Der blaue Vorhang

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Der blaue Vorhang
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Barbara Sichtermann · Ingo Rose

Der blaue Vorhang

Isadora Duncan. Ihr Leben, ihr Tanz

Romanbiografie


Erste Auflage 2021

© Osburg Verlag Hamburg 2021

www.osburgverlag.de Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg Korrektorat: Mandy Kirchner, Weida Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-95510-260-9 eISBN 978-3-95510-266-1

Inhalt

IDie Eroberung des großen Publikums

IIDie Quellen der Kunst

IIIDie Schule und die Begegnung mit Craig

IVAuf Tournee und die Begegnung mit Singer

VEin Eheversuch und ein furchtbarer Unfall

VIDer Krieg und die Marseillaise

VIIRussland und die Begegnung mit Jessenin

VIIIDie Botschafterin der Revolution

IXDie letzten Jahre

Epilog

Editorische Notiz

Literatur

Abbildungsnachweis

I
Die Eroberung des großen Publikums

Die Pariser Weltausstellung im Sommer 1900 bot viele grandiose Neuheiten, von denen etliche im zwanzigsten Jahrhundert ganz selbstverständlich zum Alltag gehören würden, darunter die Rolltreppe, der Dieselmotor und die Untergrundbahn. Mit der großen Industrie- und Kulturenschau sollte zum Höhepunkt der Belle Époque eine Bilanz des Jahrhunderts gezogen werden. Auf einem Fahrsteig aus Holz konnten die Besucher das gesamte Ausstellungsgelände umrunden, ein typisches Schweizer Dorf war aufgebaut worden und auch eine kambodschanische Grotte, chinesische Pagoden und tunesische Bazare. Eine komplett neue Brücke über die Seine wurde eingeweiht. Und ein Riesenrad mit hundert Metern Durchmesser stand auch noch da.

Auf dem Marsfeld und der Place du Trocadéro, im Bois de Vincennes und auf der Esplanade des Invalides waren nicht nur technische, sondern auch künstlerische Sensationen zu bewundern. Die Brüder Lumière führten die ersten bewegten Bilder vor, der Bildhauer Auguste Rodin hatte seinen eigenen Pavillon, in dem erstmals fast alle seine Werke gezeigt wurden, und eine amerikanische Performerin namens Loïe Fuller faszinierte durch eigenartige »Lichttänze«. Es gab nun noch eine Persönlichkeit, die als Verwandlerin, Neuerin, ja Revolutionärin einer erstarrten Kunstform auftreten sollte – sie war auf der Weltausstellung allerdings nur im Publikum anwesend. Die 23-jährige junge Frau stammte aus Kalifornien, sie war über London nach Paris gereist, um die Welt kennenzulernen. Und die Kunstform, die sie ganz und gar neu erfinden und bekannt machen sollte, war der Tanz. Sie hieß Isadora Duncan.

Zeitgleich mit der Weltausstellung und in ihrem Rahmen fanden die Olympischen Spiele statt. Es waren die zweiten der Neuzeit. Allerdings nahm niemand sie gebührend zur Kenntnis, ja, sie sind im Trubel der Exposition Universelle regelrecht untergegangen. Nicht einmal Isadora Duncan, die es während der Sommermonate fast täglich zum Areal der Ausstellung zog, nahm von den Sportereignissen Notiz. Das verwunderte ihren Begleiter Charles Edward Hallé, einen englischen Maler, den Isadora von London her kannte und der zur Weltausstellung nach Paris gereist war. Er traf seine Freundin im Pavillon Rodin und küsste ihr erfreut die Hände.

»Ich habe Sie im Sportstadion vermutet«, sagte er. »Aber wie ich sehe, ziehen Sie die Skulptur dem lebendigen Körper vor.«

Isadora lachte. »Darüber müssen wir reden. Schauen Sie sich die Halslinie dieser Plastik an, lieber Charles, ist sie etwa nicht lebendig? Und schön dazu? Die schwitzenden Körper der Athleten, die um die Wette rennen und aus ihrer Muskulatur Werkzeuge machen, die ihnen irgendeinen Sieg bescheren sollen, interessieren mich überhaupt nicht …«

»Aber die Olympiade«, unterbrach Hallé, »ist doch eine griechische Idee! Die muss Sie doch begeistern. Haben Sie mir nicht in London immer wieder erklärt, dass es die alten Griechen seien, die mit ihrer Demokratie, ihrer Philosophie und ihren Künsten schlichtweg als Vorläufer unserer Zivilisation gelten müssen – sogar der amerikanischen?«

»Ach, Charles«, Isadora legte eine Hand auf Hallés Schulter, »Sie haben völlig recht und auch wieder nicht. Die Alten haben gewusst, was Schönheit ist und wie man sie hervorbringt, weil sie wussten, was Natürlichkeit ist. Ich war im Frühjahr Tag für Tag im Louvre und habe mir die griechischen Vasen mit den Abbildungen tanzender menschlicher Körper angesehen. Was für eine Vollendung der Form! Welch einfache Eleganz! Aber wir heute? Schauen Sie sich um, lesen Sie die Zeitungen. Überall wird gewetteifert, es geht nur um Preise, um Titel, um den ersten Platz. Um schnöden Mammon! Um Banalitäten. Wäre das im Sinne der Griechen? Ich glaube nicht.«

Hallé nickte. »So kenne ich Sie, Isadora, immer in Grübeleien versunken: Wie nur finden wir zurück zu den Griechen …«

»Auf keinen Fall durch solche Fetische wie Medaillen und Siegertreppchen.«

»Kann es sein, dass Sie die Antike idealisieren?«

»Ja, das kann sein. Aber ich brauche dieses Ideal für meine Kunst. Sie müssten das doch verstehen – mit Ihrer Loyalität zu den Präraffaeliten! Übrigens: Haben Sie Winckelmann gelesen?«

Mit Hallé konnte Isadora über all das reden, was ihr tagein, tagaus durch den Kopf ging, was ihre Gedanken beherrschte und sie unablässig ebenso quälte wie beseelte. Sie war eine Tänzerin. So sagte man, und so sagte sie auch selbst, vor allem, wenn sie sich um Auftritte bewarb, weil sie Geld brauchte. Aber immer wieder hat sie sich auch entschieden dagegen verwahrt, als Tänzerin bezeichnet zu werden. Denn dadurch, fand sie, würden falsche Assoziationen geweckt. Ein junges Mädchen in leichtem Gewand, das sich hin und her wiegt und den Umriss seines Körpers sehen lässt, das die Beine wirft und dann womöglich noch Kusshände ins Publikum – mit solchen frivolen Gesten wollte sie rein gar nichts zu tun haben. Ihr ging es um ganz etwas anderes: um den persönlichen Ausdruck des inneren Erlebens eines Menschen durch den Körper. Sie wollte das Leben selbst durch Bewegung zur Kunst erhöhen. Nein, darunter machte sie es nicht. Sie hatte schon als Kind getanzt, und immer weiter ihre ganze Jugend hindurch. Sie hatte sich angesehen, was Tanz zu ihrer Zeit in Amerika und anderwärts bedeutete und war entsetzt: das Ballett und auch der Gesellschaftstanz, alles fußte auf eingelernten, stets sich wiederholenden Bewegungen, die äußerlich, einfallslos und rigide waren, und waren sie weich, dann lasch und passiv. Letztlich beruhten sie auf Drill, auf Zwang, auf Beherrschung; vor allem das Ballett züchtete Körper, die funktionierten wie Marionetten. Der Spitzentanz beruhte auf der Vision eines von der Schwerkraft befreiten Körpers – aber war nicht in Wahrheit der Körper der Schwerkraft anheimgegeben, ihr ebenso überantwortet wie der Luft, die ihn durchatmete und musste nicht neben der Lust zu fliegen erst recht die Lust zu fallen und das eigene Gewicht zu fühlen, in den Tanz eingehen? Wo waren die natürliche Anmut, die Isadora hätte bewundern wollen, wo die edle Einfalt und stille Größe, die der deutsche Archäologe Winckelmann den alten Griechen zuschrieb? Was der Tanz der Gegenwart schuldig blieb, war, fand Isadora, der Fluss, die Zeitlichkeit, das Wissen und Zeigen, dass jede Bewegung einen Grund, eine Quelle, eine Herkunft hat und zu einer neuen Bewegung führt und von da zur Einheit, zur Höhe, zum Wesen, zur zweiten Natur. Was der Tanz zu ihrer Zeit schuldig blieb, war die Einsicht, dass sich überraschende, überwältigende, erhabene Gestalten ergeben, wenn nur der tanzende Mensch seine Seele ganz in den Körperausdruck fließen lässt. »Unter den tausenden von Figuren«, so notiert es Isadora später in ihren Memoiren, »die uns auf den griechischen Vasen und Reliefs überliefert sind, findet sich nicht eine, deren Bewegung nicht bereits eine andere Bewegung voraussetzte. Die Griechen waren eben außerordentliche Beobachter der Natur, in der alles der Ausdruck nie endender, ewig sich steigernder Entwicklung ist, in der es nie ein Ende, nie ein Einhalten gibt.« Einen solchen humanistischen Tanz, der wie eine Meereswelle sich aus sich selbst unentwegt entwickelt, wollte Duncan kreieren und lehren, sie hatte schon bei sich damit begonnen. Auch die Erscheinung der Tänzerin musste sich unbedingt ändern. Die Seidenschläppchen der Ballerinen lehnte Duncan als geziert ab, ebenso den Tüllrock und die Schnürbrust. Sie tanzte barfuß in einem losen Überwurf, ging es ihr doch um die größtmögliche Freiheit auch und gerade des Körpers. In den Londoner Zirkeln und Salons der Bohème und der Aristokratie hatte sie ihre Kunst im privaten Rahmen ein- und vorgeführt und auf Schauspielerinnen, Kunsthistoriker, Mäzeninnen und interessierte Laien tiefen Eindruck gemacht. Die ersten Kritiken waren erschienen, die meisten äußerten sich lobend. Künstler wie Hallé sahen in Isadoras Tanz einen avantgardistischen Ausdruck und feuerten sie an. Sie war, wie es schien, auf einem guten Weg – aber doch noch weit davon entfernt, ihre künstlerischen Ambitionen sozusagen in Großbuchstaben an den Horizont ihres Lebens schreiben zu können. Sie war immer noch eine Suchende, sie zermarterte sich das Hirn: Was ist es, das ich der Welt geben kann, geben muss? Wie kann ich das große Ziel fassen und einfach erläutern? Es genügte ihr nicht, tanzend etwas Neues zu erschaffen, sie musste auch die dazu passende Philosophie entwerfen. »So bin ich nun mal – cérébrale (= intellektuell)!«, sagte sie halb lachend aber doch ernst zu Hallé. Was sie nicht wollte, wusste sie genau. Und ihre Visionen, ihr Ehrgeiz – die gingen noch viel weiter als alles, was sie einstweilen tänzerisch oder mit Worten auszudrücken vermochte. Im Grunde wollte sie die ganze Welt aus Korsetts, Konventionen und starren Formen erlösen, wollte wie der deutsche Philosoph Karl Marx, den sie in London gelesen hatte, »die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zwingen«. Um darüber nachzudenken, war die Weltausstellung in Paris genau der richtige Ort und Charles Hallé der richtige Gesprächspartner. Sie trafen sich täglich und umwanderten nach und nach die gesamte Exposition Universelle.

 

Hallé war ein Mann in den Fünfzigern, als Maler im Stile der Präraffaeliten erfolgreich und wie die meisten Männer, denen sich Isadora in ihrem Ringen um das Besondere ihrer Kunst anvertraute und mit denen sie eine Art Gesprächsbeziehung (»cérébrale«) begann und durchhielt, von väterlichen Gefühlen für die attraktive Amerikanerin erfüllt. Zugleich aber war er darauf bedacht, ihr klarzumachen, dass nicht alle Männer in der Welt so ritterlich und zurückhaltend waren wie er.

»Das Erotische werden Sie aus Ihrer Tanzdarbietung nie heraushalten können, zumal Sie …«, und er verschluckte ein Kompliment.

»Das will ich ja auch gar nicht. Das Erotische ist das Göttliche, das Dionysische, und natürlich soll es sich vermitteln. Aber nicht in der billigen Version einer Hupfdohle, die Ausschnitt zeigt, damit die Männer in der ersten Reihe einen Geldschein reinstecken. Das wäre mir zutiefst zuwider. Sie verstehen …«

Hallé verstand sie genau, wusste aber auch, wie schwer es sein würde, das Publikum, zumal das männliche, dazu zu bringen, ihre Shows nicht nur wegen der Schönheit der Performerin zu besuchen, denn dieses Mädchen hatte einen wahrhaft vollkommenen Körper und ein Gesicht wie ein Engel. Ihr langer, biegsamer Hals betonte ihre Zartheit, die kräftigen Schenkel ihre Erdverbundenheit. Natürlich kamen die Männer, um dieses Wunderwesen umherspringen zu sehen – und die Frauen auch, wollten sich vielleicht etwas abgucken, diese Gebärde oder jene Frisur. So waren die Menschen nun mal, die meisten nicht zu Höherem berufen.

»Doch!«, beharrte Isadora. »Alle sind zu Höherem berufen. Könnte ich die Welt nur tanzen lehren … Was meinen Sie, Charles, wäre wohl Auguste Rodin bereit, mich persönlich zu empfangen? Können Sie sich das vorstellen?«

Fast hätte Hallé gesagt: ›Aber sicher, meine Liebe‹, doch er biss sich auf die Lippen und murmelte nur:

»Erfreuen Sie sich an seiner Kunst. Der Mann ist ein ziemlich alter Knochen. Älter noch als ich. Und sein Umgang mit Damen –«

Isadora machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Das ist mir egal. In seinen Plastiken erkenne ich alles wieder, was mir lieb und teuer ist – das Schönheitsideal der Griechen, Leidenschaft und Ekstase. Schon beim ersten Anblick seiner Kunst war ich überwältigt. Sagen Sie: Könnte es nicht sein, dass ich für ihn ein interessantes Modell wäre? In einer meiner besten Posen, so etwa …« Und sie reckte die Arme himmelwärts und ließ den Kopf ganz tief in den Nacken fallen.

»Ja, wahrscheinlich«, knurrte Hallé und nestelte an seiner Brieftasche. »Warten Sie, Isadora, ich gebe Ihnen hier die Karte meines Neffen Charles Noufflard. Wenn Sie einverstanden sind, bitte ich ihn, sich Ihrer hier ein wenig anzunehmen. Er heißt Charles wie ich, aber er ist jung und unternehmungslustig. Ich muss demnächst zurück nach London.«

Isadora nahm die Karte und las den Namen mit einem Gefühl der Dankbarkeit und Freude. Sie hatte es nicht offen zugeben mögen, aber einstweilen war es ihr noch nicht gelungen, in Paris als Künstlerin Fuß zu fassen. Jeder neue Kontakt war wichtig, denn er konnte zu einem Engagement führen. Miss Duncan lebte derzeit, zusammen mit ihrer Mutter, bei ihrem Bruder Raymond – in einem Atelier in der Avenue de Villiers. Wie auch zuvor schon in London wohnten die drei in einem einzigen Raum, der ihnen als Studio und Unterkunft diente, möbliert mit nichts als einem Klavier und drei Matratzen, die tagsüber an die Wand gelehnt wurden, damit Isadora Platz zum Tanzen hatte. Außerdem gab es noch ein paar Kisten mit Büchern, Kleidung, persönlichen Sachen und Isadoras Tuniken. Aufgebrochen war die ganze Familie, der ›Duncan-Clan‹, wie sie sich selber nannten: die Mutter mit Tochter Elizabeth, den Söhnen Augustin und Raymond sowie Nesthäkchen Isadora im Jahre 1895 aus ihrer Heimatstadt San Francisco. Isadora war am 26. Mai 1877 auf die Welt gekommen, achtzehn Jahre war sie alt, als sie Kalifornien verließ. Zunächst ging es nach Chicago und New York und drei Jahre später nach Europa. Was der Clan suchte, war die Kunst: Mutter Dora als Pianistin, Augustin als Schauspieler, Raymond als Rezitator und Performer, Elizabeth als Organisatorin und Isadora auf der Tanzbühne. Sie lebten und arbeiteten quasi als ›fahrendes Volk‹, immer von der Hand in den Mund, wobei Isadora bei Schauspiel- und Musicalproduktionen sowie bei Solo-Auftritten in Salons und auf Kleinkunstbühnen das meiste Geld verdiente. In New York gehörte sie sogar einer renommierten Truppe an, die Operetten, Tanzabende und Shakespeares Komödien herausbrachte, es gab Erfolge. Aber die Gagen waren bescheiden, es war nie etwas übrig geblieben, um einen Fonds anzulegen für knappe Zeiten. Und gerade jetzt wieder wussten die Duncans nicht, wie es weitergehen sollte.

Die Duncans – das waren im Jahre 1900 nur noch die Clanmutter Mrs Duncan, Sohn Raymond und Isadora. Die beiden anderen waren in die Staaten zurückgekehrt, Augustin, weil er drüben ein Mädchen hatte und heiraten wollte, und Elizabeth, weil sie eine Tanzschule führen und Geld verdienen konnte. Aber Isadora kannte keine Angst vor der Armut, und ihre Mutter war nichts anderes gewohnt. Raymond, Hobby-Philosoph und stets bereit, aus einem der Bücher, die er bei sich trug, zu rezitieren, machte aus dem Mangel eine Übung und wurde praktizierender Asket. Hin und wieder hungerten die Duncans tatsächlich. Wie Epikur konnten sie sich an einer einfachen Mahlzeit erfreuen, doch wenn sich ihnen ein üppig gedeckter Tisch bot, waren sie nicht weniger entzückt. Dasselbe Verhältnis pflegte die Familie zu Geld und dem Umgang damit. War es vorhanden, wurde es mit vollen Händen ausgegeben, auch wenn es hieß, dass übermorgen nichts zu essen da sein würde und die Miete nicht bezahlt werden konnte. Als dürfte das Geld nicht an ihnen haften bleiben. Hauptsache war immer, dass die geistige Nahrung nicht ausging. Und hätte jemand zu Isadora gesagt: Vom Geist allein kann man doch nicht leben, so hätte sie, den Kopf in den Nacken werfend, geantwortet: »Doch, ich schon! Auf das Frühstück kann ich verzichten, aber nicht auf meine Lektüre und meinen Tanz.«


Die Weltausstellung bot eine Attraktion, für die sich Isadora beruflich interessierte. Aber bis jetzt hatte sie sich noch nicht hingetraut, denn alles, was sie darüber zu hören bekam, schürte in ihr eine gewisse Furcht. Es könnte ja sein, dass sie, wenn sie Loïe Fuller tanzen sah, ihre eigene Kunst plötzlich nicht mehr wertschätzte und sich neben der Lichttänzerin, wie man sie nannte, klein und hässlich fühlte … Aber das war nur der eine, wenn auch letztlich wichtigste Grund, warum Isadora zu Loïe Fuller noch auf Abstand geblieben war. Es gab weitere Bedenken. Die ältere Kollegin, die wie sie aus den Staaten stammte, war Stargast bei den Folies Bergère, einem Varieté-Theater von der Art, wie Isadora es instinktiv ablehnte. Dass auch die berühmte Tänzerin Caroline Otéro, Kurtisane mehrerer gekrönter Häupter und großer Künstler, jahrelang dort aufgetreten war, sprach für sich. Es war kein Ort für Isadoras Kunst, so wie sie es sah: zu sehr Revue und grand spectacle und womöglich Can-Can, auch war das Etablissement als bester Liebesmarkt der Stadt bekannt, da die schönsten Prostituierten hier Freikarten erhielten. Was konnte ihr der Kontakt zu Fuller schon anderes bringen, als Auftritte auf so einer Bühne? Wollte sie das? Schließlich siegte die Neugier. Isadora ging in die Vorstellung. Und war begeistert.

»Was für ein außerordentlicher Genius!«, schrieb sie in ihren Erinnerungen. »Was sie macht, kann man nicht wiederholen, und man kann es nicht beschreiben. Sie war ganz Licht, ganz Farbe. Sie verwandelte sich vor den Augen ihres Publikums in tausend bunte Imaginationen, in vielfarbige leuchtende Orchideen, in eine wogende, fließende Seeanemone und schließlich zu einer spiralförmigen Lilie. Völlig verwirrt und überwältigt von dieser einzigartigen Künstlerin ging ich nach Hause.«

Wichtigstes Hilfsmittel für Fuller und ihren Tanz waren riesige Stoffbahnen, die derart am Körper der Tänzerin befestigt waren, dass sie sie hin und her bewegen und dabei in runde Wogen, spiralförmige Wellen oder kelchartige Aufbauschungen übersetzen konnte. Die Tänzerin war der äußerst gelenkige Impulsgeber; was den Raum ausfüllte und das Auge des Betrachters fesselte, war eine ganz neue Erscheinung: Massen sich überschlagender und ineinander verschlingender Draperien, die weit über das Dekorative hinaus einen Eindruck von elementarer Wandlung weckten – als solle ein Stern aus dem Chaos geboren werden. Für diese außerordentliche Wirkung benutzte Fuller zur Verlängerung ihrer Arme leichte, aber lange Aluminiumstäbe, die mit den Stoffen verbunden waren und den Schwungbefehl ihrer Hände weitergaben.

Eine ausgefeilte Lichtregie war die andere tragende Säule der Show. Vor allem mit Licht drückte sich Loïe Fuller künstlerisch aus, nicht so sehr mit ihrem Körper: »Je sculpte de la lumière (= Ich forme Licht).« Sie verzichtete auf Kulissen, tauchte den Zuschauerraum in tiefes Schwarz, ließ elektrische Blitze von oben auf ihre Seidenflügel prasseln und bestrich ihre Textilien mit fluoreszierenden Substanzen. So zauberte sie nicht nur nie gesehene Wellenbewegungen in den Bühnenraum, sondern auch unglaubliche Farben und Reflexe. Ihr Beiname fée d’électricité weckte im Publikum einen leichten Schauder, denn noch war die Elektrizität im alltäglichen Gebrauch eine junge Errungenschaft und nie ganz ungefährlich. Fuller umgab sich mit Spezialisten, wollte aber selbst alles wissen und korrespondierte mit dem Physiker-Ehepaar Marie und Pierre Curie. Es entwickelte sich eine Freundschaft und Zusammenarbeit, und Fuller tanzte zur Verleihung des Nobelpreises an das Forscherpaar ihren Radium Dance. Zwar konnte man sie, wie Isadora schrieb, nicht wiederholen, aber man konnte versuchen, sie nachzuahmen. Fuller meldete Patente auf ihre Erfindungen an und prozessierte gegen die Diebinnen ihrer Ideen. Man nannte sie die Meisterin des Lichts, der Dramatiker und Künstler Jean Cocteau meinte gar, sie hätte das Phantom eines Zeitalters erschaffen.


Und noch einmal sprang Isadora in diesem großen Pariser Sommer über ihren Schatten. Sie schrieb einen Brief an Auguste Rodin und bat, ihn besuchen zu dürfen. Die Antwort kam postwendend und war positiv. Isadora küsste den Brief, drehte sich einmal um sich selbst und zog los. Sie wurde sogleich vorgelassen. »Ich tanze«, sagte sie, als sie sich vorgestellt hatte, »und ich habe mein Bewegungsideal in Ihren Skulpturen wiederentdeckt.« Sie hatte sich genau überlegt, was sie sagen wollte, und es vorher geübt, denn ihr Französisch war noch unvollkommen. Rodin führte sie herum und zeigte ihr seine aktuellen Arbeiten, viele davon waren wegen der Wärme mit feuchten Tüchern bedeckt, es duftete dumpf nach Ton und Lehm. Der Meister stand in seinem sechzigsten Jahr; er war stets geneigt, eine schöne Gestalt zu zeichnen, wenn sie ihm erschien. Also holte er seinen Skizzenblock hervor, nahm einen Stift und bat seinen Gast zu tanzen. Isadora legte ihr Schultertuch ab, zog ihre Schuhe aus, positionierte sich in der Mitte des Raumes und kreuzte die Hände vor der Brust. »Es ist nicht so einfach ohne Musik«, sagte sie, »aber es geht.« Dann tat sie ein paar kleine und größere Schritte, holte mit den Armen aus, als wollte sie die Luft zusammenschieben und machte einen Sprung. Ihr Kopf trudelte auf dem Hals, sie fiel auf die Knie. Und hob den Blick, die Schultern, die Hände, riss sich hoch und höher und schien über dem Boden zu schweben. Rodin ließ den Skizzenblock sinken. Er hatte schon so manche junge Frau tanzen sehen, aber so etwas noch nie. »Das ist phantastisch«, murmelte er.

 

Nach ihrer Darbietung, noch außer Atem, wickelte Isadora sich wieder in ihr Tuch und nahm neben einer Statue auf einem Hocker Platz. Beide schwiegen eine Weile. Dann begann Isadora zu dozieren. Der Meister musste einsehen, dass diese Frau nicht nur gekommen war, um sein Werk zu bewundern, sondern um ihn mit ihrer eigenen Kunst bekannt zu machen. Beeindruckt hörte er ihr zu. Isadora tat, was sie immer tat, wenn sie mit verständigen Menschen zusammentraf: Sie erklärte ihre Kunst, um sie selber besser zu verstehen. In ihrem gebrochenen Französisch, doch mit Emphase trug sie vor: »Einst war der Tanz die Quelle, die Urform des Rhythmus und der Poesie, der Mysterien und aller religiösen Feier. In ihm fanden alle Inspiration, alle Rauschelemente, das gesteigerte die Schöpfung fühlende Leben, einen anmutigen oder wilden Ausdruck. Und was ist er bei uns geworden? Sie sehen selbst, eine tiefgreifende Erneuerung ist vonnöten.« Jetzt wollte sie eigentlich auf die deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche zu sprechen kommen, hielt aber inne, da ihr Gegenüber sich erhob. Wie es weiterging, erzählt sie in ihren Lebenserinnerungen so: »Sein Blick glühte, während er mit dem gleichen Ausdruck, den er vor seinen Werken zeigte, auf mich zukam. Seine Hände strichen über meinen Nacken und meine Brust, er liebkoste meine Arme, streichelte meine Hüften, meine nackten Beine und Füße und begann, meinen ganzen Leib zu kneten, als wäre er aus Ton, wobei ihm eine Glut entströmte, die mich zu versengen drohte. Alles in mir verlangte danach, mich ihm völlig hinzugeben, und ich hätte es auch getan, wäre ich nicht aufgrund meiner Erziehung in Panik geraten, sodass ich mich zurückzog, eilig mein Schultertuch überwarf und ihn in zittriger Verwirrung zurückließ.«

Und sie ergänzte später: »Wie sehr ich dies heute bedauere! Oft habe ich den kindischen Unverstand bereut, der mich um das göttliche Erlebnis gebracht hat, dem erhabenen Rodin – dem großen Pan selbst – meine Jungfräulichkeit zu schenken.« Auguste Rodin aber nahm nichts krumm. Er besuchte zwei Jahre später eine von Isadoras Vorstellungen, anerkannte sie als eine ihm ebenbürtige Künstlerin und schrieb über sie:

»Isadora Duncan ist scheinbar mühelos zur Skulptur, zum Gefühlsausdruck gelangt. Diese Kraft schöpft sie aus sich selbst, eine Kraft, die nicht Talent zu nennen ist, sondern Genie. Miss Duncan bringt das Leben an sich in den Tanz ein. Auf der Bühne ist sie natürlich, was man sonst selten erlebt. In ihrem Tanz hat sie Sinn für die Linie und ist schlicht wie alles Antike, das ein Synonym für die Schönheit ist. Gelenkigkeit und Gefühlsausdruck, sie besitzt diese großen Qualitäten, die das Wesen des Tanzes selbst ausmachen. Es ist die vollkommenste, die höchste Kunst.«


Erzogen wurde Isadora von ihrer Mutter – und den drei älteren Geschwistern. Als Kind nannte man sie Dorita. Die Atmosphäre im Hause Duncan war freimütig und freundlich, die Wohnung stets von Musik erfüllt, denn Mutter Dora, von Beruf Klavierlehrerin, spielte täglich lange Stunden Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms und Chopin. Der Vater hatte die Familie noch vor Doritas Geburt verlassen; von Beruf war er eine Art Glücksritter, mehr als ein Vermögen hatte er durch spekulative Anlagen gewonnen und wieder verspielt. Mrs Duncan etablierte in ihrem Zuhause ein mildes Matriarchat, sie bemühte sich unablässig, der Deklassierung, die ihre Familie infolge von Scheidung und Verarmung erlitten hatte, durch Übungen in kultureller Verfeinerung entgegenzuwirken. Kaum konnte die Jüngste lesen, traktierte Bruder Raymond sie mit den altgriechischen Dramatikern und später mit deutscher Philosophie. Innerhalb der Familie bemühte man sich um Grundkenntnisse der deutschen Sprache, mit sechzehn studierte Isadora das Original von Heinrich von Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater. Schwester Elizabeth lehrte sie tanzen und brachte ihr die Ideen des Bewegungspädagogen François Delsarte nahe. Dessen oberstes Prinzip hieß ›Natürlichkeit‹! Bruder Raymond entwickelte eine dem täglichen Leben abgeschaute Bewegungstheorie (Kinematics), in die er Isadora einweihte. Pure Bildungsbeflissenheit war es nicht, die bei den Duncans herrschte, eher eine echte Liebe zum Guten, Schönen und Wahren. Aber der kleine Clan war meistens klamm; man schickte die niedliche Dorita zum Metzger, um Wurstzipfel gratis zu ergattern, auch zum Konditor, wo sie Altgebäck umsonst erhielt. Sie erfüllte solche Aufgaben mit Freude, sie schämte sich nicht, verkaufte auch auf der Straße Selbstgestricktes ihrer Mutter und bekam noch einen Extrapenny von gerührten Passanten. Die Schule schmiss sie mit elf. Zu Hause aber las sie viel und tanzte zu Mozart. So also wuchs Isadora ärmlich, aber mit lauter hehren Idealen auf; sie wurde nie gedrängt oder genötigt, sich künstlerisch und philosophisch zu bilden, sie tat es ganz von allein, wie die Geschwister auch. Ihrem Vater ist sie nur ein einziges Mal begegnet; die Mutter sprach nicht gut über ihn, auch eine Eheschließung empfahl sie ihren Kindern keineswegs. Bei Isadora verfing Kritik an jeder Art von Zwang und Kontrolle unmittelbar, sie war ein rebellisches Kind. Aber ihre Auflehnung galt den sozialen, religiösen und ästhetischen Normen ihrer Zeit, nicht der Familie. Im Gegenteil, ihre Angehörigen sahen die Welt wie sie, waren geschlossen kunstbesessen und antikirchlich, das Zuhause mit seinen beständigen Angeboten in Sachen Bildung stets ein sicherer Rückzugsort für alle. Früh schwor sich Isadora, niemals zu heiraten. Was hingegen die Sexualmoral betrifft, so kam selbst die unkonventionelle Mrs Duncan nicht gegen das puritanische Amerika an – man sprach nicht gern über »diese Dinge« und umschrieb sie auch im Hause Duncan mit allerlei Metaphern und Mehrdeutigkeiten. Eros war zwar eine beliebte Gottheit und auch Dionysos wurde gerne angerufen, aber nur als Idee, nicht als Praxis. So kam es, dass die zur Tanzrevolution entschlossene Isadora während ihrer ersten Jahre in Europa noch Jungfrau war.

Als sie an jenem denkwürdigen Abend nach dem Besuch bei Rodin zu Hause ankam, empfing Raymond sie mit einem gelinden Vorwurf. Sie solle sich doch bitte dazu entschließen, mal einen Tag daheimzubleiben, denn jetzt sei es schon das dritte Mal geschehen, dass ein gewisser Monsieur Noufflard erschienen sei und nach ihr gefragt habe. »Ach ja«, murmelte Isadora, »Hallés Neffe. Ich werde ihn morgen erwarten.« Und sie erzählte von Rodin. Seine erotische Attacke überging sie. »Er hat mich gezeichnet. Und er hat mich verstanden. Vielleicht werde ich als Skulptur von seiner Hand unsterblich.« Sie war sehr stolz. Raymond legte den Arm um sie. Und die Mutter brachte einen Teller mit Oliven und Brot. Heute Abend würde es nichts anderes mehr geben.


Charles Noufflard kam am nächsten Tag wieder; er brachte zwei Freunde mit, den jungen Maler Jacques Beaugnies und den angehenden Schriftsteller André Beaunier. Die drei wurden bald regelmäßige Gäste im Studio in der Avenue de Villiers, sie genossen die Atmosphäre der Freizügigkeit bei den Duncans, das Klavierspiel der Mutter und die Tänze Isadoras. Sie brachten Blumen, Obst, Brot und Quiches und sprachen viel über die Weltausstellung, die Kunst Rodins, die große japanische Schauspielerin Sada Yacco, die gerade Furore machte, über Richard Wagner und die Festspiele in Bayreuth, über die Affäre Dreyfus und den Symbolismus. Und schließlich geschah, was Isadora sich erhofft hatte und worauf auch Mrs Duncan und Raymond warteten: Jacques Beaugnies sprach eine Einladung aus. Seine Mutter führte einen prominenten Salon, und sie würde sich glücklich schätzen, wenn Isadora dort aufträte und für ihre Gäste eine Tanzvorstellung gäbe.