Au revoir, Tegel

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Au revoir, Tegel
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Bettina Kerwien

Au revoir, Tegel

Ein Kappe-Krimi

Jaron Verlag

Bettina Kerwien lebt in Berlin und studierte Amerikanistik und Publizistik. Als Geschäftsführerin eines Stahlbauunternehmens widmet sie jede freie Minute dem Schreiben. Im Jaron Verlag veröffentlichte sie 2017 ihren Berlin-Krimi «Mitternachtsnotar».

Originalausgabe

1. Auflage 2019

© 2019 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin

Satz: Prill Partners | producing, Barcelona

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

ISBN 978-3-95552-043-4

Für meinen Vater Günter Kerwien (1935–2018), 1969–1991 Elektromechanikermeister Tegel-Nord. Es ist auch sein Flughafen.

Je voudrais que mon âme s’envolât vers le ciel

par une toute petite ouverture de mon cœur.

(Ich wünschte, meine Seele könnte durch eine ganz kleine

Öffnung in meinem Herzen in den Himmel entgleiten.)

Elisabeth von Österreich-Ungarn («Sisi»)

Inhalt

Cover

Titel

Über die Autorin

Impressum

Prolog: Dienstag, 3. September 1974

Kapitel Eins: Freitag, 6. Dezember 1974

Kapitel Zwei: Samstag, 7. Dezember 1974

Kapitel Drei: Sonntag, 8. Dezember 1974

Kapitel Vier: Montag, 9. Dezember 1974

Kapitel Fünf: Dienstag, 10. Dezember 1974

Kapitel Sechs: Mittwoch, 11. Dezember 1974

Kapitel Sieben: Donnerstag, 12. Dezember 1974

Kapitel Acht: Freitag, 13. Dezember 1974

Kapitel Neun: Samstag, 14. Dezember 1974

Kapitel Zehn: Sonntag, 15. Dezember 1974

Kapitel Elf: Freitag, 20. Dezember 1974

Nachwort

Es geschah in Berlin …

PROLOG
Dienstag, 3. September 1974

IM KALTEN SPRÜHREGEN des frühen Abends passiert Peter Kappe ein gelbes Schild mit einer Warnung in ungelenkem Deutsch.

HALT! Hier wird geschossen!

Darunter ein paar kyrillische Buchstaben, die er nicht lesen kann. Dahinter ein Truppenübungsplatz der Roten Armee.

Kappe ist dienstlich in Hamburg gewesen, keine große Sache, aber jetzt geht es nach Hause. Er nimmt die Fernverkehrsstraße 5 über Lauenburg, die Transitstrecke nach West-Berlin oder Berlin (West) – der eine sagt so, der andere so. Auf den Verkehrsschildern des Arbeiter-und-Bauern-Staates heißt es sogar Transit Westberlin. Himmelsrichtung und Name in einem Wort, als sei das Westliche ein Merkmal, das dieser Stadt vor allem anderen anhaftet.

Kappes Name ist unauffällig genug, sein Privat-Pkw auch. Der Blick des DDR-Grenzers an der Kontrollstelle Lauenburg / Horster Damm streift nur müde über das Olivgrau des behelfsmäßigen Personalausweises. Dann winkt er den in die Jahre gekommenen beigegelben Opel Rekord durch.

Es ist jedes Mal wieder da, dieses Transit-Gefühl. Als wäre Kappes Wagen eine Sojus-Kapsel in einer fremden Galaxie. Als würden die Richtungsschilder ihm einen Weg zum Notausgang weisen.

Er muss daran denken, wie er vor drei Tagen seiner Frau Sarah gesagt hat, dass das Landeskriminalamt Hamburg ihn angefordert habe. Nur für eine Gegenüberstellung. Den Hamburgern sind ein paar Leute ins Netz gegangen, die sich nach einer Großrazzia am Bahnhof Zoo verdünnisiert hatten. Normale Polizeiarbeit. Aber Kappe hat genau gewusst, was dieser Blick seiner Frau bedeutete. Auch die Geste, mit der sie die Kleine an sich gepresst hat.

In der Dämmerung blockiert ein LPG-Trecker mit Mist vor ihm die F5. Es riecht nach Abgasen und Landwirtschaft. Die Straße führt durch kriegsversehrte Ansiedlungen. In engen Kurven rutscht Kappes Wagen über feuchtes Kopfsteinpflaster. Streckenweise fährt sich die F5 wie eine Dorfstraße. Er erhascht Blicke in leere Schaufenster, sieht mürrische Menschen mit Atemfahnen und Dederon-Einkaufsnetzen zusammenstehen und im trüben Licht der Betonmasten schweigen, Jugendliche, die rauchen und Westautos begaffen. Hühner scharren im Graben. Das Leben in diesem fremden Land kommt Kappe auf viel zu persönliche Art nahe.

Dann ist es endgültig Nacht über der Straße. Kappe fährt gerne in die Dunkelheit hinein. 248 Kilometer Nacht bis Berlin. Er folgt nur noch dem Lichtkegel seiner Scheinwerfer. Kasernen, Neubaublocks und Alleebäume ziehen vorbei. Entgegenkommende Wagen blenden auf und ab. Um das Rauschen der Reifen auf dem Landstraßenbeton zu übertönen, schaltet Kappe das Radio an. Erst findet er nur Frequenzknistern, dann ein Lied von den Puhdys, Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt. Regenmusik. Kappe ist erst 33, er kann Nazareth oder Gary Glitter trotzdem nichts abgewinnen. Dieses Hysterische im Rock, das ihm eine Zeit lang erfrischend erschien, kommt ihm nun aufgesetzt vor. Die Stones hat er seit dem lächerlichen Waldbühnen-Konzert abgehakt. Ein Musiker, der bei einem Liveauftritt versagt, ist kein Musiker. Also hat Kappe nach dem Umzug seine Blue-Note-Scheiben wieder rausgekramt. Aber wenn er im Osten leben würde, würde er wohl auch die Puhdys hören.

Kappe ist, was sich in trotziger Umdeutung der prekären Rumpfexistenz dieses Fleckchens Erde einen freien West-Berliner schimpft. Er hat ein Jahr im Wendland gelebt, dann ist er freiwillig zurückgekehrt. Er müsste eigentlich Selbstbewusstsein und Schwung haben, sich auf sein stolzes Zuhause freuen, dieses Leuchtfeuer der Freiheit, dieses Schaufenster des Westens. Auf Frau und Tochter müsste er sich freuen. Aber zu Hause gibt es Diskussionsbedarf. Nur ist Kappe zu feige, das Problem anzusprechen. Und das, obwohl er als Laberbulle beim Diskussionskommando des Referats MEK 5 in Krisenkommunikation geübt ist. Er ahnt, dass Sarah nicht mit sich über ihren neuen, mit Wochenend- und Nachtschichten verbundenen Arbeitsplatz im Rudolf-Virchow-Krankenhaus verhandeln lässt. Aber wohin mit dem Kind?

Das Puhdys-Lied ist zu Ende. Der Radiomoderator kündigt ein Interview mit Jürgen Sparwasser an, dem Torschützen der DDR-Fußballnationalmannschaft, die am 22. Juni im Hamburger Volksparkstadion die sogenannte BRD 1:0 besiegt hat.

«Das war kein normales Spiel», erzählt der DDR-Stürmer. «Es kommt die 78. Minute, ein Abwurf von Jürgen Croy auf die rechte Seite. Erich Hamann läuft mit dem Ball über die Mittellinie und schlägt diesen wunderbaren Diagonalpass über vierzig Meter auf die linke Seite. Eigentlich bin ich bescheuert gewesen, überhaupt loszulaufen. Da warteten vier gegnerische Spieler auf mich: Berti Vogts, Horst-Dieter Höttges, Bernd Cullmann und Sepp Maier im Tor. Es ist wahrscheinlich eine Frage des Instinkts, es trotzdem zu tun. An und für sich wollte ich den Ball mit der Brust nehmen, aber ich habe ihn direkt auf die Nase bekommen. Doch genau das verschaffte mir den entscheidenden Vorteil vor Höttges.»

Sparwasser machte das Tor. Weltmeister wurde trotzdem die BRD. Aber dieser Sieg im direkten Vergleich ist einzigartig und historisch. Kappe gönnt den Menschen im Osten den Augenblick des Triumphs.

Sparwasser redet weiter, doch Kappe ist mit seinen Gedanken woanders. Fußball interessiert ihn nicht mehr. Früher ist er ab und an mit seinem Vater und seinem Großonkel ins Stadion gegangen. Aber er ist Jahrgang ’41, ein Kriegskind. Nichtigkeiten wie Sport regen ihn nicht mehr auf, seit er Familie hat. Politisch interessiert es ihn aber als West-Berliner, dass Paul Breitner mit Jürgen Sparwasser das Trikot getauscht hat. Es wäre schön, wenn sich die sportliche Entspannung auch in einem politischen Tauwetter niederschlagen würde. Diese harsche Belagerungsatmosphäre in West-Berlin frisst an Kappe. Auch dass man nicht mal eben zum Weihnachtsbaumschlagen ins Umland fahren kann. Er hofft, dass es nie wieder Krieg geben wird. Erst seitdem er sich bei der Kripo jeden Tag mit Gewalt konfrontiert sieht, begreift er, wie sehr ihn der Krieg geprägt hat.

 

Kappe klemmt sich die Thermoskanne zwischen die Knie, schraubt mit einer Hand den Deckel ab und trinkt sich eine angenehme Wärme ins Blut. In knapp vier Monaten ist Weihnachten. Wenn er über das Politische hinaus noch einen Wunsch frei hätte: Es wäre schön, wenn Sarah nicht jede Nachtschicht machen würde, die auf ihrem Dienstplan steht. Das zusätzliche Geld erleichtert einiges. Aber eigentlich brauchen sie es nur für die neue, große Wohnung. Drei Zimmer in Charlottenburg mit Balkon und Kinderzimmer, Wundtstraße 11, erster Stock. Gleich bei seinen Eltern um die Ecke.

Im Sommer 1973, nachdem Kappe den Kripo-II-Lehrgang beendet hatte und zum Kriminalkommissar zur Anstellung ernannt worden war, waren Sarah, Tabea und er aus der kleinen, günstigen Zwei-Zimmer-Neubauwohnung an der Lindauer Allee in Reinickendorf nach Charlottenburg umgezogen. Gehobener Polizeidienst beim Landeskriminalamt – das war schon was. Und da Kappe Akademiker ist, hatte die Behörde auf das normalerweise auf diese Ausbildung folgende Praktikum mit einer einjährigen Rotation in verschiedenen Dienststellen verzichtet. Er wurde zunächst beim Referat M, KI MII verwendet, das für Sittlichkeitsdelikte zuständig ist. Als Psychologe kamen ihm dort seine Kenntnisse in Gesprächsführung bei Vergewaltigungs- und Missbrauchsopfern zugute. Nach einer Anstandsfrist hatte er sich für die Mordkommission beworben. Seither sinniert Kappe darüber, ob das richtig war. So nahe am eigenen Vater, der bei der MK 1 nebenan sitzt. Ist er angekommen? Oder wäre er als klinischer Psychologe glücklicher? Nein. Ein Psychologe, der einen Patienten behandelt, wirkt immer nur auf diese eine Person. Ein Polizist, der einen Verbrecher verhaftet, wird zumindest bei Täter und Opfer wirksam. Das sind schon mal zwei.

Kappe nimmt noch einen Schluck Kaffee. Solange er sich an dem heißen Getränk festhalten kann, wird vielleicht doch noch alles gut werden.

Linker Hand tauchen die trüben Lichter der Raststätte Quitzow auf. Es ist der einzige Halt zwischen West und West, im Nirgendwo hinter Perleberg. Kappe lenkt den Wagen von der Straße. Er muss rauchen. Er hat das Rauchen für sich entdeckt, als er für den Kripo-Lehrgang gelernt hat. Ein Mann muss ein Laster haben, das die Nerven beruhigt. Kappe kann besser denken, wenn er raucht. Und gegen das Zigarettenrauchen kommt ihm der gelegentliche Joint seiner Studientage wie ein Dauerlutscher vor. Ja, Rauchen soll ungesund sein. Aber nur wer gefährlich lebt, lebt ganz. Der Spruch gefällt ihm. Der ist von John Wayne oder so, aus irgendeinem Schundwestern.

Peter Kappe kann nicht im Auto rauchen. Nicht weil ihn seine Mutter zu gut erzogen hätte, sondern weil es im Auto noch nach Sarahs Parfüm riecht, irgendwie jung, irgendwie frei. Das soll so bleiben. Auch wenn die verzauberte Phase ungetrübter Anhimmelung in ihrer Beziehung seit einiger Zeit vorbei ist. Sarah arbeitet zu viel. Sie gibt das Kind zu oft bei Kappes Mutter ab. Sie haben zu selten Zeit füreinander. Er vermisst die Zweisamkeit. Gleichzeitig ärgert ihn, dass ihn das ärgert. Was ist los mit ihm? Wird er zum Spießer, seit er bei der Kripo ist? Wird er vielleicht sogar wie seine Mutter Gertrud, die jahrzehntelang an den Arbeitszeiten seines Vaters Otto herumgenörgelt hat? Um Gottes willen! Vielleicht wird diese Entwicklung von dem Bircher Müsli begünstigt, das er täglich frühstückt. Jedenfalls muss das aufhören. Der Diplom-Psychologe Kappe verordnet sich selbst Milde, Gelassenheit und Humor. Und eine Pause von zwei Zigarettenlängen.

Im Schaukasten des Mitropa-Restaurants hängt eine maschinengeschriebene Speisekarte: ein Glas Vollbier hell für 43 oder dunkel für 25 Pfennig, der Goldbroiler mit Gurkensalat und Salzkartoffeln für 5 Westmark. Frei konvertierbare Währung, wie es auf einem Schild heißt.

Kappe benutzt die Toilette. Den Vorraum ziert eine gelbe Blumentapete. Die Rohre aller Pissoirs liegen auf Putz. An den Siphons läuft eine rostige Brühe ab. Der Uringestank sticht. Kappe atmet flach. Er ist sehr groß und muss sich herunterbeugen, um im Spiegel über dem Handwaschbecken seinen Bartschatten und seine Augenringe anzustarren. Er trägt einen seiner schwarzen Rollkragenpullover und die taillierte, leicht ausgestellte Gabardinehose. Sein dunkles Haar ist zu lang. In einer Karfreitagsprozession würde er einen erstklassigen gepflegt verhungerten Jesus abgeben. Anscheinend schafft er es trotzdem nicht, West-Berlin durch sein Leiden zu erlösen.

Im Restaurant ist Kappe der einzige Gast. Er bestellt einen Bohnenkaffee. 75 Pfennig. Als der Kellner die Tasse bringt, hält Kappe ihm seine Schachtel Ernte 23 entgegen. Der Kellner steckt sich die Zigarette sofort an. Sie kommen ins Gespräch. Kappe fragt ihn, warum der Parkplatz voll und das Restaurant trotzdem leer ist.

«Die sin alle im Intershop», wispert der Mann. «Ham neujerdings urst ville Westjeld inne Tasche. ’ne Postmaschine vonne Amis is wohl nachts bei de Russen auf ’m Truppenübungsplatz Döberitz abjeschmiert, mit jede Menge D-Mark im Jepäck!»

Kappe staunt gebührend. Von diesem Sterntaler-Märchen hat er noch nie gehört. Aber die Geschichten, die sich die Menschen zusammenfantasieren, gleichen sich doch auf der ganzen Welt.

Er geht noch kurz in den Intershop, um für seine Frau das Parfüm zu kaufen, Charlie von Revlon. Kappe mag den leichten Jasminduft. Er stellt sich vor, dass so Frauen riechen, die zu ihrem Glück keine Männer brauchen.

Die Schlange vor der Kasse ist lang. Der Mann vor ihm mit seiner militärischen Haltung und dem kurzgeschorenen weißblonden Haar sieht aus, wie Kappe sich einen Offizier der Volksarmee in Zivil vorstellt. Er schiebt einen randvollen Einkaufswagen. Alkohol, Zigaretten, Feinstrumpfhosen. Kappe hält etwas Abstand. Er sollte wieder eine Zeitung abonnieren. Auf dem Präsidium liegt ja immer nur der Berliner Blitz aus. Der Ostler an sich sei ein Bösewicht, will die konservative Boulevardpresse ihre Leser glauben machen. Das war schon bei Adenauer so, und das bleibt auch so. Ein klares Feindbild gibt noch dem tristesten Tag Struktur.

Ganz vorne in der Kassenschlange steht ein kleiner Junge in aufgetragenen kurzen Hosen. Das Kind hievt eine einzelne Konservendose mit Ananasscheiben neben der Registrierkasse auf den Tresen. Es ist eine prächtige Dose. Der Junge hat nur Augen dafür. Acht Scheiben Ananas, natursüß, mit Fruchtmark, handverlesen. Die Fruchtscheiben auf dem Etikett strahlen mit dem Gesicht des Kleinen um die Wette.

Die Kassiererin nennt den Preis. Der Junge zählt sein Westgeld. Ein Markstück, viele Groschen, das meiste Pfennige. Dann hört Kappe in der schäbigen Hosentasche nur noch das dumpfe Geräusch von DDR-Aluminium. Es fehlen zwanzig Westpfennige.

«Reicht nicht», sagt die Kassiererin. Es klingt barsch, und sie meint es barsch.

Ein vorwurfsvolles Scharren und Atmen geht durch die Schlange der Wartenden.

Die Kassiererin schiebt das Westgeld von sich weg. «Zurückstellen!», kommandiert sie.

Das Kind wird blass. Kappe greift nach seinem Portemonnaie.

Der Offizier tritt nach vorne. «Haben Sie kein Herz, Genossin?» Er lächelt, legt dem Jungen die Hand auf die Schulter und stellt die Ananas-Dose in seinen eigenen Einkaufswagen. Dann gibt er der Kassiererin einen der dunkelblauesten, neuesten 10-D-Mark-Scheine, die Kappe je gesehen hat.

Die Kassiererin hält den Schein gegen das Licht. Er ist am Rand verkohlt. Sie steckt den Zehner kommentarlos in die Geldschublade und knallt sie zu. Der Offizier zögert. Seine Geldbörse hat er noch in der Hand. Er öffnet den Mund, als wolle er die Kassiererin etwas fragen. Aber die blafft ihn an: «Weitergehen! Der Nächste!» Er gehorcht.

Peter Kappe tritt vor und zahlt das Parfüm mit einem Hunderter. Als er das Wechselgeld ins Portemonnaie steckt, sieht er, dass die Kassiererin ihm den angekohlten Zehner gegeben hat. Er will sich beschweren, doch da spürt er, dass er beobachtet wird. Der Offizier steht hinter einem Stapel Dujardin-Kisten und fixiert ihn. Es ist kein unauffälliger Blick, und er liegt wie eine schwere Hand auf Kappes Schulter. Unwillkürlich denkt Kappe: Flugzeugabsturz – Feuer – verkohltes Geld fällt vom Himmel. Er steckt sein Portemonnaie in die Hosentasche. Und macht ein Gesicht, als könne er kein Wässerchen trüben.

Als er mit feuchten Händen in seinen Opel Rekord steigt, fühlt er sich, als hätte er etwas im Laden gestohlen und wäre dabei erwischt worden. Eine unsichtbare Berührung kitzelt ihn zwischen den Schulterblättern. Wird er beobachtet? Die Nacht ist dunkel und regenschwer. Während der Transitfahrt schaut Kappe immer wieder in den Rückspiegel, aber es folgt ihm niemand.

EINS
Freitag, 6. Dezember 1974

NEUN GRAD, bedeckt, leichter Regen. Der Dezember beginnt in diesem Jahr mild, fast wie am Mittelmeer. Die Frühmaschine der Air France aus München-Riem ist über den Südkorridor im Anflug auf Berlin-Tegel, Flughöhe dreitausend Meter. Es ist ein ruhiger Flug.

An Bord der Caravelle befinden sich zahlreiche sehr glückliche, zumindest aber sehr erfolgreiche Menschen. Fliegen ist Luxus. Nach der Ölkrise im vergangenen Jahr verlangen einzelne Fluggesellschaften Kerosinzuschläge. Und das, während die Wirtschaft in Deutschland stagniert. Das ist man nicht gewohnt im Wirtschaftswunderland. In den vergangenen Jahren haben viele Reisende ihre Flüge von dem bezahlt, was sie sich mit Überstunden dazuverdient haben. Aber das Jahr 1974 begann mit Tarifauseinandersetzungen, Streiks, Kurzarbeit. Die Flüge von und nach West-Berlin werden seit 1962 von der Bundesregierung subventioniert. Ausgenommen ist die erste Klasse. Deshalb genießt Josef Bolp den Flug umso mehr. Die Zeitung zahlt schließlich. Bolp, vor einem Monat zum Chefreporter beim Berliner Blitz befördert, fühlt sich, als hätte er im Leben alles erreicht. Er hat einen Fensterplatz in der ersten Klasse, er hat eine Flasche Champagner, und er hat eine Spitzenaussicht auf das phänomenale Hinterteil einer Air-France-Flugbegleiterin. Bolp testet den vor zwei Monaten neu eröffneten West-Berliner Großflughafen Tegel-Süd für sein Blatt. Taugt der sechseckige Terminalring mit dem dreieckigen Abfertigungsgebäude aus rohem Beton überhaupt für Otto Normalverbraucher? Tegel soll West-Berlins Tor zur westlichen Welt werden, der modernste «Drive-in-Airport», den es gibt. Also allet schnieke?

In der Reihe schräg vor dem Reporter sitzen internationale Berühmtheiten. Bolp hat Chansonsängerin René Bliss erkannt. Ihre Version des Piaf-Chansons La vie en rose läuft im Radio rauf und runter. Sie hat ihre Fernsehballettbeine übergeschlagen und wippt mit dem exquisiten Fußgelenk. Bolp ist klar: Man nennt René nicht grundlos die schönste Frau West-Berlins. Und diese Frau ist verliebt. In ihre neuen roten Lackleder-High-Heels mit den sexy 15-Zentimeter-Stilettoabsätzen. Die Schuhe haben die gleiche Farbe wie Renés Lippenstift.

Neben der Chanson-Königin hat Josef Bolp Marc Monroe ausgemacht. Bolp weiß, so einen Typen wie den nennt man einen «Glamrocker». Der Sänger aus London umklammert Renés Hand. Bolp fragt sich, wann der Kerl zuletzt feste Nahrung zu sich genommen hat. Irgendetwas zerfrisst ihn. Seine Lippen sind trocken, die Gesichtshaut klebt ihm am Schädel. Als Reporter arbeitet Bolp gerne mit Klischees, das verkürzt die Prosa. Und dieser Monroe sieht aus wie ein degenerierter englischer Lord nach einem langen dunklen Winter. Das blonde Haar hat er sich mit reichlich Boheme-Attitüde und Frisiercreme an den Scheitel gespachtelt. Er trägt einen Hut und einen weißen Anzug mit Weste. Noblesse oblige. An der messerscharfen Unterlippe klebt ihm eine Zigarette. Die Konkurrenz schreibt über Monroe, er sei am Ende. Lebens- und Schaffenskrise. Wenn Bolp sich die Frau neben Marc Monroe anschaut, dessen vermeintliche Seelenverwandte René, die selbstverliebt ihre Schuhe streichelt, bekommt er Mitleid mit dem Engländer.

In der Reihe vor den beiden sitzt Karl Rosen, der größte Konzert- und Tourneeveranstalter West-Berlins. Man sagt sogar, er sei der Erfinder des Open-Air-Rockkonzerts in Deutschland. Rosen macht einen zufriedenen Eindruck. Als hätte er die roten Stilettos bezahlt. Er trägt eine gelbe Schirmmütze mit der Aufschrift Sankt Moritz und ein rotes Sakko.

Bolp wollte eigentlich durch die winzigen Fenster der Caravelle ein paar Fotos von ihrem Anflug auf Berlin schießen. Für seine Reportage. Das Übliche: Der Osten staubgrau, der Westen bunt wie ein Strauß Pril-Blumen. Besser wäre jetzt aber ein Foto von Rosen, wie er sich einen hinter die Binde kippt. Denn genau das tut er gerade.

 

West-Berlin hat sich in letzter Zeit Sorgen um Kalle Rosen gemacht. Der hat zu oft einen abgebissen. Aber nach zwei Wochen Winterurlaub sieht der Sechzigjährige erholt aus. Er ist braun gebrannt und wirkt tatkräftig wie ein alternder Old Shatterhand. Bolp weiß aus der Klatschredaktion, dass Rosen in der Schweiz ein Chalet hat. Der hat die beiden Sänger vermutlich eingeladen, damit sie mal eine Pause machen von der West-Berliner Klubszene. Mal echten Schnee sehen. Man kann bei diesen Kreativen ja nie sicher sein, ob sich das nicht auszahlt. Einmal mit der Seilbahn auf das Matterhorn gefahren, schon komponieren Talente wie Marc Monroe beim Grog ein Jahrhundertalbum.

Und die Chansonschönheit René Bliss? Schwere tizianrote Locken, animalischer Mund, Augen wie Sterne – es würde Josef Bolp nicht wundern, wenn die flotte Maus dem Konzertgiganten Rosen auch privat am Herzen läge.

Jedenfalls hat Karl Rosen schon die dritte Runde Bluna mit Eierlikör intus. Es geht ihm offenbar großartig mit seinem Schwips. Noch. Die West-Berliner kennen Rosen als Quartalssäufer. Man sieht regelmäßig Fotos, auf denen er im Kempinski vom Barhocker rutscht.

Nonchalant dreht Rosen sich zu René Bliss um. Sein Handrücken streicht über ihren Spann. Er nuschelt lautstark: «Du kannst sagen, was du willst, Schätzchen, aber der gute alte Papa Kalle weiß am besten, was Frauen brauchen! Nikolaus, da dreht sich eben alles um Schuhe.» Rosen zwinkert René zu.

Bolps feuchte Finger umklammern das Objektiv seiner Kamera.

«Wenn es um Schuhe geht, ist für Frauen doch jeden Tag Nikolaus», flirtet René zurück. Sie hat einen erstaunlich rauchigen Bariton für eine so feminine Person. Achtzig Prozent aller West-Berliner glauben laut einer Umfrage des Berliner Blitz, dass René eigentlich ein Mann sei. Das ist ihre Erfolgsmasche.

Dem Journalisten Bolp ist klar, dass Marc Monroe als Brite nichts vom deutschen Brauch weiß, am 6. Dezember die Schuhe zur Befüllung durch irgendeinen bärtigen Heiligen auf den Flur zu stellen. Aber trotz seiner Egozentrik fällt bei Monroe plötzlich der Groschen: Achtung, Papa Kalle schmeißt sich an die Freundin ran! Der Glamrock-Star springt auf, packt Rosen am Schlafittchen, hebt ihn aus dem Sitz und boxt ihn vor die Brust. «Fahr zur Hölle!», zischt er.

Der Impresario japst nach Luft. Er zieht das Knie hoch, trifft Monroes maßgefertigten Schritt. Monroe krümmt sich, japst «Verfluchter Hunne!» und klappt zusammen. Gequält richtet er sich auf, rückt seinen Hut zurecht und entschuldigt sich bei der erschrockenen Flugbegleiterin.

Bolps Kamera glüht. Er kann sein Reporterglück kaum fassen. Promi-Schlägerei in der ersten Klasse – Material für die Titelseite!

Monroe stürmt ein paar Sitzreihen nach vorne und wirft sich auf einen freien Sessel. Bolp sieht ihm an, dass er fertig ist mit Europa. Der Lord of Pop muss sich wieder einmal neu finden und erfinden. Vielleicht als androgyner Außerirdischer? Vielleicht in Los Angeles?

Seinen neuen Sitzplatz erreicht Monroe gerade noch rechtzeitig vor dem Landeanflug. Mit einem seidigen «Ploing» schalten sich die Leuchtschriften Fasten Seat Belt und No Smoking an der Trennwand zur Bordküche ein. Die Flugbegleiterin beugt sich über den Sänger, und Bolp kommt noch einmal in den Genuss ihres Hinterteils.

«Finger weg von meinem Anschnallgurt!», brüllt Monroe plötzlich. «Kümmern Sie sich lieber um den betrunkenen alten Mann da hinten!» Er zeigt auf Rosen.

Der angetrunkene Rosen hat anscheinend seinen gehässigen Tag. Er hat zwar nur eine Leber, aber mehr als eine internationale Berühmtheit im Programm. Also muss er nicht vor Marc Monroe kuschen. «Ich hab so Heimweh nach dem Kurfürstendamm», singt Rosen spöttisch und prostet Monroe zu.

Josef Bolp weiß, dass Rosen auch mit Hilde Knef zusammengearbeitet hat, zehn Jahre ist das nun her. «Aus Glück wurde Pech, und aus Pech wird Glück», krakeelt der Impresario. Monroe zeigt ihm über die Sitzlehnen hinweg ganz jenseits aller britischen Höflichkeit den Mittelfinger.

Bolp spult seinen 36er Farbfilm mit der Handkurbel zurück. Er muss dringend telefonieren. Die Redaktion muss ihm die erste Seite freihalten. Mögliche Schlagzeilen hat er auch schon formuliert: Prügel-Rocker-Attacke auf Konzert-Giganten Kalle – René Bliss: Nikolaus, lass mir meine Schuhe! – Glückstränen nach Höllenflug.

Peter Kappe redet sich ein, er sei ein mustergültiger moderner Ehemann. Als solcher befürwortet er es natürlich, dass seine Frau berufstätig ist. Er frühstückt nicht nur Müsli, er macht auch den Abwasch, er hat einen Organspendeausweis und eine Herrenhandtasche. Als Feminist würde er sich im Zweifelsfall sogar von seiner Frau schlagen lassen. Damit es nicht so weit kommt, hat er Sarah heute Morgen lieber nicht geweckt.

Die Ärztin arbeitet seit ein paar Wochen in der Radiologie des Rudolf-Virchow-Krankenhauses. Desinfektionsmittel, gewienerte PVC-Böden, grüne OP-Kittel, Schmerzen – nach einer Nachtschicht ist Kappes zierliche Frau so ausgezehrt wie ein Kriegsheimkehrer.

Im dunklen Flur der Wohnung liegt ein Zettel unter der orangefarbenen Kugellampe auf der Kommode. Ist es ein Liebesbrief von Sarah? Sie schreibt ihm kleine Notizen, seit sie zusammenleben. Sarah ist ein Ostmädel mit jüdischen Wurzeln aus Köpenick. Sie weiß es nicht, aber für Kappe schreibt sie trotzdem die romantischsten Notizen der Welt. Spätschicht, setzt ihn dieser Zettel feinsinnig ins Bild. Heute Nikolaus. Stiefel füllen! Einkaufen! S.

Immer unterschreibt sie nur mit S., darunter stets ein lässiger Kugelschreiberkringel. Kappe hat keine Ahnung, ob das etwas mit ihrem Beruf zu tun hat. Ärzte sollen ja besonders gerne kritzeln. Der Signatur auf dem Zettel folgt eine Einkaufsliste für die Kaufhalle, wie Sarah immer sagt: Kartoffeln (mehlig kochend), Butter, Trinkvollmilch, Kaba

«Ich liebe dich auch», ergänzt Kappe in die Dunkelheit hinein. Es ist wie der Geist einer Wahrheit. Sein Herz weiß es, aber das Gefühl ist nicht wirklich da. Dieser verdammte Alltag vergiftet ihn. Er vermisst Sarah, gleichzeitig weiß er, dass er vernünftig sein muss. Vernünftig ist modern.

Also gut. Seine kleine Tochter Tabea hat am vergangenen Abend mit Hingabe ihre Stiefelchen poliert. Er arrangiert die Schuhe vor der Eingangstür, füllt sie mit Liebesperlen, Esspapier, Nappo, Schleckmuscheln und Knuspermünzen aus dem Naschfach.

Später tritt Kappe hinaus auf die Straße. Zwischen den Bürgerhäusern und den Gaslaternen mit ihrem diesigen altgoldenen Licht träumt er sich gern nach Prag. Vier Jahre ist das erst her? Peter Kappe, jung und naiv, und Sarah mit ihren kurzen blonden Locken unbeschwert wie der Jazz auf der Karlsbrücke. Sarahs lachende Augen, die funkelnden Türme und Kuppeln, auf denen die Sonne glitzert. Hand in Hand laufen Sarah und Peter durch die verwinkelten Gässchen am Wenzelsplatz. An einem Wintermorgen wie diesem denkt er oft: Sie müssten einfach nur wieder nach Prag fahren.

Als Kappe sich bei Helmuts Kiosk an der Ecke einen Tagesspiegel und eine Schachtel Ernte 23 kauft, fragt der: «Is wat im Busche?»

Kappe faltet die Zeitung zusammen. «Warum fragen Sie mich das?»

Helmut zuckt mit den Schultern. «Sie sehen imma so aus, als wüssten Sie wat, det Sie niemandem sagen können.»

«Jeder in Berlin weiß etwas, das er niemandem sagen kann.»

Auf der Frontscheibe von Kappes übersichtlichem Opel Rekord liegt der gefrorene Nebel des nahen Lietzensees. Kappe startet den Motor. Das Lenkrad ist kalt, die Lenkradschaltung klamm. Der Morgen riecht nach nassem Hund.

Das fängt ja gut an! Wegen einer technischen Störung der neuen Fluggastbrücken muss die Caravelle der Air France auf einer Außenposition auf dem Vorfeld parken. Kein guter Service. Josef Bolp macht sich Notizen für seinen Artikel.

Eine fahrbare Treppe rollt heran, und die vordere Kabinentür öffnet sich. Das Personal bittet die Fluggäste der zweiten Klasse, noch sitzen zu bleiben. Denn zuerst dürfen die Passagiere mit dem höchsten Status aussteigen. Und zuallererst Marc Monroe.

Josef Bolp sieht, wie eine schwarze Limousine auf dem Vorfeld heranrollt. Monroe zieht seinen Hut tief ins Gesicht, trotzdem ertönen vereinzelt spitze Schreie aus der Holzklasse, als der Lord of Pop aufsteht. René Bliss erhebt sich ebenfalls. Sie ist so unauffällig wie eine Nudistin in einer Fußgängerzone. Bolp glaubt, dass Marc Monroe sie mit seinem Wagen mitnehmen wird. Aber der rauscht ab, ohne sie oder Papa Kalle eines Blickes zu würdigen. Wenn der Mann einen Schlussstrich zieht, zieht er einen Schlussstrich. Chapeau!

René Bliss wird unter ihrer Glitzerschminke ganz blass. Klassische Abfuhr für die Maus. Bolp ist kein Frauenversteher, aber ein bisschen tut ihm die Hupfdohle doch leid. Als guter Journalist muss er beide Seiten sehen. Der Monroe, so ’n halbes Hemd, eifersüchtig wegen eines vom Impresario geschenkter Paar Schuhe! Wie bourgeois! Dieser Kleingeist hätte doch bloß mit seiner Perle ins KaDeWe fahren müssen. Dann wäre alles wieder gut geworden.