Au revoir, Tegel

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Karl Rosen holt Renés Louis-Vuitton-Köfferchen aus dem Gepäckfach und hängt es sich über die Schulter. Beim Aufstehen schwankt er. Hat doch mehr getrunken, als ihm guttut. Die Tasche stabilisiert ihn, aber er wackelt sichtbar, als er Richtung Kabinentür geht. René will ihn stützen, doch er schiebt sie weg. Er will wohl nicht als alter Opa in Erinnerung bleiben.

Also geht René voraus. Bolp folgt ihnen. René zündet sich im Gehen eine Zigarette an und schimpft vor sich hin. «Auch noch Nieselregen», hört Bolp. «Und dieser hässliche neue Flughafen! Ein duftes Beton-Ufo ham die da hingebaut!»

René steckt sich im Gehen die Haare hoch, mit der brennenden Zigarette im Mund. Aus einem Zeitungsartikel weiß Bolp: René liebt mehr das Barocke, weniger die Funktionalität der Moderne. Die gesamte westliche Welt wartet ohnehin darauf, dass sie sich von Marc trennt. Ihre Fans glauben nicht, dass sie es auf Dauer ertragen kann, dass Marc von Natur aus eine Kleidergröße weniger hat als sie. Sogar gezupfte Augenbrauen und lange blonde Wimpern hat der, wie eine schwedische Lichterkönigin.

René atmet tief durch. Bolp bleibt stehen. Eigentlich ist es ja herrlich polyglott: die Künstler, ihre vielen Verehrer, das Motorengedröhne und der Kerosinmief auf dem Flugfeld. Als luftbrückenerfahrener Berliner hält man das bereitwillig für den Duft der großen, weiten Welt.

Seit ein paar Wochen ist Peter Kappe Dauerwaffenträger. Wie jeder Kriminalkommissar. Im Dienstgebäude Keithstraße 30 des Landeskriminalamtes werden die Pistolen jedoch abgelegt. Kappe schreibt seinen Namen gerade neben der hölzernen Pförtnerloge in die Kladde mit der Aufschrift Schlüsselbuch Waffenkammer, als ihn Kriminalhauptkommissar Harry Engländer abfängt.

«Lebendkontrolle!», ruft Engländer, knallt Kappe seine schwere Hand auf die Schulter und lacht wie ein Orang-Utan.

Kappe fährt pflichtschuldig zusammen. Er ist kein Morgenmensch. Das hat er bei einem Test in der Brigitte herausgefunden, die Sarah neuerdings für ihn auf dem Küchentisch liegen lässt.

Aber Harry Engländer ist noch nicht fertig. «Na, mein Junge, gut geschlafen? Nein? Das macht nichts, wir von der MK 6 haben ja sowieso Rufbereitschaft. Ich traue mich zu Hause auch kaum noch in die Sauna. Da höre ich nämlich das Telefon nicht. Und – schon Kaffee getrunken? Trinken Sie überhaupt Kaffee? Nein? Kamillentee, was?»

«Pulverkaffee. Ein Stück Zucker.»

«Na, dann kommen Sie mal gleich mit.»

Engländer ist ein jovialer, rotgesichtiger Mann Ende fünfzig mit Glatze und Bauch, der trotzdem voller entschlossener Energie die breiten Treppen der Dienststelle hinaufstürmt. Er stößt seine Bürotür auf, wirft den Mantel auf seinen aktenbedeckten Schreibtisch, schiebt den Farbroller für Fingerabdrücke beiseite und zeigt auf den Besucherstuhl.

Kappe setzt sich. Der Leiter der Mordkommission 6 fällt in seinen ledernen Chefsessel, die Hände in der Anzughose, und wippt vor und zurück. «Ich kenne Ihren Vater jetzt seit fast zwanzig Jahren», sagt er und mustert Peter Kappe. «Respekt! Guter Mann. Kollege Keunitz von der MK 1 kann stolz darauf sein, dass er ihn hat.»

Kappe lächelt und erwidert nichts. Wie immer, wenn er in den letzten Monaten auf diesem Stuhl saß, starrt er auf die Urlaubspostkarten. Eine zerfledderte Collage aus den letzten Jahrzehnten klebt an der Seite von Engländers dunkelbraunem Rollschrank: Paris, Gran Canaria, der Frankenwald. In diesem Büro riecht es, als hätte jemand ein Butterbrot in einer der Schubladen vergessen, was kein Wunder wäre. Denn im Dienstgebäude Keithstraße des Landeskriminalamtes Berlin gibt es keine Kantine.

«Sie sind ja nun schon ein paar Monate bei uns», fährt Engländer fort. Kappes Personalakte liegt vor ihm auf der Schreibtischunterlage. «Ich schätze Ihre Arbeit, Herr Kappe. Gerade Ihre Vernehmungen. So modern und zugewandt. Da zahlt sich Ihr Psychologiestudium aus und auch, dass Sie schon ein wenig lebenserfahrener sind. Die Menschen vertrauen Ihnen. Ich spüre so was, und ich glaube, Herr Kappe, Sie werden ein Leistungsträger der Polizei von morgen sein.»

Kappe findet es amüsant, wie sehr sich die Menschen regelmäßig in ihm irren. Er sieht seriös aus, schön und gut, aber er bezweifelt, dass er auch nur einen Funken Ehrgeiz in sich trägt. Jedenfalls keinen Ehrgeiz, der über eine Verwendung bei der Mordkommission hinausgeht. Und dort ist er ja nun angekommen. Von seinem Vater kann Kappe jedenfalls keinen Ehrgeiz geerbt haben. Der ist seit 1958 Kriminaloberkommissar. Bei Beförderungen wird er regelmäßig ausgelassen. Er hat einfach zu gerne recht. Ein Opfer seiner Leidenschaften.

«Ich würde mir keine allzu großen Hoffnungen machen, Chef», sagt Kappe.

«Richtig, Kappe, sehr gut! Diese Bescheidenheit!» Harry Engländer strahlt und klopft auf Holz. «Wir brauchen euch Kappes doch! Und da Ihr Vater drüben bei der Mordkommission 1 in zwei Jahren in Pension geht, freuen wir uns sehr, dass wir jetzt Sie als Kriminalkommissar zur Anstellung bei uns haben. Ihr Kappes seid doch so was wie unsere Maskottchen, sozusagen unsere Glücksbringer!»

Vor Kappes innerem Auge erscheint eine Fotocollage im Stil von Hannah Höch: ein rosa Marzipanschweinchen, dem man sein eigenes grinsendes Konterfei aufgeklebt hat. Es hat ein Riesenkleeblatt zwischen den Zähnen, so wie ein Rosenkavalier eine Rose trägt.

Jeder in der Keithstraße weiß es: Ein Kappe bei der Mordkommission, das gehört sich so, das hat Tradition in Berlin. Erst Peter Kappes Großonkel Hermann, dann dessen Sohn Hartmut bei der Volkspolizei in Ost-Berlin, dann Peters Vater Otto, jetzt er selbst. Die Kappes mischten quasi schon vor der Gründung der Mordinspektion Berlin durch Ernst Gennat im Jahre 1926 mit. Vielleicht ist Peter Kappe deshalb hier. Die ganze Welt hätte ihm offengestanden. Aber er hatte Blut geleckt. Erst recht, seitdem sein Vater ihn bei ihrer ersten und letzten Zusammenarbeit vom Mordfall Schidlos hatte abziehen lassen. Er hatte ihn wohl aus der Schusslinie nehmen wollen. Jetzt, mit zwei Jahren Abstand, kann er das verstehen. Der Radikalenerlass hätte Peter Kappe seine Anstellung kosten können. Denn in der linken Szene hatte er sich fast ein bisschen zu gut ausgekannt. Doch Peter Kappe ist robust. Im Krieg hat er schon als kleines Kind so manchen Toten gesehen. Auch wenn ihm das erst in der letzten Zeit bewusst wird. Eine seiner frühesten Erinnerungen kurz vor Kriegsende ist, dass er mit seiner Mutter im Luftschutzkeller war. Der Keller war stickig und sehr voll. Hinter der Tür hatte eine Schwangere gestanden. Ein Soldat des Volkssturms hatte von außen an die Tür gepocht und verlangt, dass man ihm öffne. Als dies nicht sofort geschah, stieß er ein Bajonett von außen durch die Kellertür und spießte die Frau und ihr ungeborenes Kind auf. Die Sinnlosigkeit dieser Aktion lässt Kappe noch heute frösteln. Natürlich ist er Pazifist. Aber es gibt Momente, da würde er am liebsten auf Gewalt mit Gewalt reagieren. Wenn er bloß nicht so gut erzogen wäre!

Tote, deren Schicksale namenlos im Sand der Zeit verrannen, hat er im Krieg genug gesehen. Oft hat er die Frage nach dem Warum gestellt. Warum gerade der oder die? Nur hier bei der Mordkommission kann er das Warum klären. Hier hat er die Chance, die Geschichte des Toten herauszufinden. Das gewaltsame Ende eines Lebens an einer neuen Rechtsstaatlichkeit jenseits jedes politischen Einflusses zu messen. Das zu glauben, hat er sich zumindest vorgenommen. Diese naive Rechtsgläubigkeit ist ihm angenehmer als jede Religion.

Und die Kappe-Tradition bei der Polizei? Die muss er nun mal in Kauf nehmen. Er braucht den Segen seines Vaters nicht. Aber nur bei der Mordkommission ist Peter Kappe etwas Besonderes, ein Kronprinz, ohne etwas dafür tun zu müssen. Das hat auch etwas Metaphysisches. Kappe grinst in sich hinein. Er denkt, dass er rasch noch einen Sohn zeugen müsste, um ihn auf dem Altar des Polizeipräsidenten zu opfern. Denn seine Tochter kriegen die hier nicht. Die Kleine soll unbedingt etwas gänzlich Unvernünftiges machen – Hippiekommunardin, Schauspielerin, so was in der Art.

«Manchmal glaube ich, wir Kappes sind einfach schon zu lange dabei», sagt Kappe zu Engländer.

«Ach, kommen Sie! Sie fangen doch gerade erst richtig an!» Harry Engländer strahlt. Da ist nichts Misanthropisches in seinem Blick. Denn Engländer hasst die Menschen nicht. Er findet es nur spannend, wenn sie sich gegenseitig umlegen. «Ich glaube jedenfalls, Sie sind so weit. Ab jetzt werde ich Ihnen Fälle zuteilen, die Sie selbstständig bearbeiten. Bevor Sie mir in die Midlifekrise rutschen!» Engländer lacht und winkt mit einer zweiten Personalakte. «Ich habe hier noch einen neuen, jungen Kollegen für Sie, Kriminalmeister Wolf Landsberger. Den teile ich Ihnen als Treppenterrier zu. Der hat auch Abitur. Sie beide werden mein intellektuelles Gespann!»

«Abitur? Was hat Landsberger denn zuletzt gemacht?»

«Der war Mitarbeiter in der Pressestelle», antwortet Harry Engländer. «War ihm wohl zu theoretisch. Hier, schauen Sie. Schneidiger Kerl. Sportlich. Kann mehrere Fremdsprachen.»

«Entschuldigen Sie, wenn ich das anmerke, aber der hat doch genauso wenig Erfahrung wie ich.» Kappe steht mit dem Gefühl auf, seinen Kredit bei Gott endgültig verspielt zu haben. Er stellt den Stuhl ran. «Ich würde vorschlagen, dass Sie uns nur die wirklich aussichtslosesten Fälle geben, Chef. Dann verderben wir Ihnen wenigstens nicht die Aufklärungsquote.»

René Bliss schwebt die Flugzeugtreppe hinunter, als sei es eine Showtreppe in Las Vegas. Sie schwenkt ihren Tigerstretch-Luxushintern in Richtung Karl Rosen. Der wird kurzatmig und denkt: Mist, ich werde langsam zu alt für solche scharfen Schnallen! Die reizende Air-France-Flugbegleiterin hilft ihm die Flugzeugtreppe hinunter. Dann entschuldigt sie sich, sie müsse sich auch um die anderen Passagiere kümmern.

 

Rosen überquert das Vorfeld Richtung Terminal A. Das ist nur vierhundert Meter entfernt. Ihm ist schwummerig. Früher hat er diese Drinks besser weggesteckt. Er klammert sich an den Anblick von Renés Endlosbeinen mit den roten Stilettos, die ihn Richtung Terminal einwinken wie ein Fluglotse. Ein Schritt und noch einer. Die Brust ist ihm eng. Das Atmen fällt ihm schwer.

Ein dunkler VW-Bus fährt auf ihn zu. Rosen winkt, damit der Wagen ihn nicht überfährt. Der stoppt hinter ihm. Zwei Männer springen heraus. Die erinnern Rosen vage an irgendetwas. Vielleicht hat er mal mit ihnen gearbeitet? Dann kommt noch ein anderes Auto, ein langer schwarzer Kombi. Auch aus dem steigt jemand aus. Jedenfalls wird es laut, es kommt zum Handgemenge. Rosen hat das Gefühl, der eine Mann hätte ihn etwas gefragt. Auf Französisch. Sind das Franzosen? Es ist ein Jammer, diese Menschen jetzt anzusehen. Paris, die Stadt der Liebe. Was hatten wir da auch zu suchen im Krieg?

«Haben Sie etwas getrunken, Monsieur?», hört er eine Stimme fragen.

«Habt ihr Froschfresser jetzt was zu sagen in Deutschland?», brüllt Rosen zurück. «Oder spricht der Teufel jetzt schon Französisch? Ich hätte euch damals alle …»

Rosen kneift die Augen zusammen. Undeutlich sieht er die drei Gestalten um sich herum. Einen glaubt er zu kennen. «Bist du nicht der schwachsinnige Bastard?», fragt er. Aus dem Nichts trifft ihn ein Schlag mitten ins Gesicht. Brüllender Schmerz. Der Flughafen zerfällt in einzelne Atome und weht Richtung Horizont. Rosen schüttelt sich, ist aber nicht mehr derselbe. Er stößt dem einen Teufel die Reisetasche vor die Brust. Der andere hebt den Arm. Die schnelle Bewegung danach kann Rosen nicht deuten.

Ist das ein Gitarrensolo? Rosen sieht nichts mehr. Wieso kniet er hier? Er bekommt keine Luft mehr. Feuchter Schleim, der nach Eisen schmeckt, würgt ihn in der Gurgel. Jetzt also rächt es sich. Die Geister der Franzosen kommen ihn holen. Sie fassen ihn an, sie schreien aus strammen Mündern. Er hat all die Jahre nicht daran gedacht, was er im Krieg getan hat. Es brennt, und die Nacht ist hell erleuchtet, Schreie im Feuer. So schöne Menschen, und dann brennen sie. Das schreit ihm der Teufel jetzt entgegen. Das Seelische, das ist schon immer Karl Rosens Schwachstelle gewesen. Er hat, als endlich Frieden war, keine Freude mehr in sein Herz lassen können. Das hat sein Arzt gesagt. Es ist also auch möglich, dass der Teufel ihn wegen seines Lebenswandels holt. Aber die vielen Frauen, gute Frauen, schöne Frauen, denen hat er doch allen … alles, was die wollten, immer, und ohne zu verhandeln. Einmal sogar ein Cabrio. Und dann der viele Schnaps über die Jahre. Er hätte nicht von Tegel fliegen sollen, er ist ein dummer, alter Mann geworden. Hat er es denn nicht gewusst? Dieser neue Flughafen, das muss ein Tor sein, das Tor zur Hölle. Tegel / Teufel – allein die Ähnlichkeit der Wörter! Das Herz brennt ihm seltsam.

Die drei Teufel tragen so etwas wie Uniformen, Arbeitskleidung vielleicht. Sind die drei der Tod? So eine Art Dreifaltigkeit der Hölle? Wie ihnen die Augen brennen! Genau wie damals, Sommer 1944 im Périgord. Nur, dass diesen Kerlen hier auch noch der Schwefelrauch aus Mund, Nase und Ohren quillt. Die Teufel stecken die Köpfe zusammen. Rosen versteht nicht, was sie sagen, aber sie streiten sich offenbar.

«Was wollt ihr von mir?», schnauzt er sie an. Rosen hat schließlich Rang und Namen. Er hat die Telefonnummer von Mick Jagger. «Denkt ihr, ich weiß nicht, wer ihr seid? Was wollt ihr? Wollt ihr mich holen? Jetzt? Nach all den Jahren? Verschwindet! Lasst mich in Frieden! Ich habe immer alles für euch und die anderen getan! Und bezahlt habe ich, für alles bezahlt! Hört ihr? Für alles!»

Sobald Peter Kappe die Tür zu seinem Büro einen Spaltbreit öffnet, riecht er es: frischer Sauerstoff. Geradezu frühlingshaft. Jemand hat durchgelüftet. Und dann hört er es: Jive-Rhythmen. Abba singt Waterloo. Er stößt die Tür auf. Jemand mit sehr breiten Schultern steht am offenen Fenster und gießt die sterbenden Büropflanzen mit viel Schwung. «Waterloo, / knowing my fate is to be with you …», dudelt das Radio. Wie passend!

«Guten Tag! Sind Sie Kriminalmeister Landsberger?», fragt Kappe.

Der Mann am Fenster federt herum. Er ist vielleicht fünf, sechs Jahre jünger als Kappe, und er besteht nur aus Muskeln, weißen Zähnen und guter Laune. Kappe hat im letzten Sommerurlaub ein paar Flash-Gordon-Comics gelesen, die ihm Helmut vom Zeitungskiosk besorgt hatte. Genau diese Sorte naiven und dennoch kraftvollen Charme strahlt Wolf Landsberger aus. Außerdem trägt er auch noch einen Maßanzug zu muskulösem Hals und Schulterholster. Das markante Gesicht ist glatt rasiert. Zwei pechschwarze Augenbrauen, geschwungen wie Peitschenhiebe, betonen die strahlend blauen Augen. Das goldblonde, akkurat gestufte Haar hat er sorgfältig flauschig geföhnt. Der Mann gehört eigentlich auf die Titelseite des Otto-Katalogs. Er knallt die Gießkanne auf das Fensterbrett und stürmt mit ausgestreckter Hand auf Kappe zu. «Ja, Wolf Landsberger mein Name. Und Sie sind der neue Kappe? Ist mir eine Ehre!»

Dieser Landsberger reißt ihm fast den Arm aus. Exzellente Manieren. Kappe rechnet kurz. Der Kerl hat Glück gehabt, der Krieg ist an ihm vorbeigegangen. «Schöner Anzug», lobt Kappe.

Landsbergers stahlblaue Iris weitet sich. «Hundert Prozent Schurwolle.» Er grinst. «Der Chef hat mich von der Uniformpflicht entbunden. Da muss ich ja nicht herumlaufen wie ein Gammler!»

Ein Snob ist wie ein Königspudel: Schwer zu beschreiben, aber man erkennt ihn, wenn man ihn sieht. Kappe hält mehr von schwarzen Rollkragenpullis. Vielleicht wäre kein düsterer Existenzialist aus ihm geworden, wenn er nicht studiert hätte.

«Hoffentlich haben Sie auch schöne und vor allem bequeme Schuhe», sagt Kappe. «Es tut mir leid, Ihnen eröffnen zu müssen, dass Kriminalhauptkommissar Engländer Sie mir als Treppenterrier zugeteilt hat.»

«Kein Problem!» Landsberger zeigt seine Hollywood-Beißerchen. «Ich bin gut in Form, spiele viel Fußball, Libero, beim Polizeisportverein. Wir sind eine feste Größe in der Amateurliga. Seit der laufenden Saison heißt das ja jetzt Oberliga Berlin.»

«Da ergänzen wir uns ja perfekt. Fußballbegeisterung ist mir nämlich ein Rätsel.»

«Ich hab ein Außenristspiel wie Beckenbauer.»

«Das könnte wichtig werden. Ich fürchte nämlich, ich bin ein verständnisvoller Chef. Bei mir müssen Sie sich vielleicht mit Ihrem Außenrist selbst in den Allerwertesten treten.»

«Ich könnte jedenfalls bei unseren frisch gebackenen Weltmeistern verdeckt ermitteln.»

«Vermutlich können Sie einfach alles», lobt Kappe. «Sie sehen jedenfalls so aus.»

«Selbstbewusstsein hat noch niemandem geschadet. Und welchen Sport üben Sie aus, Trimmtrab?»

«Billard. Pistolenschießen.» Kappe beherrscht Disziplinen gut, bei denen es auf Zielen und Konzentration ankommt. «Und manchmal spiele ich eine Runde Pétanque.»

«Boule? Mit dem Schweinchen?»

«Eher mit dem Rotweinchen.»

«In Frankreich nennt man die Zielkugel Cochonnet. Zu Deutsch Ferkel.»

«Ja, die soll früher aus Schweineknochen gewesen sein.»

«Ich weiß.» Landsberger strahlt. «Meine Großmutter ist Französin. Sie kommt aus Paris.»

«Bonfortionös. Das wird uns eine große Hilfe sein.»

Landsberger legt ihm seine Sportlerpranke auf die Schulter. «Unglaublich, Ihre Haltung! Immer professionell und höflich!»

Kappe murmelt irgendetwas und schüttelt Landsbergers Hand ab. Anscheinend hat er den neuen Kollegen mit seiner zarten Ironie überfordert. Herr im Himmel, noch ein Problem mehr! Kappes karriereorientierte Frau, seine viel zu schlaue Zweieinhalbjährige, sein Vater, der aufsattelt, um in den Sonnenuntergang zu reiten, sein Chef, der in ihm den nächsten Polizeipräsidenten sieht – und nun auch noch dieser knorke Alleskönner-Strahlesupermann. Das Leben ist wohl entschlossen, ihm den allerletzten Nerv zu rauben.

Josef Bolp steht mit den anderen Passagieren der Maschine aus München um das Gepäckband. Es riecht neu im Terminal A, nach Gummi und Farbe und Kalk. Alles ist grau und gelb und rot hier. Poppig, wie man jetzt so schön sagt. Bolp hat einen Koffer aufgegeben, nur um zu testen, wie der Laden so läuft.

Auf der anderen Seite des Bandes lehnt René Bliss an einer der sechseckigen Betonsäulen. Sie hat eine alberne Glitzersonnenbrille aufgesetzt, damit sie keiner erkennt, und erzielt damit den gegenteiligen Effekt. Die Menge tuschelt. René raucht, schnippst ihre Asche in die dreieckigen Aschenbecher, die überall herumstehen, und schaut immer wieder nervös durch die großen ovalen Fenster auf das Vorfeld.

Irgendetwas ist anders. Bolp fragt sich, wo Renés Entourage geblieben ist. Wo ist Kalle Rosen? Vielleicht oben auf der offenen Betongalerie, die futuristisch in den Raum ragt wie die Befehlsbrücke von diesem Raumschiff Enterprise?

Der West-Berliner an sich steht nicht gerne am Gepäckband, muss Bolp feststellen. Man ist gelangweilt, gleichzeitig sprungbereit. Arme werden verschränkt, Hände in Hosentaschen gebohrt. Man will lässig wirken, aber man drängelt sich. Man rührt sich nicht von dem einmal eroberten Startplatz, damit einem keiner etwas wegschnappt.

Das nagelneue Förderband hat die Form einer großen liegenden Null. Edelstahleinfassung, schwarze Gummilamellen. In seiner Mitte werden die Gepäckstücke über einen schrägen Schacht von der Verladestelle nach oben fahren, vermutet Bolp, dann von einer Rolle abgelenkt, zunächst nach rechts und dann immer im Kreis. Bis jemand danach greift. So wird das sein, wenn es losgeht.

Bolp vertreibt sich die Zeit, indem er einen neuen Film in seine Praktica einlegt. Einen 400er, für Innenaufnahmen ohne Blitz. Sein Hintern kribbelt vor Vorfreunde auf den Moment, in dem René Bliss mit ihren Nuttenschuhen nach ihren – vermutlich zahlreichen – Koffern hechten wird. Er hat die Kamera im Anschlag. Da merkt Bolp erst, dass René die roten Schuhe nicht mehr anhat, stattdessen trägt sie ein Paar mondäne Samtpantoletten mit Strassspangen.

Plötzlich beginnt eine kleine rote Rundumleuchte rechts am Gepäckschacht zu blinken. Das Band läuft jaulend an. Bolp bringt sich in Position. Jetzt erscheint durch den Lamellenvorhang am Ende des Bandes das erste Gepäckstück. Eine Art kaputter Kleidersack scheint das zu sein. Jedenfalls sieht Bolp Schuhe daraus hervorschauen. Wieso eigentlich Schuhe? Oder ist das eine Schaufensterpuppe? Was die Leute nicht alles aufgeben! Das Sperrgepäck erreicht die Gepäckumlenkung und rollt an der Führung nach rechts ab. Dabei wälzt es sich herum. Ein kollektives Aufstöhnen geht durch die Menge. Ein massiger Körper klatscht auf das Kofferband. Es ist ein Mensch, ein Mann: Karl Rosen! Zugedröhnt wie eine Strandhaubitze ist der. Sein Gesicht, der Hals und seine Kleidung sind blutverschmiert. Die Augen hat er geschlossen, den Mund offen. Einer seiner Arme hängt überstreckt über den Rand des Gepäckbandes, er wippt und scheint im Vorbeifahren nach den anderen Passagieren zu greifen. Rosen muss in seinem Suff unten auf dem Vorfeld das Rollband mit der Rolltreppe verwechselt haben. Was für ein Auftritt! Frauen kreischen. Männer halten ihren Kindern die Augen zu. Jemand ruft nach einem Arzt. Josef Bolp fotografiert wie nie zuvor im Leben.

Peter Kappe hat gerade den Tauchsieder in den Kaffeebecher gehängt, da scheppert das Telefon auf seinem Schreibtisch. Er hebt ab, bedeutet Wolf Landsberger mit der anderen Hand, dass er das Fenster schließen soll, und hört zu.

«Und das ist Terminal A? Ganz sicher?», fragt er. «Danke. Sicherungsangriff. Schicken Sie uns Verstärkung. Wir fahren hin.» Kappe knallt den Hörer wieder auf das dunkelgrüne Telefon, was dieses mit einem leisen Schellenton quittiert.

Es ist plötzlich sehr still im Büro. Kappe hört das Ticken des Sekundenzeigers der Wanduhr. Ausgerecht am Flughafen. Kappe hat eine gewisse Affinität zu Flughäfen. Als er klein war, hat seine Familie eine kurze Zeit am Bayernring gewohnt, im Schatten der Einflugschneise nach Tempelhof. Später war er einer von diesen Jungs, die sich auf den Trümmerbergen Neuköllns um die Süßigkeiten geprügelt haben, die die Rosinenbomber während der Blockade an kleinen Fallschirmen abwarfen. Besonders der eine nette Ami ist ihm in Erinnerung geblieben, sie haben ihn «Onkel Wackelflügel» genannt. Aber jetzt gibt es einen neuen Flughafen. Einen modernen. Da wackelt nichts mehr.

Landsbergers 10 000-Watt-Grinsen droht, ihm seinen Unterkiefer auszuklinken. «Unser erster Fall?» Er strahlt. «Tötungsdelikt?»

 

«Jetzt geht es los, Landsberger», hört Kappe sich sagen.

Landsbergers Augen leuchten wie im Fieber. Er greift nach seinem Mantel.

Kappe kämpft noch mit dem heiligen Augenblick. «Kennen Sie die Sesamstraße, diese Kindersendung im Dritten? Ich schaue mir die seit letztem Jahr immer mit meiner Tochter an», sagt er.

Landsberger stutzt. «Bei allem Respekt – haben wir keine anderen Sorgen?»

«Haben Sie die Sendung schon mal gesehen? Der, die, das / wer, wie, was / wieso, weshalb, warum?» Kappe singt die Titelmelodie ziemlich schlecht. «Progressives Konzept. Lernen und Lachen in einer Sendung.»

Landsberger packt ihn an den Schultern. «Alles in Ordnung bei Ihnen, Kappe? War was in Ihrem Nescafé?»

«Wieso, weshalb, warum – verstehen Sie’s nicht? Das sind jetzt wir.»

«Wir sind Ernie und Bert, oder was?»

«Wieso, weshalb, warum. Diese Fragen sind existenziell. Vielleicht lasse ich sie mir tätowieren.»

«Tätowieren? Das ist untersagt bei der Polizei. Soweit es das Amt erfordert, kann die oberste Dienstbehörde nähere Bestimmungen über das Tragen von Dienstkleidung und das während des Dienstes zu wahrende äußere Erscheinungsbild der Beamten treffen. Das ist Ihnen doch bekannt, Kappe? Haben wir jetzt einen Mord oder nicht?»

«Mord?» Kappe winkt ab. «Das entscheidet allein das Gericht. Diese Frage wurde schon in meiner Kindheit von meinen Eltern am Küchentisch verhandelt.»

«Warum sind Sie nicht Friseur geworden, wenn Sie sich gerne reden hören, Chef? Kommen Sie jetzt?»

«Die psychologischen Zusammenhänge, deswegen bin ich hier. Das interessiert mich.»

«Das können Sie mir ja mal nach Feierabend erklären. Fahren wir?» Landsberger scharrt mit den Füßen wie ein Mariendorfer Traberzosse.

Kappe muss lächeln. Erstaunlich, wie schnell eine Leiche die Laune heben kann. «Sie sind wahrscheinlich ein besserer Kriminalist, als ich es je sein werde, Sportskanone», sagt er.

Landsberger läuft knallrot an. Auf seiner Stirn pulsiert eine Vene. Kappe hat Angst, dass dem Kollegen der Kopf platzt. «Machen Sie sich über mich lustig? Bei der MK 1 wüssten sie mein Engagement bestimmt zu schätzen», nörgelt er. «Und die fahren sicher auch erst mal zum Tatort, bevor sie eine Leichenrede halten.»

Alles in allem hat der Kollege, auch wenn er frech ist, die richtigen Ideen. Kappe nickt. «So machen wir es, Landsberger. MK 1 kenn ich. Dem Alt-Männer-Klub da können Sie dann die Nasenhaare rasieren und ihm den letzten Nerv rauben mit Ihrem Engagement. Aber heute sind Sie erst mal noch mir zugeteilt. Sie waren bei der Pressestelle – Sie kennen sich hoffentlich mit den Schmierfinken von der Zeitung aus.»

Der Jagdinstinkt lässt Landsbergers Gesicht wider Willen aufleuchten. Er zieht sich mit dem Zeigefinger das rechte Unterlid herunter und sagt: «Mit der Presse bin ich auf Du.»

«Also gut, wir haben einen prominenten Toten am neuen Flughafen. Karl Rosen. Der bekannte Konzertveranstalter. Seine Firma heißt KaRoConcerts – Beatles, Stones und so weiter. Ein Journalist, der angeblich Rosens Leiche fotografiert hat, ein gewisser Josef Bolp, ist vom Flughafen verschwunden. Fahren Sie zur Redaktion des Berliner Blitz. Schnappen Sie sich Bolp. Sagen Sie, Sie kämen von mir. Ich kenne Bolp von einem früheren Fall. Nehmen Sie ihm seine Filme ab. Machen Sie ihm ein bisschen Angst. Danach treffen wir uns. Terminal A, Flugsteig 1. Maschine aus München.»

Landsberger ist schon halb aus der Tür, da fragt Kappe: «Und, Landsberger, haben Sie letzten Sonntag diesen neuen Krimi gesehen – Derrick

«O Gott, nein! Da war ich beim Fußball. Schauen Sie eigentlich nur in die Röhre?»

«Oft. Wenn Sie Derrick gesehen hätte, wüssten Sie, dass die ersten 48 Stunden einer Mordermittlung entscheidend sind. Also sagen Sie alle Fußballtermine ab.»

Landsbergers Hals wird dick und hart. Es ist nicht immer leicht, zu den besten Menschen der Welt zu gehören, denkt Kappe.

Peter Kappe fährt am Kurt-Schumacher-Platz auf die Autobahn und schon nach gut einem Kilometer am Saatwinkler Damm wieder ab. Er war noch nie auf dem neuen Flughafen. Ganz fertiggestellt sind die Außenanlagen nicht. Rechts neben der Zufahrt wird noch gebaggert. Dort sollen zwei Anzeigetafeln für Ankünfte und Abflüge entstehen, die über die Flüge und die jeweiligen Flugsteige informieren. Die Passagiere können dann mit dem Auto direkt davor abgesetzt werden. Der junge Architekt Meinhard von Gerkan hat den Flughafen in der Zeitung eine Flugermöglichungsmaschine genannt. Unerhört modern.

Über die Zufahrt zum Terminal spannt sich eine massive Brücke aus rohem Beton. Während Kappe darauf zufährt, schiebt sich von links ein Flugzeug auf die Überführung. Mit majestätischer Größe und beängstigender Lässigkeit fährt eine Caravelle der Air France auf der Rollbahn in zehn Metern über der Straße. Das Flugzeug scheint über die Brücke zu schweben. Viel zu groß, viel zu nah. Kappe rutscht der Fuß vom Gaspedal. Ihn überfällt die surreale Vorstellung, die Caravelle könnte auf die Autobahn abbiegen und bis nach Paris fahren wie ein flugunfähiger Urzeitvogel. Gibt es das überhaupt – Brücken, die Flugzeuge tragen können? Es ist Anfang Dezember, trotzdem ist Kappes Hemd durchgeschwitzt, als er Flugzeug und Brücke hinter sich weiß. Die Welt ist im Wandel.

Kappe folgt einigen auf die Betonwand gemalten, mannshohen gelbblauen Richtungspfeilen zum Innenring. Das ist Pop-Art. Sehr international, wenn auch ziemlich verspielt für so eine ernste Angelegenheit wie einen Flughafen. Ein Design wie bei den Weltfestspielen der Jugend im letzten Jahr in Ost-Berlin. Dieser neuen, internationalen Jugend gehört Kappe nicht mehr an. Diese Zeit hat er hinter sich. Er hat sein Leben in die Hand genommen. Er hat jetzt Frau und Kind und eine Dienstwaffe. Nichts mehr mit Lustprinzip.

Als er den Wagen im ersten Gang über die Rampe zum sechseckigen Innenring des Abfertigungsgebäudes steuert, parken vor der Flughafenwache schon kreuz und quer einige Bullis mit Blaulicht. Kappe stellt seinen Opel Rekord vor dem gelben Schild mit der Aufschrift A01 ab. Terminal A, Flugsteig 1. Er steigt aus. Sein Mantel dampft in der Kälte. Es riecht nach Smog. Vom Vorfeld hört er das Grollen der Flugzeugturbinen. Er kontrolliert noch einmal den Sitz seiner Waffe.

Die Flughafengebäude schimmern mattgrau vor ihm in der Wintersonne. Ein messerscharf begrenztes, geometrisches Betonschiff wie aus der Kulisse eines Science-Fiction-Films. Dazu ein wuchtiger Tower mit einem dreieckigen Fuß und zwei sechseckigen Aussichtsebenen. Das Ganze sieht aus wie eine riesige Törtchen-Etagere.

Kappe gefällt das monumentale Statement. Kompromissloser Beton, der sich hinter keiner Fassade versteckt. Robust und präsent. Das passt zu West-Berlin.

Die Schiebetüren zum Terminal öffnen sich automatisch vor Kappe. Er wundert sich noch, wie das wohl funktioniert, da strahlt ihn das sonnengelbe Terminal-Interieur auch schon urlaubsbeflissen an. Es wirkt auf plumpe Art leicht. Sechsecke und Dreiecke überall, sogar die Betonkanten sind dreieckig gebrochen. Sitze und Tresen schmeicheln den Besucher in körpernahen Plastikformen an. Auch die dunkelbraunen Bodenfliesen sind hexagonal. Außen hart, innen weich – ein Flughafen wie ein Sieben-Minuten-Ei.

Bevor Kappe sich fragen kann, was diese Liebe zum Detail wohl gekostet hat, hört er eine wohlklingende Frauenstimme. Menschen hasten durch die geöffneten Glastüren des Flugsteigs 1, als sei der Leibhaftige hinter ihnen her. Oder besser gesagt, die Leibhaftige.