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III. Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der Dienstleistungsfreiheit

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Die Anwendbarkeit der Dienstleistungsfreiheit setzt voraus, dass die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind.

1. Keine abschließende Regelung des Sachverhaltes durch Sekundärrecht

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Eine direkte Anwendung der Dienstleistungsfreiheit scheidet aus, wenn der Sachverhalt abschließend durch sekundärrechtliche Normen (→ Normenhierarchie) geregelt wird. Von großer praktischer Bedeutung sind etwa die für den Bereich des öffentlichen Auftragswesens erlassenen Vergaberichtlinien (z.B. Öffentliche-Auftragsvergabe-Richtlinie [RL 2014/24/EU]). Der EuGH zieht allerdings regelmäßig die primärrechtliche Dienstleistungsfreiheit ergänzend heran, da die sekundärrechtlichen Regelungen im Lichte des → Primärrechts auszulegen sind (EuGH, Urt. v. 3.4.2008, C-346/06 – Rüffert –, Rn. 36).

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Auf sekundärrechtlicher Ebene wurden zudem Erleichterungen für den freien Dienstleistungsverkehr geregelt. Das Ziel, Hindernisse für die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen zu beseitigen, verfolgt die Dienstleistungsrichtlinie (RL 2006/123/EG). Sie enthält für den Bereich des Dienstleistungsverkehrs insbesondere verfahrensrechtliche Erleichterungen, indem z.B. gem. Art. 6 Dienstleistungsrichtlinie zentrale Ansprechpartner in dem Mitgliedstaat vorhanden sein müssen, bei denen sich der Dienstleistungserbringer über die für seine Tätigkeit geltenden Anforderungen in dem Mitgliedstaat informieren kann. Im Hinblick auf die Anerkennung von Berufsabschlüssen aus anderen Mitgliedstaaten sind die Vorgaben der Berufsanerkennungsrichtlinie (RL 2005/36/EG) zu beachten. Bei der Erbringung von Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat ergeben sich aus der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) weitere Rechte für die Familienangehörigen des Dienstleistungserbringers.

2. Eröffnung des Schutzbereiches der Dienstleistungsfreiheit

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Weiterhin muss der Schutzbereich in persönlicher und sachlicher Hinsicht eröffnet sein und ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegen.

a) Persönlicher Schutzbereich

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Auf die Dienstleistungsfreiheit können sich gem. Art. 56 UAbs. 1 AEUV die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats der Europäischen Union berufen, wenn sie in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind, als demjenigen, in dem die Dienstleistung erbracht wird. In Abweichung vom Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit muss der Berechtigte über keine Zweigniederlassung oder eine sonstige sekundäre Niederlassung in dem Mitgliedstaat verfügen, in dem er die Dienstleistung erbringen möchte. Neben dem Leistungserbringer kommen auch die Empfänger einer Dienstleistung, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind, als Berechtigte in Betracht (EuGH, Urt. v. 6.11.2003, C-243/01 – Gambelli –, Rn. 55).

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Ein aus der Dienstleistungsfreiheit abgeleitetes Recht auf Einreise und Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, in dem eine grenzüberschreitende Dienstleistung erbracht wird, steht zudem den Angehörigen eines Unionsbürgers zu, die nicht selbst die Unionsbürgerschaft besitzen (EuGH, Urt. v. 11.7.2002, C-60/00 – Carpenter –, Rn. 38 f.). Ein entsprechendes Aufenthaltsrecht ergibt sich allerdings mittlerweile aus Art. 6 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie. Des Weiteren können Unionsbürger bei der Leistungserbringung Arbeitnehmer aus Drittstaaten einsetzen, die in dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates ansässig sind und dort über eine Arbeitserlaubnis verfügen (EuGH, Urt. v. 9.8.1994, C-43/93 – Vander Elst –, Rn. 26).

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Staatsangehörige aus Drittstaaten können sich nicht unmittelbar auf die Dienstleistungsfreiheit aus Art. 56 UAbs. 1 AEUV berufen, selbst wenn sie in einem Mitgliedstaat ansässig sind (EuGH, Urt. v. 3.10.2006, C-290/04 – FKP Scorpio –, Rn. 68). Von der diesbezüglichen Rechtsetzungskompetenz der Unionsorgane in Art. 56 UAbs. 2 AEUV wurde bislang kein Gebrauch gemacht. Über Art. 36 ff. EWR-Abkommen wird allerdings der freie Dienstleistungsverkehr auf das Gebiet der EFTA-Staaten erstreckt (→ Europäische Freihandelszone [EFTA]). Auf diesem Wege sind auch Staatsangehörige aus Island, Norwegen und Liechtenstein Berechtigte der Dienstleistungsfreiheit. Mit der Schweiz wird die Dienstleistungsfreiheit über ein spezielles Freizügigkeitsabkommen in ähnlichem Umfang gewährleistet. Des Weiteren können sich besondere Regelungen aus völkerrechtlichen Vereinbarungen ergeben. Von praktischer Bedeutung ist insbesondere das Assoziations- oder Kooperationsabkommen der EU mit der Türkei (vgl. hierzu EuGH, Urt. v. 21.10.2003, C-317/01 – Abatay –, Rn. 58 ff.).

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Gem. Art. 61 i.V.m. Art. 54 UAbs. 1 AEUV können sich Gesellschaften, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gegründet wurden und die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union haben, wie die Unionsbürger auf die Gewährleistungen der Dienstleistungsfreiheit berufen. Ausgenommen sind gem. Art. 61 i.V.m. Art. 54 UAbs. 2 AEUV Gesellschaften, die keinen Erwerbszweck verfolgen.

b) Sachlicher Schutzbereich
aa) Begriff Dienstleistung

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Der sachliche Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit ergibt sich aus Art. 57 AEUV. Gem. Art. 57 UAbs. 1 AEUV sind Dienstleistungen i.S.d. Verträge Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen. Art. 57 UAbs. 2 AEUV enthält eine exemplarische, nicht abschließende Aufzählung der umfassten Tätigkeiten. Als Dienstleistungen gelten danach insbesondere gewerbliche, kaufmännische, handwerkliche und freiberufliche Tätigkeiten. Völlig untergeordnete und unwesentliche Leistungen sowie in sämtlichen Mitgliedstaaten verbotene Tätigkeiten unterfallen dagegen nicht dem Schutzbereich (EuGH, Urt. v. 5.10.1988, 196/87 – Steymann –, Rn. 13; Urt. v. 16.12.2010, C-137/09 – Josemans –, Rn. 42). In Bezug auf Dienstleistungen auf dem Gebiet des Verkehrs gelten gem. Art. 58 Abs. 1 AEUV die speziellen Bestimmungen der Art. 90 ff. AEUV.

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Aus dem Erfordernis der Entgeltlichkeit ergibt sich, dass die Dienstleistung einen wirtschaftlichen Charakter aufweisen muss. Der Erbringer der Dienstleistung muss für die Tätigkeit eine wirtschaftliche Gegenleistung erhalten, die aber weder in Geld geleistet werden noch die Kosten der Leistungserbringung vollständig decken muss (EuGH, Urt. v. 5.10.1988, 196/87 – Steymann –, Rn. 11 f.). Das Entgelt kann auch von einem Dritten gezahlt werden, dem die Leistung nicht zugutekommt (EuGH, Urt. v. 26.4.1988, 352/85 – Bond van Adverteerders –, Rn. 16; Urt. v. 23.2.2016, C-179/14 – Erzsebet-Gutscheine –, Rn. 155). Weitgehend für die Nutzer kostenfrei erbrachte Leistungen, etwa staatliche Bildungsleistungen, fallen nicht in den Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit (EuGH, Urt. v. 27.9.1988, 263/86 – Humbel und Edel –, Rn. 18 ff.; Urt. v. 24.3.1994, C-275/92 – Schindler –, Rn. 33).

bb) Abgrenzung und Verhältnis zu anderen Grundfreiheiten

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Aus Art. 57 UAbs. 3 AEUV ergibt sich in Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit, dass die Tätigkeiten in dem Aufnahmemitgliedstaat lediglich vorübergehend ausgeübt werden sollen und damit keine dauerhafte Integration in die Volkswirtschaft des Aufnahmestaates angestrebt wird. Typischerweise unterfallen der Dienstleistungsfreiheit damit Leistungen, deren Erbringung auf wenige Monate angelegt ist und die nicht kontinuierlich wiederkehrend angeboten werden sollen. Es können aber auch Tätigkeiten, die sich über einen längeren Zeitraum bis hin zu mehreren Jahren erstrecken, unter den Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit fallen, wenn der vorübergehende Charakter überwiegt (EuGH, Urt. v. 11.12.2003, C-215/01 – Schnitzer –, Rn. 30).

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Abzugrenzen ist die Dienstleistungsfreiheit weiterhin von der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Entscheidend ist das Element der selbständigen Erbringung der Dienstleistung. Die Entsendung von Arbeitnehmern in einen anderen Mitgliedstaat zur Erbringung einer Dienstleistung ist daher der Dienstleistungsfreiheit zuzuordnen (EuGH, Urt. v. 18.12.2007, C-341/05 – Laval –, Rn. 85; Urt. v. 19.6.2014, C-53/13 – Strojirny Prostejov –, Rn. 25 f.). Die Dienstleistungsfreiheit ist auch für die Arbeitnehmerüberlassung einschlägig, bei der ein Unternehmen einem anderen Unternehmen entgeltlich bei ihm angestellte Arbeitnehmer zur Verfügung stellt, ohne dass die Arbeitnehmer mit dem Entleihunternehmen einen Arbeitsvertrag abschließen (EuGH, Urt. v. 10.2.2011, C-307/09 – Vicoplus –, Rn. 27). Die Leistungserbringung von Spitzensportlern unterfällt der Arbeitnehmerfreizügigkeit, wenn die Sportler bei Vereinen angestellt sind, dagegen der Dienstleistungsfreiheit, wenn sich die Sportler über Preisgelder und Sponsorenverträge finanzieren (EuGH, Urt. v. 11.4.2000, C-51/96 – Deliege –, Rn. 56 ff.).

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Im Einzelfall kann zudem die Abgrenzung zur Warenverkehrsfreiheit problematisch sein. Der Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit ist eröffnet, wenn die Tätigkeit auf die Produktion und den Absatz körperlicher Gegenstände gerichtet ist. Von dem Begriff der Dienstleistungen werden Tätigkeiten erfasst, die eine personenbezogene, also insbesondere eine geistig-schöpferische Leistung beinhalten. Lassen sich die produktbezogenen und die personenbezogenen Leistungen trennen, können beide Grundfreiheiten nebeneinander angewandt werden (EuGH, Urt. v. 30.4.1974, 155/73 – Sacchi –, Rn. 6 ff.). Bei untrennbaren Leistungen ist nach dem Schwerpunkt der Tätigkeit zu unterscheiden. So wird etwa bei einer Bewirtungstätigkeit in einem Gasthaus häufig das Dienstleistungselement gegenüber dem Verkauf der Waren überwiegen (EuGH, Urt. v. 10.3.2005, C-491/03 – Hermann –, Rn. 26 ff.; Urt. v. 16.12.2010, C-137/09 – Josemans –, Rn. 49).

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Im Verhältnis zur Kapitalverkehrsfreiheit ergibt sich aus Art. 58 Abs. 2 AEUV, dass beide Freiheiten nebeneinander Anwendung finden können. Die Dienstleistungsfreiheit ist trotz des Wortlauts in Art. 57 UAbs. 1 AEUV nicht subsidiär. Erfasst eine der beiden Grundfreiheiten den zu beurteilenden Sachverhalt weit überwiegend, ist nur anhand dieser Freiheit die Prüfung vorzunehmen. Behindert z.B. eine nationale Regelung vorrangig die Möglichkeit für ausländische Finanzdienstleister, ihre Tätigkeiten auf dem nationalen Markt anbieten zu können, tritt die damit einhergehende Reduzierung des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs danach zurück (EuGH, Urt. v. 3.10.2006, C-452/04 – Fidium Finanz AG –, Rn. 34; Urt. v. 8.6.2017, C-580/15 – Van der Weegen –, Rn. 25).

cc) Gewährleistungsdimensionen

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Gemäß dem Wortlaut in Art. 56 UAbs. 1 und Art. 57 UAbs. 3 AEUV gewährleistet die Dienstleistungsfreiheit das Recht eines Dienstleistungserbringers, seine Tätigkeit vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Heimatstaat unter denselben Voraussetzungen auszuüben, die der Aufnahmestaat für seine Angehörigen vorsieht (sog. aktive Dienstleistungsfreiheit). Unerheblich ist hierbei, wenn der Erbringer und der Empfänger der Dienstleistung dieselbe Nationalität besitzen (EuGH, Urt. v. 26.2.1991, C-180/89 – Fremdenführer –, Rn. 8). Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich als zweite Fallgruppe darüber hinaus, dass das Recht der Dienstleistungsempfänger gewährleistet ist, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um dort die Dienstleistung entgegenzunehmen bzw. die in einem anderen Mitgliedstaat erbrachte Dienstleistung im eigenen Heimatstaat nutzen zu dürfen (sog. passive Dienstleistungsfreiheit; EuGH, Urt. v. 31.1.1984, 286/82 – Luisi und Carbone –, Rn. 16). Allerdings berechtigt die passive Dienstleistungsfreiheit nicht zu einem Ortswechsel auf unbestimmte Dauer (EuGH, Urt. v. 5.10.1988, 196/87 – Steymann –, Rn. 17). Die dritte Fallgruppe bilden die sog. Korrespondenzdienstleistungen. Bei diesen überschreitet nur die Dienstleistung die Grenze, während der Erbringer und der Empfänger der Dienstleistung in ihren Heimatstaaten verbleiben. Typische Anwendungsbeispiele sind die Dienstleistungen von Banken und Versicherungen sowie Rundfunk und Internet (EuGH, Urt. v. 30.4.1974, 155/73 – Sacchi –, Rn. 6; Urt. v. 24.10.1978, 15/78 – Koestler –, Rn. 3).

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Damit diese Rechte wirksam ausgeübt werden können, stehen dem Dienstleistungserbringer und dem Dienstleistungsempfänger einige Begleitrechte zur Verfügung, wie insbesondere das Recht zur vorübergehenden Einreise und zum vorübergehenden Aufenthalt zur Erbringung bzw. zum Empfang der Dienstleistung. Dieses Recht erstreckt sich auch auf die Angestellten des Leistungserbringers (EuGH, Urt. v. 9.8.1994, C-43/93 – Vander Elst –, Rn. 26). Da die Dienstleistungsfreiheit zudem nicht die Existenz eines bestimmten Leistungsempfängers voraussetzt, sind Tätigkeiten im Vorfeld der Leistungserbringung, wie z.B. die Werbung und Kontaktaufnahme zu potentiellen Kunden, ebenfalls vom Gewährleistungsumfang erfasst (EuGH, Urt. v. 10.5.1995, C-384/93 – Alpine Investments –, Rn. 28). Hierzu zählt auch das Recht der Dienstleistungserbringer, Immobilien zu erwerben oder zu nutzen, soweit dies der Leistungserbringung dient (EuGH, Urt. v. 30.5.1989, C-305/87 – Kommission/Griechenland –, Rn. 24 ff.).

c) Grenzüberschreitender Sachverhalt

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Die Gewährleistungen der Dienstleistungsfreiheit setzen wie alle Grundfreiheiten einen grenzüberschreitenden Sachverhalt voraus (→ Grundfreiheiten: Allgemeine Lehren). Hinsichtlich des Vorliegens der grenzüberschreitenden Erbringung einer Dienstleistung ist zu unterscheiden zwischen der aktiven Dienstleistungsfreiheit, der passiven Dienstleistungsfreiheit und der Korrespondenzdienstleistung (s. o. Rn. 545). Für Tätigkeiten, die lediglich Bezüge zum nationalen Markt des Heimatstaates des Leistungserbringers aufweisen und nicht über die Grenzen hinausweisen, ist die Dienstleistungsfreiheit dagegen nicht einschlägig (EuGH, Urt. v. 21.10.1999, C-97/98 – Jägerskiöld –, Rn. 42).

3. Keine Bereichsausnahme, Art. 62 i.V.m. Art. 51 UAbs. 1 AEUV

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Wie im Bereich der Niederlassungsfreiheit sind gem. Art. 62 i.V.m. Art. 51 UAbs. 1 AEUV Tätigkeiten vom Anwendungsbereich ausgenommen, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind. Die Vorschrift ist eng auszulegen und erfasst nur Tätigkeiten, bei denen der Leistungserbringer über eigene Vollzugs-, Verbots- oder Zwangsbefugnisse gegenüber anderen verfügt. Dagegen fallen Hilfs- oder Vorbereitungstätigkeiten für die Ausübung öffentlicher Gewalt ebenso wie Beiträge zur Erfüllung von öffentlichen Aufgaben, die nicht unmittelbar mit Beurteilungs- oder Entscheidungsbefugnissen einhergehen, nicht unter die Bereichsausnahme (EuGH, Urt. v. 17.3.2011, C-372/09 – Penarroja Fa –, Rn. 42).

D › Dienstleistungsfreiheit (Michael Rafii) › IV. Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit

IV. Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit

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Gem. Art. 56 UAbs. 1 AEUV sind Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen verboten. Fällt eine Maßnahme der Mitgliedstaaten oder der anderen Verpflichtungsadressaten in den Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit, ist daher zu prüfen, ob sie eine Beeinträchtigung des Gewährleistungsinhalts darstellt. Wie bei allen Grundfreiheiten (→ Grundfreiheiten: Allgemeine Lehren) können sich Beeinträchtigungen zum einen aus unmittelbar oder mittelbar diskriminierenden Maßnahmen ergeben (Gleichheitsrecht) und zum anderen aus beschränkenden Maßnahmen (Freiheitsrecht).

1. Diskriminierungsverbot

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Gem. Art. 57 UAbs. 3 AEUV hat der Dienstleistungserbringer das Recht, seine Dienstleistungen nach denselben Vorgaben erbringen zu dürfen, die für inländische Staatsangehörige bestehen. Damit sind Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit verboten. Das Diskriminierungsverbot umfasst sowohl unmittelbare, direkt an die Staatsangehörigkeit anknüpfende Ungleichbehandlungen (auch direkte oder offene Diskriminierung genannt) als auch mittelbare Diskriminierungen, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen (auch indirekte versteckte oder verschleierte Diskriminierung genannt; EuGH, Urt. v. 16.12.2010, C-137/09 – Josemans –, Rn. 58). Diese Differenzierung ist wegen der unterschiedlichen Anforderungen, die an die Rechtfertigung direkt oder indirekt diskriminierender Maßnahmen gestellt werden, von Bedeutung.

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Eine unmittelbare Diskriminierung bilden etwa nationale Regelungen, die den Zugang zum Beruf des Fremdenführers Staatsangehörigen des Aufnahmestaates vorbehalten oder nach denen lediglich ausländische Studenten in dem Mitgliedstaat Studiengebühren zahlen müssen (EuGH, Urt. v. 22.3.1994, C-375/92 – Kommission/Spanien –, Rn. 10; Urt. v. 13.2.1985, C-293/83 – Gravier –, Rn. 26). Die Forderung nach einem Entgelt lediglich von ausländischen Besuchern staatlicher Museen stellt eine direkte Diskriminierung i.R.d. passiven Dienstleistungsfreiheit dar (EuGH, Urt. v. 15.3.1994, C-45/93 – Kommission/Spanien –, Rn. 10).

552

Formen mittelbarer Diskriminierung sind insbesondere Maßnahmen, die eine Unterscheidung aufgrund des Kriteriums des Wohnsitzes treffen, da sich dieses Kriterium regelmäßig zum Nachteil der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auswirkt. Dies traf z.B. auf eine niederländische Regelung zu, die nicht in den Niederlanden ansässigen Personen den Zutritt zu Coffeeshops untersagte (EuGH, Urt. v. 16.12.2010, C-137/09 – Josemans –, Rn. 59). Eine mittelbare Diskriminierung stellte weiterhin eine italienische Regelung dar, wonach Mitarbeiter privater Sicherheitsunternehmen einen Treueeid auf den italienischen Staat und das Staatsoberhaupt in italienischer Sprache schwören mussten (EuGH, Urt. v. 13.12.2007, C-465/05 – Kommission/Italien –, Rn. 48).

2. Beschränkungsverbot

553

In der Rechtsprechung des EuGH ist geklärt, dass die Dienstleistungsfreiheit über ein bloßes Diskriminierungsverbot hinaus „die Aufhebung aller Beschränkungen, selbst wenn sie unterschiedslos für einheimische Dienstleistende wie für Dienstleistende anderer Mitgliedstaaten gelten, verlangt, wenn sie geeignet sind, die Tätigkeit des Dienstleistenden, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist und dort rechtmäßig ähnliche Dienstleistungen erbringt, zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen“ (EuGH, Urt. v. 25.7.1991, C-76/90 – Säger –, Rn. 12; Urt. v. 12.12.1996, C-3/95 – Broede –, Rn. 25). Die Beeinträchtigung kann sowohl vom Aufnahme- als auch vom Heimatstaat ausgehen (EuGH, Urt. v. 10.5.1995, C-384/93 – Alpine Investments –, Rn. 30).

554

Wiederholt wurden vom EuGH Eintragungs- oder Genehmigungserfordernisse vor der Ausübung der Tätigkeit als Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit angesehen. In diesem Zusammenhang hat der EuGH etwa die sich aus der deutschen Handwerksordnung ergebende Pflicht beanstandet, wonach sich ein Unternehmen vor Ausübung einer handwerklichen Tätigkeit in die Handwerksrolle eintragen und damit Pflichtmitglied in der Handwerkskammer werden musste. Das Eintragungsverfahren würde bei Unternehmen, die bereits in ihrem Heimatstaat die erforderlichen Voraussetzungen nachgewiesen hätten, die Leistungserbringung unzulässig erschweren und verzögern sowie durch die Zahlung der Kammerbeiträge verteuern (EuGH, Urt. v. 3.10.2000, C-58/98 – Corsten –, Rn. 34, 48; Urt. v. 11.12.2003, C-215/01 – Schnitzer –, Rn. 34). Eine Beschränkung liegt auch vor, wenn die Erteilung einer behördlichen Erlaubnis von einer bestimmten beruflichen Qualifikation abhängig gemacht wird (EuGH, Urt. v. 25.7.1991, C-76/90 – Säger –, Rn. 14; Urt. v. 17.12.2015, C-342/14 – X-Steuerberatungsgesellschaft –, Rn. 49).

555

Angesichts der Weite des Beschränkungsverbotes wird in der Literatur überwiegend gefordert, die Einschränkung im Bereich der Warenverkehrsfreiheit durch die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Keck (EuGH, Urt. v. 24.11.1993, C-267/91 u.a. – Keck –, Rn. 17) auf die Dienstleistungsfreiheit zu übertragen. Damit wären lediglich Beschränkungen des Marktzugangs erfasst, nicht aber den Verkaufsmodalitäten entsprechende Regelungen zu den Modalitäten der Erbringung der Dienstleistungen. Einige Urteilsbegründungen des EuGH deuten darauf hin, dass er seine Rechtsprechung in diesem Sinne auf die Dienstleistungsfreiheit übertragen will. So hat der EuGH etwa in der Rechtssache Alpine Investments ausdrücklich eine Prüfung anhand der Vorgaben der Keck-Rechtsprechung bejaht, in der Sache allerdings eine Beschränkung des Marktzugangs angenommen (EuGH, Urt. v. 10.5.1995, C-384/93 – Alpine Investments –, Rn. 33 ff.). In der Rechtssache Mobistar wurde eine unterschiedslos anwendbare Maßnahme, die in- und ausländische Anbieter gleichermaßen belastete und die grenzüberschreitende Leistungserbringung gegenüber der Tätigkeit von Inländern nicht erschwerte, als mit der Dienstleistungsfreiheit vereinbar angesehen, ohne aber ausdrücklich die Keck-Rechtsprechung zu übernehmen (EuGH, Urt. v. 8.9.2005, C-544/03 – Mobistar –, Rn. 35). Die Rechtslage ist daher weiterhin offen.

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Umfang:
2130 S. 1 Illustration
ISBN:
9783811475106
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