Ein Hauch von Vorsehung

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Nikolaj legte leicht den Kopf schief, aber Dareas Blick war eindeutig und fordernd und selbst er unterlag ihr in manchen Punkten. Also zog er die Geldbörse aus der Innentasche seines Jacketts. Bevor sie nach der Kreditkarte greifen konnte, zog er sie wieder zurück.

»Keine Anzüge. Figurbetont. Aber anständig.«

Kaden wurde das Gefühl nicht los, irgendetwas sagen zu müssen, doch er hatte den Anschluss verloren und verstand nicht mehr, was hier gerade vor sich ging.

Darea grinste. »Spießer«, meinte sie und zupfte Nikolaj dann die schwarze Karte aus den Fingern. »Wir sind so schnell wie möglich zurück. Ach, und wir leihen uns Philip. Du hast doch nichts dagegen?« Während sie das sagte, trat sie hinter ihren Arbeitsplatz und griff nach Handtasche und Mantel. Es war deutlich, dass das eigentlich keine Frage war.

»Nein.« Nikolaj sah den beiden nach. Darea. Elegant und stilsicher gekleidet, eine Erscheinung. Daneben der junge Mann, den er wider besseren Wissens eingestellt hatte, weil er davon überzeugt war, dass er eine gute Wahl war. Erste Zweifel schlichen sich in seine Gedanken.

Kapitel 2

Kaden wusste nicht, wie es dazu kam, aber auf einmal saß er in einem teuren Auto, das von einem Chauffeur gelenkt wurde, der den Namen Philip trug.

»Wo fahren wir denn jetzt hin?«

»Wir fahren shoppen. Sie brauchen dringend etwas mehr als diesen Anzug , Schätzchen.« In Dareas Augen war das, was ihr Gegenüber da trug, keinesfalls als Anzug zu bezeichnen. »Wer auch immer Ihnen das angetan hat, war ein Idiot.«

Kaden sah erneut an sich hinunter. »Aber was stimmt denn damit nicht?«

Darea sah ihn lange an. Das Gesicht ihres Gegenübers drückte tatsächlich blanke Unwissenheit aus. Innerlich seufzte sie. Das würde noch heiter werden. »Sie wissen das wirklich nicht?«

Kaden schüttelte den Kopf. »Ich habe mich extra beraten lassen.«

»Zunächst einmal sitzt dieser Anzug überhaupt nicht. Man sieht Ihre Körperlinie nicht, geschweige denn die Manschetten. Er ist an den Schultern und an der Taille viel zu breit.« Sie winkte ab. »Eben nichts Maßgeschneidertes. Wir finden sicher tausend andere Outfits, die Ihnen besser stehen und bedeutend besser zu Ihnen passen.«

Kaden wirkte mit einem mal sehr nervös und strich sich mit den Händen über die Anzughose. Abwartend sah sie ihn an.

»Ich kann mir aber keine tausend anderen Outfits leisten«, rückte er schließlich mit der Sprache heraus und das ließ Darea lächeln.

»Dafür haben wir ja die Firmenkreditkarte.«

»Aber das geht doch nicht einfach so.«

Sie lächelte kühl. »Glauben Sie mir. Das geht einfach so. Wenn Nikolaj so mit Ihnen bei einem Meeting auftaucht, schadet uns das mehr als die Ausgaben, die wir jetzt tätigen.«

Leise seufzte Kaden. Das war mehr als unangenehm. Da hatte er geglaubt, mit dem Anzug etwas richtig zu machen und jetzt war es ein einziger Reinfall.

»Tut mir leid«, murmelte er und zupfte an dem Jackett.

»Bringen Sie einfach diesen Anzug wieder zurück und lassen Sie sich das Geld wiedergeben. Wenn wir fertig sind, wird Ihnen der Unterschied klar sein und Sie können Ihre Finanzen weit besser anlegen als in dieses Stück Polyester, das die Bezeichnung Anzug nicht verdient.«

Kaden nickte leicht. Der Wagen hielt schließlich vor einer Boutique und er schluckte schwer. Er ging sonst nie in Boutiquen. Er ging in Kaufhäuser! Das hier war etwas ganz anderes. Eine Menge Platz, nur ein paar Kleidungsstücke, die nicht einmal aussahen als wären sie zu verkaufen und die Verkäufer und Verkäuferinnen sahen selbst aus wie aus dem Ei gepellt. Darea passte absolut in dieses Bild. Kaden leider nicht.

Eine der Verkäuferinnen kam auf sie zu, lächelte Darea an und vermutlich war auch Darea der Grund, warum die Frau sie nicht wie in Pretty Woman behandelte und sofort wieder vor die Tür setzte.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Darea bemerkte den Blick der süßlich riechenden Frau durchaus, der sich auf Kaden richtete und ihn von oben bis unten musterte.

»Nein, ich finde mich allein zurecht«, antwortete sie daher reserviert und schob Kaden zu den Umkleidekabinen. »Ausziehen«, befahl sie, bevor sie in den Verkaufsraum zurückging und sich umsah. Dann begann sie, einige Outfits zusammenzustellen und diese zu Kaden in die Umkleide zu bringen.

Diese Frau hätte sich sicherlich auch sehr gut bei der Army gemacht, dachte Kaden, während er aus der Hose stieg. Als Drill Sergeant. Denn in der nächsten Stunde musste er sich im Rekordtempo an- und wieder ausziehen und verschiedene Outfits anprobieren. Schmal geschnittene Jeans, weich fließende Stoffhosen. Sportliche Jacketts, Henley-Shirts, Strickjacken, verschiedene Halstücher. Er kam sich vor wie eine Schaufensterpuppe. Am Ende entschied sich Darea für fünf Outfits und sie fragte gar nicht erst nach Kadens Meinung. Als der jedoch den Preis in der Digitalanzeige der Kasse sah, schüttelte er vehement den Kopf.

»Nein. Auf keinen Fall!«

Darea reichte die Firmenkreditkarte über den Tresen. »Suchen Sie sich aus, was Sie jetzt anziehen wollen. Davon möchten wir dann noch die Schilder abgeschnitten haben.« Auf denen zwar keine Preise standen, aber alle sonstigen Informationen.

»Miss Harrison, das geht nicht. Das ist viel zu viel!«, widersprach Kaden. Auf der Kasse stand ein Gesamtbetrag von knapp 3.000 Dollar.

Darea sah Kaden lange und fest an. Er versuchte wirklich, diesem Blick standzuhalten und schaffte es tatsächlich.

Für ganze acht Sekunden. Dann musste er den Blick senken.

»Das mit der blauen Hose«, murmelte er schließlich ergeben und die Verkäuferin griff nach einer Schere.

»Schön. Das stand Ihnen hervorragend«, flötete Darea fröhlich, bevor sie Kaden die Sachen reichte. »Ziehen Sie sich um, dann können wir zurück.« Sie sah zu der Verkäuferin. »Danke. Den Rest bitte einpacken.«

Grummelnd trat er mit den Klamotten zurück in die Kabine und zog sich wieder die blaue Stoffhose an. Dazu ein weißes Henley-Shirt mit langen Ärmeln, eine dunkelblaue, dünne Jacke und ein farblich dazu passendes, dunkelblaues Halstuch mit cremefarbenem Muster. Ein dunkelblauer Gürtel rundete das Bild ab. Er betrachtete sich einen Moment im Spiegel. Noch nie in seinem Leben hatte er solch hochwertige Kleidung getragen. Es fühlte sich merkwürdig an. Auch wenn es tatsächlich, das musste er zugeben, gut aussah. Die Hose saß nahezu perfekt und warf an den richtigen Stellen Falten. Und dennoch ... Das war einfach zu viel. Noch dazu kam er sich verkleidet vor.

Darea sah ihm entgegen, als er die Umkleidekabine verließ. »Fehlen nur noch die Schuhe.«

»Was?! Was stimmt denn jetzt mit meinen Schuhen nicht?« Eine knappe Stunde mit dieser Frau und er war absolut erledigt!

Darea grinste. »Sie passen nicht mehr zum Rest.«

»Schön. Gut. Dann geben wir jetzt halt noch einmal 1.000 Dollar für Schuhe aus«, motzte Kaden und lief zum Ausgang.

»Wunderbar!«, sagte Darea und folgte ihm, sie traten vor das Geschäft. »Vielleicht finden wir ja auch hier was, dann müssen wir nicht fahren.« Sie sah sich um und lief dann ohne ein Wort zu sagen auf eine Schuhboutique zu, nur drei Geschäfte weiter. Der Bourdon Boulevard bot solche Annehmlichkeiten. Hier fanden die oberen 10.000 sofort was sie suchten und das zu absolut überzogenen Preisen.

»Sie sind nicht der erste Mann, den ich einkleide. Ich verspreche Ihnen, Sie gewöhnen sich bald an den Stil und können es allein.«

»Nicht, wenn ich am Monatsende noch meine Miete bezahlen will«, brummte Kaden.

»Dann wählen Sie Sachen aus, die Sie gut immer wieder neu miteinander kombinieren können«, erklärte sie und betrat die Schuhboutique. »Ob es auffällt, wenn ich mir auch ein Paar kaufe?«, fragte sie amüsiert und lief durch die Reihen.

Kaden schnaubte. »Sie können ja einfach sagen, ich trage in meiner Freizeit wahnsinnig gerne High-Heels.« Es roch in dem Laden nach Leder. Nicht unangenehm. Eher teuer.

Darea schnaubte und wirbelte herum, deutete mit einem ihrer schlanken Finger auf Kaden. »Also schön, passen Sie mal auf. Sie als Assistent von Nikolaj Sorokin verkörpern das Plattenlabel bei wichtigen Terminen. Sie werden ihn begleiten, Sie werden Künstler treffen. Wichtige Künstler! Sie haben sicher keine Ahnung, wie wichtig in dieser Welt Dinge wie Kleidung und generell Oberflächlichkeiten sind. Uhren, Schals, Schuhe. Sie hinterlassen Eindrücke und auf die kommt es in diesem Business nun einmal an, denn es sind diese Dinge, an die man sich nach den Treffen noch erinnert.« Dareas Blick lag fest auf ihm. »Das mag Ihnen alles neu sein, aber ich werde es nicht zulassen, dass Nikolaj Ihretwegen wie ein Idiot dasteht.« Erst jetzt senkte sie den Finger, den sie bis eben noch gegen seine Brust gestoßen hatte, um ihren Standpunkt zu verdeutlichen.

»Dann hätten Sie vielleicht nicht zulassen sollen, dass ich diesen Vertrag unterschreibe. Ich hab von dem ganzen Kram nämlich tatsächlich keine Ahnung«, meinte Kaden. Sie konnte ja sagen, was sie wollte. Aber schöne Kleidung würde an diesem Umstand auch nichts ändern.

Darea stöhnte auf. Statt sich beraten zu lassen, wiegelte sie auch hier die Verkäuferin kurz entschlossen ab und steuerte auf das Regal mit den passenden Schuhen zu.

»Ich habe es Ihnen doch schon einmal gesagt. Ich vertraue Nikolaj und das sollten Sie auch tun. Die da«, sagte sie und deutete auf einen Ausstellungsschuh, sah dann zu der Verkäuferin, die den Wink verstand.

»Sie kennen ihn ja auch.« Die Verkäuferin fragte nach Kadens Schuhgröße und kam dann mit einem Karton zurück.

Darea deutete darauf. »Anziehen.« Kaden sah sie missmutig an. »Bitte«, fügte sie noch hinzu, als erinnerte sie sich mit einem Mal daran, dass sie hier nicht bei der Armee waren und Höflichkeit durchaus angebracht war. »Sie werden Ihn auch kennenlernen.«

 

»Hm.« Den Kommentar, dass Kaden dazu länger als einen Tag durchhalten würde müssen, verkniff er sich lieber. Stattdessen schlüpfte er ergeben in die Schuhe.

»Und?«, fragte Darea. »Sind sie bequem? Passen sie?«

Kaden stand auf und ging ein paar Schritte. Dann nickte er. »Ja. Passt.«

»Gut.« Sie nickte der Verkäuferin zu. »Ohne Karton bitte. Behalten Sie die auch gleich an.« Sie trat an die Kasse, um zu bezahlen.

Kaden ließ die Schultern sinken und zog es vor, gar nicht erst mit an die Kasse zu gehen. Die blau-schwarzen eleganten und doch sportlichen Lederschuhe, die er jetzt an den Füßen trug, kosteten sicherlich ein Vermögen und er wollte nicht wissen, wie viel genau.

Darea bezahlte auch hier mit der inzwischen glühenden Kreditkarte.

»So«, sagte sie und verließ die Boutique, gefolgt von Kaden, »jetzt mal ganz ehrlich. Hatten Sie heute ein Frühstück oder waren Sie zu aufgeregt, um etwas zu essen?«

»Ich hatte einen Orangensaft.«

Darea nickte. »Erste Regel in unserer Firma. Nie ohne Frühstück den ersten Termin angehen. Wir holen uns jetzt was zu essen.«

»Oh Gott. Bitte zwingen Sie mich nicht dazu. Ich kann nichts essen.«

»Irgendetwas müssen Sie essen. Diese Termine, zu denen Sie Mr. Sorokin begleiten werden, können Stunden dauern und wenn Sie zwischendurch Hunger bekommen und Ihnen der Magen knurrt, wäre das tödlich.«

»Wenn ich einem Kunden, einem Klienten ... äh, Künstler auf den Schoß kotze, wohl auch, oder?«

Darea sah ihn skeptisch an. »Ja. Und Sie halten durch?«

»So etwas bin ich gewohnt.«

Der Weg zurück zur Firma verlief weitgehend schweigend. Darea tippte wie eine Furie auf ihrem Smartphone herum und Kaden sah aus dem Fenster. Der Bourdon Boulevard blieb hinter ihnen zurück. Schon bald tauchte das große Firmengebäude wieder vor ihnen auf und Philip hielt am Straßenrand.

Als Darea schließlich Nikolajs Büro betrat, gefolgt von Kaden, da staunte der Firmenbesitzer nicht schlecht. Er wusste ja, was sie alles konnte, aber hier hatte sie wieder einmal ein Wunder vollbracht. Von dem grausamen Anzug war nichts mehr zu sehen. Überhaupt war nichts mehr zu sehen, was an einen Anzug erinnerte. Zurückgeblieben war ein sportlich modernes Ensemble.

»Sehen Sie, Mr. Williams, das ist vorteilhafte Kleidung«, sagte Nikolaj lächelnd. »Ich zeige Ihnen jetzt Ihr Büro.« Er führte Kaden ein Stück den breiten Flur hinunter. »Es liegt nicht weit von meinem entfernt und gehörte Ihrem Vorgänger.«

»Oh. Okay.« Kaden folgte ihm. »Was ist mit ihm passiert?«

»Passiert?«

»Na, er ist nicht mehr da.« Kaden schleppte noch immer die Tüten mit sich herum.

»Oh, ach so. Er wurde gekündigt. Die Einzelheiten sind vertraulich. Nur so viel: Es hatte nichts mit dem Job an sich zu tun.« Nikolaj deutete auf eine Tür. »Da sind wir. Hier können Sie sich einrichten«, sagte er und trat ein. »Auf dem Schreibtisch finden Sie Ihr neues Arbeitshandy sowie einen Laptop. Die entsprechenden Zugangsdaten liegen ebenfalls bereit.« Nikolaj schob seinen Hemdsärmel ein Stück zurück, um auf seine Armbanduhr zu sehen.

Kaden sah sich in dem Raum um. Das Büro war deutlich kleiner als das Nikolajs. Ein großer Schreibtisch hatte darin Platz, der in einer L-Form in dem kleinen Raum stand. Auch hier gab es große Fenster, die viel Licht hereinließen. Es gab ein paar Ablagen, einen gemütlich aussehenden Schreibtischstuhl und auch hier, dunkles Holz, viel Silber. Elegant. Modern.

»Ich bekomme extra ein Arbeitshandy?« Einen Moment stutzte Kaden, doch nicht wegen des Handys, sondern wegen des Duftes, der ihm in die Nase stieg und kaum merklich innehalten ließ. Meeresduft. Der Wald am Herbstmorgen. Die fruchtige, frische Note. Ihm war noch nie ein Duft wie dieser untergekommen. Innerlich schüttelte er den Kopf, um diesen Gedanken zu verscheuchen, was gar nicht so einfach war, denn dieser Duft nahm ihn gefangen. Es war etwas Herbes dabei, das er nicht benennen konnte. Männlich. Und erfolgreich. Ja. Das traf es. Für eine Sekunde fragte er sich, warum er genau jetzt all dies wahrnahm. Vermutlich, weil ein Teil seiner Anspannung nachließ, ihm jetzt also den Raum gab, andere Dinge wahrzunehmen außer blanker Panik. Kaden stellte die Tüten an die Seite und legte eine Hand auf die Lehne des Lederstuhls. Er trat an das Fenster und sah hinaus, hinunter auf die Straße, wo die Menschen ganz klein aussahen.

»Ja. Das werden Sie brauchen. Ich möchte, dass Sie zum 11-Uhr-Termin in Konferenzraum 3 anwesend und vorbereitet sind.« Das waren 38 Minuten zur Vorbereitung. »Wir treffen Lucas Jains, einen unserer Künstler. Auf dem Rechner finden Sie eine Datenbank, sie liegt auf dem Desktop und wird von Darea ständig erweitert. Sie enthält all unsere Künstler und alles, was für Sie wichtig ist.«

»Okay.« Erst jetzt griff Kaden nach dem kleinen Karton auf dem Schreibtisch. »Wow.« Ein nagelneues Handy.

Nikolaj lächelte ein dünnes Lächeln. »Willkommen in der Firma, Mr. Williams.« Granatapfel, Vanille. Darunter Mandelmilch und Baumwolle. Wie viele Menschen es wohl gab, die Baumwolle nicht riechen konnten, da sie so dezent zutage trat? Für Nikolaj war sie ganz eindeutig da, wenn auch an diesem Tag verschleiert. Längst war er zu dem Schluss gekommen, dass ein Deodorant daran einen großen Anteil tragen musste. Er sah in die fremden Augen und nickte leicht, bevor er sich umwandte und das Büro verließ. Hinter sich zog er die Tür ins Schloss. Er lief den Gang zurück und fand Darea hinter ihrem Schreibtisch. Sie warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Du weißt genau, ich kann deine Blicke nicht immer gut deuten, also sag, was du zu sagen hast, Weib«, sagte er grinsend im Vorbeigehen und ließ seine Bürotür offen. Dareas Schritte folgten ihm.

»Wie ich dich kenne, wirst du ihn gleich voll einspannen.«

Nikolaj lachte leise. »Natürlich. Dafür ist er doch hier.«

»Er ist aber nicht wie die anderen, Nik. Er wird mehr Zeit brauchen«, warnte sie. Es lag ein Unterton in ihrer weichen Stimme, den er nur sehr selten bei ihr zu hören bekam. Niklolaj schnaubte leise und sah in ihre Augen.

»Darea. Zeit hat keiner von uns. Nicht in diesem Business.« Er nickte zur Tür. »Bitte sag mir Bescheid, wenn Lucas da ist.«

»Natürlich.«

Dark Side Records war ein großes Independent-Label. Es war in einige Abteilungen untergliedert, die sich nicht nur mit den verschiedenen Musikrichtungen befassten, sondern auch mit dem Marketing, der Öffentlichkeitsarbeit, den Verträgen oder schlichtweg mit der eintreffenden Post. Allerdings bewahrte sich Nikolaj bewusst eine Unternehmensgröße, die es den Künstlern erlaubte, sich mit persönlichen Ansprechpartnern zu unterhalten, ohne vorgefertigte Formulierungen zu erhalten. Die persönliche Komponente, die DSR zu so etwas wie einer Familie für die Künstler machte, führte bisweilen dazu, dass Nikolaj in Arbeit versank. Doch es war auch genau das, was Dark Side Records von Major-Labels unterschied, denen nur daran gelegen war, den größten Profit aus ihren Künstlern zu schlagen. Nikolaj konnte von sich behaupten, dass es ihm vor allem um die Musik ging.

***

Kaden sank auf den Stuhl und nahm das Handy aus seiner Verpackung, schaltete es ein. Es erklang eine leise Musik und er stellte es als erstes auf Vibration. Sicherlich kam es gar nicht gut an, wenn ein Handy in der Besprechung klingelte. Von nun an würde er also mit zwei Handys durch die Gegend laufen, was er absolut überzogen fand. Doch ein so neues und tolles in der Hand zu halten, war schon etwas Besonderes.

Dann klappte er den super schmalen Laptop auf und schaltete auch diesen an. Auf der Schreibtischunterlage lag ein Zettel mit den Anmeldedaten und der Instruktion, wie man das voreingestellte Passwort änderte, was er gleich tat. Und dann begann er, sich mit dem System vertraut zu machen.

Die Ordnerstruktur war übersichtlich und Kaden fand sich schnell zurecht. Das Ganze war intuitiv angelegt. Es gab die üblichen Office-Programme. Ein Youtube-Schnell-Link war eingerichtet und er musste kurz überlegen, warum es den gab. Musikbusiness und Youtube hingen eng zusammen, fiel ihm ein. Dann suchte er den Ordner des Künstlers, den Nikolaj ihm genannt hatte. Es gab eine Menge Aufzeichnungen, einen Ordner mit Verträgen, mit Vereinbarungen, mit Notizen. Er hatte keine Zeit, das alles zu lesen. Nicht jetzt. Aber ein Dokument fesselte seine Aufmerksamkeit. Vorlieben. Er überflog das Word-Dokument so schnell er konnte. Dann lächelte Kaden, erhob sich, verließ das Büro, kam noch einmal zurück, weil er das Handy hatte liegen lassen und ging dann in die Personalküche. Er brauchte nicht lange in den Schränken suchen und fand eine Thermoskanne, setzte Wasser im Wasserkocher auf und fand Gott sei Dank einen schwarzen Tee. Laut des Schriftstückes einer der liebsten Tees dieses Mannes. Zur Sicherheit kochte er auch noch Kaffee, weil er nicht wusste, wer noch alles kam und stellte die Kannen auf ein Tablett.

»Hey. Ein neues Gesicht«, erklang eine weibliche Stimme hinter Kaden und er drehte sich fragend um. Vor ihm stand eine junge Frau. Vermutlich Ende 20. Die für Asiaten typische helle Haut, langes, schwarzes und glattes Haar.

»Hi. Ich bin Mai«, stellte sie sich vor und reichte Kaden die Hand. Sie hatte einen erstaunlich festen Händedruck.

»Kaden.«

»Tolles Outfit. Von Darea ausgesucht, oder?«

Kaden spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg.

Sie gluckste. »Das erkennt man sofort. Ihr Stil ist unverkennbar.«

Kaden stellte die Tassen auf das Tablett. »Ich würde gerne noch weiter plaudern, aber ...«

Sie winkte ab. »Absolut kein Problem. Hat mich gefreut, Kaden.«

Er nickte und balancierte das Tablett an ihr vorbei, fühlte sich sofort an die Zeit erinnert, in der er gekellnert hatte. Er trug alles zum Konferenzraum, den er nach einer kurzen Frage an einen vorbeieilenden Mitarbeiter auch fand. Der Konferenzraum war groß, ein langer Tisch stand darin, komplett aus Glas, genau wie die Front des Raumes, und Kaden schob das Tablett vorsichtig auf den Tisch. Es war noch niemand hier, also war er nicht zu spät. Erst als er das Tablett abgestellt hatte, fiel ihm auf, was er vergessen hatte. Löffel. Zucker. Und Milch. Schnell huschte er noch einmal in die Küche, um das Fehlende zu holen.

***

Darea klopfte derweil an Nikolajs Bürotür und trat gleich darauf ein, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Miss Velle ist da, um dich abzuholen.«

Nikolaj nickte und trat vor das Büro. »Bereit?«, fragte er die blonde Leiterin der Pop-Abteilung mit der modischen braunen Rahmenbrille und dem streng wirkenden, aber modernen Pony, die vor dem Büro auf ihn wartete.

»Natürlich«, versicherte sie ihm.

»Darea, bring Lucas doch bitte gleich in den Konferenzraum.«

Sie nickte und Nikolaj konnte mit Suzie Velle den Weg dorthin einschlagen. Als sie ankamen, schien der Raum noch leer, aber auf dem Tisch stand ein Tablett mit zwei Thermoskannen.

»Wo kommt das her?«, fragte Suzie.

»Ich glaube, mein Assistent hat das hergebracht.« Er sah auf, als eben jener Assistent den Raum betrat.

»Mr. Williams, ich möchte Ihnen gern Miss Velle vorstellen, die Leiterin der Pop-Abteilung. Suzie, das ist Kaden Williams, mein neuer Assistent.«

Sie lächelte Kaden an. »Ah! Freut mich. Gute Arbeit hier. Ich nehme an, da ist Tee drin?«, fragte sie und nickte zu den Thermoskannen.

»Tee und Kaffee. Und freut mich«, erwiderte Kaden lächelnd. Er war immer noch wahnsinnig nervös. Aber er konnte jetzt wie ein Ertrinkender strampeln und Wasser nach allen Seiten verspritzen, ohne am Ende Erfolg zu haben, oder er versuchte es mit der Wasserleichen-Methode. Ruhig auf dem Rücken liegen und abwarten. Letzteres schien ihm zielführender. Und obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug, zitterten seine Hände kaum, als er jetzt das Milchkännchen auf dem Tisch abstellte.

»Suzie betreut Lucas Jains, seit er bei uns unter Vertrag steht«, erklärte Nikolaj weiter.

»Genau. Wir müssen mit Lucas noch die letzten Infos für die Tour durchgehen, die ab morgen startet. Eine Welttournee, beginnend hier in Amerika.« Suzies Stimme war etwas näselnd, was nicht etwa an einer Erkältung lag, sondern der Normalzustand war.

»Ja. Zumindest das habe ich gelesen.« Kaden begann, Tassen und Kannen auf dem Tisch zu arrangieren und stellte das leere Tablett dann auf ein Sideboard.

 

»Haben Sie sich den Tourplan angesehen? Sich angehört, was er für Musik macht?«, fragte Suzie weiter.

Kaden schluckte hart und hätte um ein Haar die moderne Vase, die auf dem kleinen Schrank stand, umgeworfen. »Nein.« Er war kein Freund von Lügen.

»Hm«, machte Suzie und warf Nikolaj einen Blick zu, den er stoisch hinnahm. Er wusste genau, was sie ihn fragen wollte, sich aber nicht traute, auszusprechen. Sie wandte sich wieder an Kaden.

Fragend sah Kaden auf die vielen Stühle. »Wo soll ich mich hinsetzen?« Er wusste ja nicht mal, was seine Aufgabe hier war. Was genau er tun sollte.

»Setzen Sie sich einfach hier hin«, sagte Nikolaj und deutete neben sich. »Hören Sie zu. Und bitte unterbrechen Sie uns nicht.«

Kaden nickte schnell, hatte tatsächlich kurz das Verlangen, einen Salut anzudeuten, aber im letzten Moment konnte er sich davon abhalten. Und so griff er nach dem Stuhl, zog ihn von dem gläsernen Tisch zurück und setzte sich darauf.

Nikolaj betrachtete ihn einen Moment, dann widmete er Suzie, die bereits leise begonnen hatte, mit ihm zu sprechen, seine Aufmerksamkeit.

»Denkst du nicht, es wäre besser, die Werbung in Deutschland noch einmal anzuziehen? Bis jetzt verkaufen sich die Karten dort sehr schlecht.«

Nikolaj nickte und sah in ihre Augen. »Leg mir eine Prognose auf den Tisch, dann werde ich sehen, was sich machen lässt.«

Es klopfte an der Tür und alle sahen auf, als Darea den Raum betrat, gefolgt von dem schwarzhaarigen Lucas. Suzie sprang auf und begrüßte ihn herzlich.

»Lucas, hi! Schön, dass du es geschafft hast«, sagte sie und reichte ihm die Hand, was Nikolaj ihr wenig später gleich tat. Dann deutete er auf Kaden.

»Mein Assistent Kaden Williams.«

Der erhob sich ebenfalls und reichte dem gut aussehenden Mann die Hand. Ihn begleitete ein Hauch von Pfefferminz. Durchaus angenehm.

»Freut mich, Sir«, sagte er leise und lächelte.

»Mich auch«, erwiderte Lucas schlicht. Suzie begann, über die Tournee zu sprechen, erklärte die bisherigen Probleme, vor allem den schlechten Kartenverkauf in Deutschland, den Lucas mit seinem geringen Bekanntheitsgrad in Zusammenhang brachte.

»Dank der Filmmusik, die ich gemacht habe, bin ich zwar bekannter, aber das heißt noch lange nicht, dass sich die Leute ein ganzes Konzert mit mir ansehen«, erklärte er. Suzie nickte und präsentierte ihren Vorschlag, die Werbung zu erhöhen.

»Was ist mit der Vorgruppe, die ich wollte? Steht alles mit Darker Nation?«

Suzie nickte und berichtete, dass sie sich sehr freuen würden, Lucas auf der Tour zu begleiten. »Was ist mit euch? Kommt ihr auch?«, fragte er mit durch Brillengläsern lächelnden Augen.

»Ich werde es nur zum Eröffnungskonzert schaffen«, erklärte Nikolaj. »Aber Suzie wird zu mehr Konzerten kommen, richtig?« Suzie bestätigte das und erging sich dann in Details, wie den Zeitplänen.

Kaden saugte jedes Wort auf. Das hier war wirklich eine ganz andere Welt. Da ging es um Plakate, um Radiowerbung. Um den ganzen Ablauf einer Konzerttour, welche durch viele verschiedene Länder laufen würde. Es war spannend. Ihm wurde auch bewusst, wie wenig er über dieses ganze Business wusste und wie viel er noch zu lernen hatte. Aber er hatte diesen Vertrag unterzeichnet und er würde es schaffen. Auch wenn er sich den Arsch abrackern musste. Diesmal würde es vielleicht weniger körperlich werden, sondern tatsächlich eher geistig und das wiederum war eine neue Erfahrung.

Schließlich verabschiedeten sie Lucas und Nikolaj versprach, morgen beim Konzert vorbeizuschauen. Suzie sah erleichtert aus, was Nikolaj verstehen konnte. Lucas war nun wirklich kein schwieriger Künstler, da gab es andere Kaliber mit ganz anderen Vorlieben und Regeln. Dennoch war man froh, wenn alles so verlief, wie es sich der Künstler vorstellte und der auch zufrieden war.

»Mr. Williams, räumen Sie hier auf und dann möchte ich Sie noch einmal in meinem Büro sprechen«, sagte Nikolaj schließlich, als Suzie und Lucas den Konferenzsaal bereits verlassen hatten.

Kaden nickte und fragte sich, ob Nikolaj seine Gedanken gelesen hatte, denn genau um ein solches Gespräch hatte er auch bitten wollen. Er räumte alle Sachen auf das Tablett und atmete noch einmal ein, bevor er den Raum verließ. Hier drinnen vermischte sich jetzt der Duft von vier Menschen, die alle ganz unterschiedlich rochen und doch war es nicht unangenehm. Nur eine merkwürdige Mischung. Kaden räumte in der Küche alles weg und lief dann den langen Gang zurück, sah den so bekannten schwarzen Schopf von Darea hinter ihrem Platz.

»Hallo, Miss Harrison.«

»Mr. Williams«, sagte Darea, ohne von ihrem Bildschirm aufzusehen.

»Ähm.« Die Frau verwirrte ihn nach wie vor. »Mr. Sorokin wollte mich sehen. Kann ich ...« Er deutete zur Tür.

»Ich weiß nicht, ob Sie können. Sie dürfen aber«, sagte Darea und sah nun kurz auf.

»Danke.« Er lächelte ihr zu und trat dann zu der gläsernen Tür, die geschlossen war. Leise klopfte Kaden an, bevor er sie öffnete. »Sir?«

Nikolaj Sorokin sah vom Bildschirm seines Laptops auf. »Ah, Mr. Williams.« Er deutete auf den Stuhl vor seinem Tisch.

Kaden leistete seiner Bitte Folge und sah in diese hellen Augen, nahm für einen Moment seinen Duft wahr. Verdammt, ja. Er musste es zugeben. Dieser einflussreiche Mann roch verflucht gut.

»Ich wollte Sie sprechen, weil ich noch eine Aufgabe für Sie habe«, begann Nikolaj und löste seine Hand von der Maus, um sich nun auf Kaden zu konzentrieren.

Kaden nickte. »Gern.«

Nikolaj erhob sich und beugte sich dann nach unten, um eine Kiste hochzuheben, die er vor sich auf dem Tisch abstellte. »Das sind die Demobänder der letzten Woche. Bitte hören Sie die doch durch und sagen mir, welche Künstler wir uns genauer ansehen sollten. Ob wir uns welche genauer ansehen sollten.«

Kaden sah auf den Karton, blinzelte. Mehrmals. » Ich soll das machen?«

»Ich kenne die Tapes bereits.«

Es war eine typische Aktenkiste und da waren verdammt viele CDs drin. Und das alles war von nur einer Woche. Kaden schluckte. »Okay. Ich hör’s mir an«, sagte er. »Ich habe eine Bitte, Sir.«

Nikolajs linke Augenbraue hob sich langsam. »Ich höre.«

»Ich sehe ein, dass meine Garderobe nicht ganz, nun, angemessen ist für eine Umgebung wie diese hier. Aber ich möchte nicht, dass Sie für meine Kleidung bezahlen. Und darum wollte ich Sie bitten, die Kosten von heute von meinem Lohn abzuziehen.« Er rieb sich über die Stirn. »Ich meine, etwas über 3.000 Dollar. Das ist einfach zu viel und mit so einem großzügigen Gehalt ... Ich meine, ich kann das nicht einfach so zurückzahlen und wenn Sie mir 1.000 Dollar im Monat abziehen, dann sind es ja immerhin noch drei Monate, bis ich schuldenfrei bin. Und das nur, wenn ich tatsächlich so lange durchhalte und ...« Da. Es passierte schon wieder. Er begann zu plappern, wann immer er nervös war.

Langsam hob sich auch Nikolajs zweite Augenbraue. Der Geruch von Nervosität stieg ihm in die Nase.

»Das genügt«, sagte er schließlich, als die Unsicherheit drohte, Kaden komplett einzunehmen. Prompt schien es, als würde der die Luft anhalten. »Sie können von 2.680 Dollar im Monat leben?«

Kaden schnaubte. »Das ist immer noch mehr als doppelt so viel wie das, was ich vorher hatte.«

»Gut. Dann haben wir eine Abmachung. Wenn Ihnen das wichtig ist.«

Erleichtert seufzte Kaden auf. »Danke.«

Nikolaj betrachtete ihn für einen Moment. »Haben Sie schon Zugang zu den weiteren Terminen? Darea hat einen virtuellen Kalender, den sie pflegt und Ihnen zukommen lassen sollte.«

»Ja. Ich werde nächstes Mal besser vorbereitet sein. Tut mir leid wegen vorhin.«

»Ich sehe ein, dass nicht viel Zeit war.« Nikolaj folgte Kaden mit dem Blick, als dieser sich erhob und zur Tür lief.

»Trotzdem. Ich mache mich jetzt an die Arbeit.« Kaden verließ das Büro mitsamt dem Karton, in dem sich die ganzen CD-Träger befanden. Mit einem Mal schien ein 24-Stunden-Tag viel zu wenig.