Buch lesen: «Europarecht», Seite 24

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3. Beeinträchtigungen durch Private

556

Wie im Bereich der → Arbeitnehmerfreizügigkeit und der → Niederlassungsfreiheit können Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit auch von Privaten ausgehen. Der EuGH hat dies zum einen für Regelwerke nicht öffentlich-rechtlicher Art entschieden, die die Erbringung von Dienstleistungen kollektiv regeln sollen. Hierzu zählen etwa von Sportvereinigungen aufgestellte Regelwerke (EuGH, Urt. v. 11.4.2000, C-51/96 – Deliege –, Rn. 47). Darüber hinaus kann die Durchführung kollektiver Maßnahmen durch Gewerkschaften des Aufnahmemitgliedstaates eine Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit darstellen. Der EuGH beurteilte konkret eine gewerkschaftlich organisierte Blockade einer Baustelle, die mit dem Ziel erfolgte, den Unternehmer zum Beitritt zu einem Bautarifvertrag zu bewegen, als Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit (EuGH, Urt. v. 18.12.2007, C-341/05 – Laval –, Rn. 99). Eine weitergehende Erstreckung der Dienstleistungsfreiheit auf Privatpersonen entsprechend der Rechtsprechung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit ist bislang nicht erfolgt.

D › Dienstleistungsfreiheit (Michael Rafii) › V. Rechtfertigung

V. Rechtfertigung

557

Eine Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit ist zulässig, wenn sie entweder aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit oder im Falle diskriminierungsfreier Beschränkungen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist sowie dazu geeignet ist, die Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten und nicht über das zur Erreichung des Ziels erforderliche Maß hinausgeht (EuGH, Urt. v. 9.3.2017, C-342/15 – Piringer –, Rn. 53).

1. Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes

558

Die Rechtfertigung einer Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit setzt in einem ersten Prüfungsschritt einen Rechtfertigungsgrund voraus.

a) Ordre-Public-Klausel

559

Aufgrund des Verweises in Art. 62 AEUV auf Art. 52 Abs. 1 AEUV sind im Bereich der Dienstleistungsfreiheit Beeinträchtigungen zulässig, wenn sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind. Der Rechtfertigungsgrund gilt gleichermaßen für unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen sowie Beschränkungen.

560

Die Begriffe öffentliche Ordnung, öffentliche Sicherheit und öffentliche Gesundheit in Art. 52 Abs. 1 AEUV sind eng auszulegen. Eine Rechtfertigung ist nur möglich, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (EuGH, Urt. v. 14.10.2004, C-36/02 – Omega –, Rn. 30). Eine Rechtfertigung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit hat der EuGH bei einer Maßnahme angenommen, die der Bekämpfung des Drogentourismus und der damit einhergehenden Belästigungen diente (EuGH, Urt. v. 16.12.2010, C-137/09 – Josemans –, Rn. 65 f.). Auch das Verbot des Betriebs des „Laserdrome“, bei dem der Zweck im spielerischen Töten von Menschen lag, war nach Ansicht des EuGH aus Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt (EuGH, Urt. v. 14.10.2004, C-36/02 – Omega –, Rn. 41).

b) Zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls

561

Unterschiedslos auf In- und Ausländer anwendbare Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit können durch zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls gerechtfertigt werden. Der Rechtfertigungsgrund der zwingenden Erfordernisse kann nach herrschender Meinung in der Literatur zudem für indirekte, nicht aber für direkte Diskriminierungen herangezogen werden (→ Grundfreiheiten: Allgemeine Lehren).

562

Ein festgelegter Kanon der als zwingende Erfordernisse anzuerkennenden Gemeinwohlbelange besteht nicht. Den Mitgliedstaaten wird ein gewisser Spielraum bei der Bestimmung der besonders schützenswerten Belange zugestanden. Anerkannt wurden in der Rechtsprechung bislang etwa der Schutz der Verbraucher bei Finanzdienstleistungen oder im Glückspielbereich (EuGH, Urt. v. 10.5.1995, C-384/93 – Alpine Investments –, Rn. 42 ff.; Urt. v. 8.9.2009, C-42/07 – Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International –, Rn. 56), die Rechtssicherheit notariell beglaubigter Urkunden (EuGH, Urt. v. 9.3.2017, C-342/15 – Piringer –, Rn. 59) oder der Schutz von Arbeitnehmern gegen ein etwaiges Sozialdumping (EuGH, Urt. v. 18.12.2007, C-341/05 – Laval –, Rn. 103). Dagegen sind Maßnahmen, die darauf abzielen, negative Auswirkungen auf einen Wirtschaftszweig und damit auf die Wirtschaft eines Landes zu verhindern, als bloße Ziele wirtschaftlicher Art keine zwingenden Gründe des Gemeinwohls (EuGH, Urt. v. 5.6.1997, C-398/95 – SETTG –, Rn. 23).

2. Verhältnismäßigkeit

563

Eine die Dienstleistungsfreiheit beschränkende Maßnahme muss zudem geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihr angestrebten Ziels zu gewährleisten und darf nicht über das zur Erreichung dieses Ziels Erforderliche hinausgehen (EuGH, Urt. v. 9.3.2017, C-342/15 – Piringer –, Rn. 53). Die Verhältnismäßigkeitsprüfung bildet z.B. im Bereich der Glückspielmonopole regelmäßig den Schwerpunkt der rechtlichen Beurteilung (vgl. u.a. EuGH, Urt. v. 8.9.2009, C-42/07 – Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International –, Rn. 55 ff.; Urt. v. 8.9.2010, C-316/07 – Stoß –, Rn. 69 ff.).

564

Die Geeignetheit einer Maßnahme ist auch im Bereich der Dienstleistungsfreiheit nur gegeben, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, das angestrebte Ziel in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen. Das Erfordernis einer kohärenten Verfolgung des angestrebten Ziels war etwa in der Rechtssache Josemans problematisch, in der eine nationale Regelung zu beurteilen war, die lediglich im Ausland ansässigen Personen den Zugang zu Coffeeshops in den Niederlanden verwehrte, aber für in den Niederlanden ansässige Personen keine vergleichbar repressiven Maßnahmen vorsah. Der EuGH hielt das Verbot dennoch für geeignet, weil es den Drogentourismus in erheblicher Weise begrenzen und die durch ihn verursachten Folgeprobleme verringern könne. Den diskriminierenden Charakter der Regelung überwand der EuGH mit dem Argument, der Verkauf von Cannabis sei in allen Mitgliedstaaten verboten und werde in den Niederlanden lediglich geduldet. Die Erforderlichkeit der Regelung wurde vom EuGH ebenfalls bejaht, weil mildere, gleich geeignete Maßnahmen nicht in Betracht kommen würden. Insbesondere stelle die Untersagung lediglich des Verkaufs von Cannabis in Coffeeshops keine gleichermaßen effektive Maßnahme wie ein Zutrittsverbot dar (EuGH, Urt. v. 16.12.2010, C-137/09 – Josemans –, Rn. 69 ff.).

D › Diplomatischer und konsularischer Schutz (Charlotte Kreuter-Kirchhof)

Diplomatischer und konsularischer Schutz (Charlotte Kreuter-Kirchhof)

I.Diplomatischer und konsularischer Schutz nach dem Völkerrecht566 – 569

II.Erweiterter diplomatischer und konsularischer Schutz der Unionsbürger570 – 580

1.Schutz durch Auslandsvertretungen anderer Mitgliedstaaten571

2.Komplementärer Schutz572

3.Mitgliedstaaten als Verpflichtete573, 574

4.Unionsbürger als Schutzberechtigte575 – 577

5.Schutzumfang578, 579

6.Völkerrechtliche Akte und Vereinbarungen mit Drittstaaten580

Lit.:

J. Lippott, Trotz Richtlinie weiterhin intergouvernemental – Neues zum konsularischen Schutz der Unionsbürger in Drittstaaten, DÖV 70 (2017), 217; M. Ruffert, Diplomatischer und konsularischer Schutz, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band X, 3. Aufl. 2012, 67; ders., Diplomatischer und konsularischer Schutz zwischen Völker- und Europarecht, AVR 35 (1997), 459; C. Storost, Art. 23 AEUV und die außenpolitische Dimension der Unionsbürgerschaft, ZEuS 13 (2010), 241; E. Tichy-Fisslberger, Der Schutz der EU-Bürger durch die diplomatischen und konsularischen Vertretungsbehörden, EuR 47 (2012, Beiheft 2), 217.

565

Völkerrechtlich hat jeder Staat das Recht, seinen Staatsangehörigen diplomatischen und konsularischen Schutz zu gewähren (Rn. 566–569). Art. 23 AEUV verpflichtet die Mitgliedstaaten der EU, diesen Schutz jedem Unionsbürger (→ Unionsbürgerschaft) unter denselben Bedingungen wie eigenen Staatsangehörigen zu gewähren, wenn der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger betroffen ist, nicht in dem Drittstaat vertreten ist (Rn. 570 ff.). Diesen Anspruch der Unionsbürger auf Inländergleichbehandlung (→ Grundrechte: Gleichheitsrechte) bestätigen Art. 46 GRCh und Art. 20 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 Buchst. c) AEUV. Gem. Art. 35 EUV arbeiten die diplomatischen und konsularischen Vertretungen der Mitgliedstaaten der EU und die Delegationen der EU zusammen.

D › Diplomatischer und konsularischer Schutz (Charlotte Kreuter-Kirchhof) › I. Diplomatischer und konsularischer Schutz nach dem Völkerrecht

I. Diplomatischer und konsularischer Schutz nach dem Völkerrecht

566

Im Rahmen des diplomatischen und konsularischen Schutzes wird ein Staat nach den Regeln des Völkerrechts zum Schutz seiner Staatsangehörigen tätig.

567

Ein Staat übt diplomatischen Schutz aus, wenn er als Reaktion auf ein völkerrechtliches Unrecht eines anderen Staates Maßnahmen zugunsten seines Staatsangehörigen gegenüber dieser fremden Hoheitsgewalt ergreift. Hierzu gehört bspw., dass ein Staat für seinen Staatsangehörigen eine Entschädigung für eine Enteignung geltend macht oder gegen eine völkerrechtswidrige Maßnahme protestiert.

568

Im Rahmen des konsularischen Schutzes leistet ein Heimatstaat seinen Bürgern auf dem Gebiet eines fremden Staates durch seine Auslandsvertretungen Beistand. Botschaften und Konsulate sowie Honorarkonsuln leisten konsularische Hilfe in Pass- und Visumsangelegenheiten, in Personenstandsangelegenheiten sowie bei Nachlassfragen. Sie unterstützen Bürger, die sich in einem Drittstaat in einer Notlage befinden, etwa nach einem schweren Unfall oder aufgrund einer Erkrankung, auch bei Todesfällen und im Falle einer Festnahme oder Inhaftierung.

569

Nach dem Völkerrecht gewährt grundsätzlich jeder Staat seinen eigenen Staatsangehörigen diplomatischen und konsularischen Schutz. Zugunsten fremder Staatsangehöriger kann ein Staat diplomatischen Schutz ausüben, wenn der nicht vertretene Staat um diesen Schutz ersucht und der Empfangsstaat vorher zugestimmt hat (Art. 46 Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen). Nach dem Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen kann ein Staat einem fremden Staatsangehörigen konsularischen Schutz gewähren, wenn dies dem betroffenen Empfangsstaat notifiziert wird und dieser nicht widerspricht (Art. 8 Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen).

D › Diplomatischer und konsularischer Schutz (Charlotte Kreuter-Kirchhof) › II. Erweiterter diplomatischer und konsularischer Schutz der Unionsbürger

II. Erweiterter diplomatischer und konsularischer Schutz der Unionsbürger

570

Art. 23 UAbs. 1 S. 1 AEUV begründet unionsrechtlich die Pflicht der Mitgliedstaaten, Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten unter denselben Bedingungen wie eigenen Staatsangehörigen diplomatischen und konsularischen Schutz zu gewähren, wenn der Heimatstaat des betroffenen Staatsangehörigen in dem Drittstaat nicht vertreten ist. Gem. Art. 23 UAbs. 1 S. 2 AEUV treffen die Mitgliedstaaten die dafür notwendigen Vorkehrungen und internationalen Vereinbarungen. Durch die Auslandsvertretungen der EU-Mitgliedstaaten entsteht auf diese Weise ein weltweites Schutzsystem für alle Unionsbürger nach dem Prinzip gegenseitiger Schutzgewähr. Dieses Schutzregime erweitert und stärkt den Schutz der Unionsbürger. Die praktische Bedeutung dieses erweiterten Schutzes wird daran deutlich, dass in nur sehr wenigen Staaten der Welt alle Mitgliedstaaten der EU eine eigene Vertretung unterhalten.

1. Schutz durch Auslandsvertretungen anderer Mitgliedstaaten

571

In Art. 23 AEUV stimmen die Mitgliedstaaten der EU zu, dass sie gegenseitig ihren Staatsangehörigen diplomatischen Schutz gewähren. Dabei umfasst Art. 23 AEUV dem Wortlaut der deutschen Fassung nach die Ausübung von „diplomatischem und konsularischem Schutz“. Andere Sprachfassungen legen nahe, dass es beim „Schutz“ i.S.d. Art. 23 AEUV nicht um die umfassende Gewährung diplomatischen Schutzes, sondern nur um den Schutz durch die diplomatischen und konsularischen Behörden vor Ort geht („protection by diplomatic or consular authorities“; „protection de la part des autorités diplomatiques et consulaires“). Dies bestätigt Art. 46 GRCh. Unter den Voraussetzungen des Art. 23 AEUV ist jeder Unionsbürger berechtigt, die Botschaft oder das Konsulat jedes Mitgliedstaats in einem Drittstaat um diplomatischen oder konsularischen Schutz zu ersuchen. Sinn und Zweck der Regelung ist es, dass jeder Unionsbürger die Auslandsvertretung eines anderen Mitgliedstaats als Institution in Anspruch nehmen kann. Der Schutz des Art. 23 AEUV ist auf diese institutionelle Anbindung begrenzt. Er bezieht sich somit nicht auf diplomatische Maßnahmen, die ein Staat unabhängig von seiner Auslandsvertretung ergreift, sondern umfasst insbesondere konsularische Maßnahmen. Dementsprechend regelt das konkretisierende → Sekundärrecht den konsularischen Schutz der Unionsbürger (Konsularschutz-Richtlinie [RL 2015/637/EU]).

2. Komplementärer Schutz

572

Bei der Schutzpflicht des Art. 23 AEUV handelt es sich um eine komplementäre Schutzpflicht. Ein Mitgliedstaat ist nur dazu verpflichtet, einem Staatsangehörigen aus einem anderen Mitgliedstaat diplomatischen und konsularischen Schutz zu gewähren, wenn der Heimatstaat in dem jeweiligen Drittstaat nicht vertreten ist. Nach Art. 6 der Konsularschutz-Richtlinie ist ein Mitgliedstaat in einem Staat nicht vertreten, wenn dieser in dem Drittstaat keine Botschaft, kein Konsulat und keinen Honorarkonsul hat, die effektiv in der Lage sind, ihm konsularischen Schutz zu gewähren.

3. Mitgliedstaaten als Verpflichtete

573

Art. 23 UAbs. 1 AEUV und Art. 46 GRCh verpflichten die Mitgliedstaaten. Sie haben die notwendigen Vorkehrungen zu treffen und die erforderlichen internationalen Verhandlungen einzuleiten, um den Schutzanspruch des Art. 23 AEUV zu gewährleisten (Art. 23 UAbs. 1 S. 2 AEUV). Gegebenenfalls müssen sie ihr nationales Recht anpassen, um Staatsangehörigen anderer EU-Mitgliedstaaten unter den Voraussetzungen des Art. 23 AEUV in demselben Umfang diplomatischen und konsularischen Schutz zu gewähren wie eigenen Staatsangehörigen.

574

Art. 23 AEUV verpflichtet nicht die EU und ihre Delegationen unter dem Dach des → Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD). Die EU selbst gewährt keinen diplomatischen oder konsularischen Schutz. Ihre Delegationen unterstützen aber die Mitgliedstaaten bei ihrer Aufgabe, den Unionsbürgern konsularischen Schutz zu gewähren, indem sie logistische Unterstützung leisten, den Informationsaustausch zwischen den Botschaften und Konsulaten der Mitgliedstaaten fördern und Informationen über die Hilfe zur Verfügung stellen, auf die nicht vertretene Unionsbürger Anspruch haben (Art. 11 Konsularschutz-Richtlinie). Die EU ist beauftragt, die Schutzgewähr durch die Mitgliedstaaten zu koordinieren (Art. 23 UAbs. 2 AEUV). Diesem Zweck dient die Konsularschutz-Richtlinie, die durch Kooperations- und Koordinierungsmaßnahmen die Zusammenarbeit der konsularischen Behörden der Mitgliedstaaten verbessert und so zur Rechtssicherheit beiträgt.

4. Unionsbürger als Schutzberechtigte

575

Während noch nicht abschließend geklärt ist, ob und unter welchen Voraussetzungen das Völkerrecht einem Staatsangehörigen einen Rechtsanspruch auf diplomatischen Schutz gewährt, begründen Art. 23 AEUV, Art. 20 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 Buchst. c) AEUV und Art. 46 GRCh europarechtlich ein subjektiv-öffentliches Recht der Unionsbürger auf Inländergleichbehandlung. Dieser Anspruch besteht nur i.R.d. Völkerrechts. Deshalb verpflichtet Art. 23 UAbs. 1 S. 2 AEUV die Mitgliedstaaten, die für den Schutz des Art. 23 AEUV notwendigen internationalen Vereinbarungen zu treffen.

576

Sind die jeweiligen Voraussetzungen erfüllt, genießt jeder Unionsbürger erweiterten diplomatischen und konsularischen Schutz, wenn er sich im Hoheitsgebiet eines Drittstaats aufhält, in dem sein Heimatstaat nicht vertreten ist. Schutzberechtigt ist damit jeder, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der EU besitzt (Art. 9 S. 2 EUV; Art. 20 Abs. 1 S. 2 AEUV). Die Unionsbürgerschaft des Art. 20 AEUV entfaltet durch den erweiterten diplomatischen und konsularischen Schutz des Art. 23 AEUV konkrete Wirksamkeit. Der Unionsbürger kann seine Schutzberechtigung durch einen gültigen Reisepass oder Personalausweis nachweisen (Art. 8 Abs. 1 Konsularschutz-Richtlinie). Das Ausweisdokument hat deklaratorische Bedeutung; der Schutzanspruch besteht unabhängig von seinem Vorliegen.

577

Die Konsularschutz-Richtlinie erweitert den Anspruch auf Familienangehörige von Unionsbürgern, die nicht die Unionsbürgerschaft besitzen und einen Unionsbürger in einem Drittstaat begleiten. Sie erhalten diplomatischen und konsularischen Schutz unter denselben Bedingungen und in demselben Umfang, den das nationale Recht Familienangehörigen von Bürgern des Hilfe leistenden Mitgliedstaats gewährt (Art. 5 Konsularschutz-Richtlinie). Juristische Personen können diplomatischen und konsularischen Schutz nach Art. 23 AEUV begehren, wenn sie die Staatszugehörigkeit eines EU-Mitgliedstaats besitzen.

5. Schutzumfang

578

Der in Anspruch genommene Mitgliedstaat hat diplomatischen und konsularischen Schutz unter denselben Bedingungen wie eigenen Staatsangehörigen zu gewähren. Begründet wird ein Anspruch auf Inländergleichbehandlung (→ Grundrechte: Gleichheitsrechte). Es besteht somit kein Anspruch auf diplomatischen und konsularischen Schutz, der über denjenigen der eigenen Staatsangehörigen hinausgeht. Das Europarecht bestimmt nicht, in welchem Umfang konsularischer und diplomatischer Schutz zu gewähren ist. Art. 23 AEUV begründet keine Regelungskompetenz der EU. Der konkrete Schutzumfang richtet sich vielmehr nach dem nationalen Recht des jeweiligen Mitgliedstaats. Ob der Schutzanspruch gerichtlich überprüft werden kann, bestimmt ebenfalls das jeweilige nationale Recht.

579

Unter den Voraussetzungen des Art. 23 AEUV hat jeder Unionsbürger das Recht, die Auslandsvertretungen eines anderen Mitgliedstaats in Anspruch zu nehmen. Unterhalten mehrere Mitgliedstaaten eine Auslandsvertretung in einem Drittstaat, hat der Schutzsuchende ein Wahlrecht, an welche Botschaft oder an welches Konsulat er sich wendet. Etwas anderes gilt, wenn Mitgliedstaaten eine ständige gegenseitige Vertretung vereinbart haben (Art. 7 Abs. 2 Konsularschutz-Richtlinie). Die Ausübung des Wahlrechts kann sich auf den Umfang des zu gewährenden Schutzes auswirken, da sich dieser nach dem jeweiligen nationalen Recht des in Anspruch genommenen Mitgliedstaats richtet.

6. Völkerrechtliche Akte und Vereinbarungen mit Drittstaaten

580

Gem. Art. 23 UAbs. 1 S. 2 AEUV treffen die Mitgliedstaaten die notwendigen Vorkehrungen und leiten die für den Schutz des Art. 23 AEUV erforderlichen internationalen Verhandlungen ein. Auf diese Weise werden die völkerrechtlichen Voraussetzungen geschaffen, um fremden Staatsangehörigen konsularischen und diplomatischen Schutz gewähren zu können. Die Mitgliedstaaten der EU haben allen betroffenen Drittstaaten förmlich notifiziert, dass sie für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten konsularischen Schutz ausüben. Ergänzend wurden mit einigen Staaten bilaterale Abkommen mit konsularischen Zustimmungsklauseln geschlossen.

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2130 S. 1 Illustration
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9783811475106
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