Lebens auf der Erde nutzen? Wie gehen wir gut mit dem Geschenk des Lebens um, wenn wir ab der Lebensmitte spüren, dass der Vorschuss der Jugend an Gesundheit und Vitalität endlich ist und von jetzt an durch angemessene Maßnahmen erhalten werden will? Was heißt angemessen? Wie schaffen wir für uns Lebensbedingungen, die den natürlichen Bedürfnissen unserer Art des Homo sapiens sapiens, also des mordernen wissenden Menschen entsprechen? Wie ernähren, bewegen, belasten und erholen wir uns „artgerecht“? Und was tun wir mit den gewonnenen Jahren? Was wollen wir erleben und bewegen? Wofür wollen wir uns einsetzen?

In Zukunft wird die Lebensarbeitszeit sehr wahrscheinlich wieder länger werden, da weniger Junge nicht mehr die Rente all der vielen Alten erarbeiten können. Zugleich scheinen die Unterschiede zwischen der Alltagsgestaltung und der Sprache von Jungen und Alten immer größer zu werden. Wie bleiben wir dabei miteinander verbunden?

Es gibt so viel Sinnvolles, drängend Wichtiges und Schönes gemeinsam zu entdecken und zu verwirklichen wie noch nie. Wie wäre es, sich z.B. für Natur- und Klimaschutz einzusetzen? Der Erhalt der Natur und die Suche nach menschen- und lebensfreundlicheren Wertorientierungen und praktischen Umsetzungen im Alltag treiben immer mehr Menschen um. Und obwohl die Zeit gesellschaftlich drängt, haben wir heute individuell deutlich mehr Lebenszeit dafür. Es ist eine wunderbare Zeit zum Älterwerden!

Diese Fragen und Visionen waren für uns Anlass, das vorliegende Buch zu schreiben. Wir schöpfen dabei aus unseren eigenen Erfahrungen mit dem Älterwerden und aus der langjährigen wissenschaftlichen und praktischen Beschäftigung mit den Themen Gesundheit, Achtsamkeit und Entwicklung. Für unsere Lebensgestaltung spielen Stichworte wie Ressourcenorientierung und Selbstfürsorge eine wichtige Rolle. Antworten suchen wir auch in aktuellen, vor allem naturheilkundlichen und mind-body-medizinischen Erkenntnissen. Wir gehen davon aus, dass wir als „System Mensch“ nach Heilung, Ganzwerdung und Ordnung streben, und dass selbst Krankheiten, Behinderungen oder Störungen im Grunde Ausdruck eines nach Balance und Entwicklung strebenden Organismus sind. Unsere „kranken“ Anteile drücken einen noch nicht verstandenen, noch nicht integrierten Anteil unserer Lebensenergie aus, die wir jedoch grundsätzlich in der Lage sind zu verstehen, zu „behandeln“ und mit Sinn zu füllen.

Als Orientierung für unsere Suche dient uns eine Haltung zum Leben, die von Achtsamkeit geprägt ist. So finden Sie diesen Begriff nicht nur in der Überschrift, sondern auch strukturgebend in den Dimensionen des Menschseins, an denen wir uns orientieren möchten.

Diese Dimensionen lassen sich als eine Spirale vorstellen, die sich in immer größer werdenden Kreisen weitet und sich im wahrsten Sinne des Wortes wie ein Farn im Frühling entwickelt. Dabei sehen wir diese Kreise als Aspekte eines integrierten Ganzen, die einerseits deutlich unterscheidbar sind, zum andern aber auch untrennbar miteinander verbunden. Das entstehende Bild, das den Jahresringen eines Baumes ähnelt, begleitet uns durch die Kapitel dieses Buches.


Dimensionen des Menschseins:

Ganzheit

Körperliche Alternsprozesse

Emotional-geistige Dimension

Soziale Dimension

Räumliche Lebenswelt

Ökologie & Natur

Transpersonale-integrale-Einheit

Achtsamkeit

Was meinen wir, wenn wir sagen, das Prinzip der „Achtsamkeit“ sei das zentrale Thema für unser Verständnis von einem glückenden Leben und Altwerden?

Achtsamkeit bezeichnet für uns eine Geisteshaltung. Dabei geht es um eine bestimmte Art und Weise, mit unserer Aufmerksamkeit umzugehen. Im Alltag wird unsere Aufmerksamkeit ja von äußeren und inneren Ereignissen angezogen, die wir wahrnehmen, interpretieren und uns dann danach richten. Wenn einmal nichts passiert, was selten genug der Fall ist, dann erschafft unser Denken Inhalte, mit denen unsere Aufmerksamkeit sich beschäftigen kann. Unser Geist hält uns gewohnheitsmäßig auf Trapp und versucht, Momente des wirklichen Nichtstuns zu vermeiden.

Dabei erleben wir Glück auf Dauer nur, wenn es uns hin und wieder gelingt, aus dem Tun und Erreichenwollen auch in ein gelassenes und erfülltes Sein zu gelangen.

Das ist eigentlich ganz einfach, und dennoch fällt es uns oft so schwer, diese Momente zuzulassen. Es scheint, als ob wir in uns eine antreibende Kraft haben, die diese glückhaften Momente verhindert. In einer aktuellen Studie zeigen amerikanische Forscher, dass von fast 500 Studienteilnehmern kaum jemand Freude daran hatte, für eine Weile von 6–15 Minuten allein zu sein und nichts zu tun, weder zu Hause, noch in einem Studienraum (Wilson et al. 2014).

Viele unterbrachen diesen Zeitraum auch gegen die Abmachung mit Aktivitäten, z.B., um auf ihr Handy zu sehen. In einem Test mit 55 Personen verabreichten sich in dieser Zeit des Nichts-Tuns sogar 71 % der Männer und 25 % der Frauen aus Langeweile Elektroschocks, die sie zuvor als deutlich unangenehm bewertet hatten.

Wie kommt es, dass wir immer etwas zu tun brauchen und uns sogar lieber Schmerzen zufügen, als auch nur für eine viertel Stunde einfach nur da zu sein? Entspringt vielleicht sogar unsere ganze „Zuvielisation“ mit all ihren Unterhaltungs- und Beschäftigungsstrategien diesem Drang, der Stille und dem einfach nur Da-Sein zu entkommen? Vielleicht haben sich im Verlauf der letzten 100 000 Jahre besonders die Gene von den Menschen durchgesetzt, die sich immer mit irgendetwas beschäftigt haben, die nicht zufrieden waren mit ihrer Gegenwart? Wenn das so ist, wäre Aktivismus, dauernde Unzufriedenheit und das „Tun“ dagegen ererbt und das simple „Sein“, auch das Glücklichsein, eine nicht vorgesehene Ausnahmesituation.

Schützt Achtsamkeit vor Erschöpfung?

Überlastung, Burnout, chronische Erschöpfung sind die neuen Epedemien, dabei hatten wir noch nie so viele technische Möglichkeiten, uns das Leben zu erleichtern. Wie soll das weiter gehen, vor allem auch dann, wenn in den nächsten Jahren deutlich weniger vitale junge Menschen heranwachsen?

Im Rahmen einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in Auftrag gegebenen Studie zum Einfluss des demografischen Wandels auf Kreativität und Leistungsfähigkeit von Forschern und Entwicklern in Deutschland haben wir untersucht, ob Achtsamkeit eine Schutzwirkung auf psychische Belastung, Gesundheit und Arbeitsfähigkeit hat und wenn ja, welche (www.iai-bochum.de/kreare). Dazu befragten wir 398 Beschäftigte aller Altersgruppen aus Forschung & Entwicklung. Die Auswertung der Antworten zeigte, dass mit 62 % über die Hälfte aller Befragten angaben, Symptome mittlerer und starker Erschöpfung aufzuweisen, d.h. unter Schlafstörungen zu leiden, sich ausgelaugt und lustlos zu fühlen, schnell irritierbar sowie generell erschöpft, müde und ausgebrannt zu sein.

Als Schutzfaktor fanden wir bei den Befragten eine ausgeprägte „Selbstachtsamkeit“. Dies bedeutet, dass die Person sich für ihre eigenen Fehler und Schwierigkeiten nicht verurteilt, dass sie sich selbst freundlich behandelt, wenn Dinge im Leben schief gehen, dass sie mit Humor wahrnehmen kann, wie sie sich manchmal das Leben schwer macht, und dass sie auf die Motive ihrer Handlungen achtet. Die Datenanalyse ergab, dass die befragten Personen, die einen solchen bewussten und freundlich achtsamen Selbstbezug aufweisen, geringe Anzeichen für eine vitale Erschöpfung zeigen. Unsere Daten legen nahe, dass Selbstachtsamkeit als eine zentrale Gesundheitsressource vor Überschätzung der eigenen Kraftreserven, vor Überforderung und einer nachfolgenden vitalen Erschöpfung schützt. In weiteren Forschungsprojekten untersuchen wir, wie sich diese Erkenntnisse so in die betriebliche Gesundheitsförderung integrieren lassen, dass die Ressourcen der Beschäftigten für freudvolles, gesundes und kreatives Arbeiten über viele Jahre erhalten bleiben (www.iai-bochum.de/refo).

Im Moment verweilen

Wir möchten mit diesem Buch anregen, die Aufmerksamkeit immer wieder nach innen zu lenken, um wahrzunehmen, was sich in uns regt, welche natürlichen Bedürfnisse und Rhythmen uns bestimmen und wie wir fürsorglich mit unserer inneren Natur umgehen können. Damit verbunden ist eine Haltung von Achtung und Fürsorge. Aus ihr heraus können wir üben, die Erscheinungen in uns und in der Welt zunächst achtungsvoll wahrzunehmen, bevor wir vielleicht Urteile fällen, und uns dem Wahrgenommenen zuwenden oder uns davon abneigen. Wenn ich z.B. bemerke, dass mein Herz schnell schlägt, kann ich mich dieser Wahrnehmung zuwenden, die damit einhergehenden Körperempfindungen beachten und auch die Gedanken und Gefühle, die mein Geist dabei erzeugt, bemerken, ohne ihnen gleich schon zu glauben oder mich mit ihnen zu identifizieren.

Draußen in der Natur fällt es manchmal leichter, präsent zu sein. Denn im Wald zeigen sich die scheuen Bewohner nur, wenn wir unsere Aktivitäten sein lassen. Erst wenn wir ganz still für eine Weile an einem Ort bleiben, zeigen sich die Tiere. Eins nach dem anderen kommen sie dann aus ihren Verstecken. Das Stille und Verborgene entzieht sich dem Lärm und der Geschäftigkeit. Das gilt draußen im Wald und auch in unserem Innern. Was sich da wohl zeigen würde, wenn wir nach innen hin still würden?

Der Wunsch und gleichzeitig das Unvermögen, im Moment zu verweilen, ist ein altes Thema. Der Lausitzer Mystiker Jakob Böhme fand Anfang des 17. Jahrhunderts, „wem Zeit ist wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit, der ist befreit von allem Leid“. Und 200 Jahre später lässt Goethe seinen Weltenerforscher Faust eine Wette mit Mephisto abschließen, dass er nie ruhen werde in seinem Forscherdrang und nie auch nur zu einem Augenblick sagen werde, „Verweile doch, Du bist so schön“. Sie erinnern sich: Der Leibhaftige verspricht Faust alle Unterstützung, um seinen unbändigen Forscherdrang entfalten zu können. Im Gegenzug bietet Faust ihm seine Seele für den Fall an, dass er jemals in seinem Drängen nachlassen sollte und sich von einem Augenblick wünschte, dass er verweilen möge, weil er so schön ist.

Goethe veröffentlichte seinen Faust I im Jahr 1808. Da begann gerade die industrielle Revolution, und immer mehr Menschen wandten sich ab von der durch direkten Naturbezug und Naturrhythmen geprägten bäuerlichen Lebensweise und zogen in die Städte. Dort wurde der Lebenstakt bald von Maschinen, Fließband, Stechuhr, rollender Schicht und Effizienz geprägt.

Spätestens seit Anfang des 19. Jahrhunderts stürmen und drängen wir nun in faustischer Manier von einer Entdeckung zur nächsten Erfindung und immer schneller immer weiter, dass uns kollektiv schon ganz schwindelig geworden ist.

Aufmerksamkeitsdefizite, Depressionen, Burnout, Übergewicht, frühe Herzinfarkte und andere Symptome der maßlosen Beschleunigung des Lebens eskalieren. Psychische Probleme nehmen epidemische Ausmaße an. Unser Leben erscheint uns außer Rand und Band. Und dabei scheint sich die Lebensgeschwindigkeit immer noch weiter zu erhöhen. Und wir, unsere Kinder und Enkel treiben atemlos mit.

„Verweile doch, Du bist so schön“

Was halten Sie davon, wenn wir das Zeitalter des faustisch getriebenen Schneller, Weiter, Mehr beenden? Heute, jetzt, hier. Es ist an der Zeit. Weder wir Menschen, noch die Erde halten dem Wachstumswahnsinn weiter stand. Es ist so deutlich absehbar, dass die Ressourcen in uns und in der Natur sich bald erschöpfen, wenn wir uns jetzt nicht besinnen und auf Regeneration umschalten. Halten wir inne und lassen das Zeitalter der Nachhaltigkeit beginnen.

Beginnen wir am besten mit uns selbst. Erlauben Sie sich den nächstbesten Moment mit einem „Verweile doch, Du bist so schön“ zu begrüßen. Stoppen Sie Ihre Agenda für eine Weile und lassen Sie sich in diesem Moment zur Besinnung nieder. Nehmen Sie wahr, was sich Ihren Sinnen darbietet. Schauen, riechen, fühlen, horchen, schmecken Sie den Moment in seiner prallen Fülle. Lassen Sie Ihre Brust sich mit einem genüsslichen tiefen Atemzug weiten. Vielleicht mögen Sie eine Hand auf Ihr Herz legen und sich dem Wunder dafür öffnen, dass Sie jetzt hier, an diesem Ort, warm, lebendig und bewusst gegenwärtig sind.

In solchen Momenten des Zu-uns-Kommens kann sich unser Sein weiten. Statt Enge und Ängstlichkeit können wir dann Ruhe und Freude am Sein empfinden, vielleicht auch Dankbarkeit für das Leben. Ihre Seele hat in diesen Momenten Gelegenheit, mit Ihrem Geist und Körper aufzuholen. Wenn Ihnen das gut tut, dann gönnen Sie sich solche achtsamen Momente immer wieder. Ein paar Minuten am Tag verändern schon Ihren Lebenstakt und Ihr Lebensgefühl. Eine Studie von französischen Kollegen findet Bestätigung dafür, dass eine Praxis von Achtsamkeit Ängstlichkeit reduziert und zugleich die Wahrnehmung für Zeit verlangsamt (Droit-Volet et al. 2014).

10,30 €