Kinderwunschkind

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Kinderwunschkind
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Annette Riemer

Kinderwunschkind

Roman

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Inhaltsverzeichnis

Titel

I. Hannes und Moni wollen ein Kind

II. Karin und Stefan wollen ein Kind

III. Sandy und Micha wollen kein Kind

IV. Keiner weiß es, aber Karin

V. Moni weint

VI. Moni tröstet sich

VII. Stefan schweigt

VIII. Hannes schweigt

IX. Micha schweigt

X. Alles wird wieder gut

XI. Alles wird wieder gut (oder?)

XII. Moni packt also aus

XIII. Jetzt schon

XIV. So hat sich Karin das nicht vorgestellt

XV. Moni fragt sich schon lange nicht mehr

XVI. Wer hätte gedacht

XVII. Die Lösung heißt Henry

XVIII. „Eins, zwei, drei!“

XIX. Am nächsten Morgen

XX. Sandy lacht nervös

Impressum neobooks

I. Hannes und Moni wollen ein Kind

Hannes und Moni wollen ein Kind. Bislang waren sie sich nicht so sicher, aber jetzt sind sie Ende dreißig und schon seit einem Jahr zusammen und hören Uhren ticken und brauchen eh eine größere Wohnung wegen Monis Bastelzimmer. Also wollen sie jetzt ein Kind. Auch, weil sie sich lieben und das irgendwie dazugehört.

Jedes Wochenende versuchen sie es. Hannes arbeitet außerhalb, deswegen geht es nur ab Donnerstag. Und eigentlich so richtig auch erst ab Freitag, weil Hannes am Donnerstag meistens ganz spät ankommt, wenn Moni schon schläft. Moni arbeitet in Schichten und deshalb bleibt bis Sonntag nicht gerade viel Zeit fürs Kindermachen. Mal kommt ihr eine Frühschicht dazwischen, mal eine Spätschicht. Und die Nachtschichten versauen ihr auch schon mal das ganze Wochenende, weil sie dann zuerst ab neun abends weg ist und nachher, am nächsten Vormittag, auch nicht mehr viel vom Tag hat. Und von Hannes.

Also muss sich Hannes ranhalten und Moni muss sich zwingen, zu vergessen, dass sie hinterher noch schnell Schnitten für die Arbeit schmieren muss. Und dass der Knopf vom harten Sofakissen drückt. Und dass sie eigentlich viel zu müde ist.

Moni hat nicht nur ein Zeitproblem, sondern zu allem Überfluss auch noch ein kleines Hormonproblem, was es ihr auch nicht gerade einfach macht, das mit dem Kinderkriegen. Gegen ihre Hormone nimmt sie andere Hormone, Kunsthormone, um doch irgendwie schwanger werden zu können. Aber das geht nur eine ganz kurze Weile gut, sagt der Arzt, dann ist der Ofen aus, weshalb Hannes noch weniger Wochenenden Zeit hat, um Moni zu schwängern. Dabei wollen Hannes und Moni so dringend und inzwischen auch unbedingt ein Kind! Lange reden sie nicht darüber, dass es nicht auf Anhieb klappt. Und auch später nicht. Sie streiten öfter und versuchen es trotzdem. Weil die Zeit so kostbar ist, zu kostbar auf jeden Fall, um sie zu zerstreiten. Und weil Moni gerade wieder mal Frühschicht hat und Hannes Sonntag wieder weg muss.

Unter der Woche lässt sich Moni heimlich untersuchen. Seitdem weiß sie, dass es an Hannes liegen muss. Irgendwann rutscht ihr das im Streit wie nebenbei raus und Hannes schließt sich daraufhin im Badezimmer ein. Neulich sagten seine Eltern, dass es doch eigentlich schön wäre, jetzt Großeltern zu werden. Sie fühlten sich gerade so schön im richtigen Alter. Die Mutter jammerte auch etwas: „Später kann ich mein Enkelkind nicht mehr auf den Arm nehmen, was hab ich dann davon?“ Hannes will ja seiner Mutter einen Enkel für den Arm schenken. Seinem Vater auch. Er will ja! Und ausgerechnet da soll es bei ihm nicht klappen?

Zuerst denkt er so darüber: Jahrelang verhütest du und hoffst, dass nichts passiert – und dann war das vielleicht am Ende alles umsonst, weil es ja eh nicht geht! Weil du mit Platzpatronen schießt! Bald aber denkt er ganz anders, nämlich so: Wenn ich einen hochkriege, aber dann doch kein Kind machen kann – bin ich dann überhaupt ein richtiger Mann? Ein Erzeuger, der seine Gene weitergibt und damit den Bestand der Familie sichert – also den Familiennamen weiterreicht?

Und bei diesem Gedanken fängt Hannes an, sich vor Moni zu schämen. Er kommt sich irgendwie defekt vor und deshalb läuft er jetzt morgens nicht mehr nackt vom Bett durch den Flur, zum Pinkelns ins Bad. Das kriegt er jetzt nicht mehr hin, seit er an sich zweifelt.

Am nächsten Wochenende versucht Hannes es gar nicht erst. Und auch an dem Wochenende darauf nicht. Stattdessen rennt er mit einem Becher zum Facharzt und denkt auf dem Weg dorthin die ganze Zeit über, dass ihn gleich jemand auf der Straße erkennt und überhaupt alle wissen, was er da unter der Jacke mit sich trägt und wohin er damit will. Und sie alle grinsen sich einen ab, wie sie Hannes so geduckt durch die Straße rennen sehen.

Der Arzt wiegt den Kopf so komisch. Nicht schlecht, aber auch nicht besonders gut, soll das heißen. Und sagt das dann auch genau so gar nicht durch die Blumen zu Hannes. „Könnte besser sein, aber was heißt das schon?“ Ein Schulterzucken. „Irgendwie klappt das ja immer irgendwann.“

Hannes ist platt. So viel Zeit bis irgendwann haben Moni und er doch gar nicht. Wegen Monis Hormonproblem. Und wegen der Wochenenden. Und der Schichten – Und das, wo Moni und er doch so ganz gerne ein Kind wollen!

Dann, eines schönen Tages und ehe sich Moni und Hannes versehen, ist die Zeit um: Jetzt weiß Hannes, dass es nicht so gut um ihn bestellt ist, wie er immer gedacht hatte. Und Moni hat wieder ihr Hormonproblem und kann die anderen Hormone aus den Kapseln nicht mehr nehmen. Und damit wissen sie nun endgültig und definitiv, dass sie wohl nie ein Kind haben werden. Hannes geht jetzt länger arbeiten, auch freitags, und Moni wieder in die Kirche. Wie damals, als ihr Bruder den Unfall hatte und so ewig im Wachkoma lag. Dann war der Bruder gestorben und die Kirche für Moni irgendwie auch. Jetzt aber geht sie wieder hin und erinnert sie sich wieder an die alten Lieder aus ihrer Kindheit und stellt beruhigt fest, dass sie das Ave-Maria beim Rosenkrankdrehen noch auswendig kann.

Sie reden nicht über Kinder und auch nicht über Hormone, die Moni, und flotte Spermien, die Hannes fehlen. Und ihnen beiden. Und wenn sie jetzt miteinander schlafen, denkt Moni ganz ungezwungen an die Schnitten und schmiert sie schon mal in Gedanken. Wurst oder Käse, fragt sie ihren Bauch, während Hannes sich weiter unten an ihr zu schaffen macht. Und wenn ihr der Knopf vom harten Sofakissen drückt, rutscht sie nun einfach ein Stück weg und denkt: Sieh selber zu, Hannes, wie du jetzt mit mir klarkommst. Und manchmal sagt sie auch: „Warte mal eben“ und schüttelt kurzerhand das Kissen ein bisschen auf, bis es wieder weich ist. Dann probiert sie es mit dem Hinterkopf aus – ja, es ist tatsächlich nicht mehr so hart, viel besser jetzt – und dann schaut sie Hannes an, der endlich weitermachen will, und sagt ganz kalt: „Du, jetzt bin ich raus.“

Wenn Hannes dann komisch guckt, schaut sie weg. Und geht ihre Schnitten schmieren.

Vor dem Urlaub, der ihnen bevorsteht, hatten Hannes und Moni beide etwas Angst, auch wenn sie es nie zugeben würden. Das war ein sehr schweres Jahr für sie, weil auch die künstliche Befruchtung nicht geklappt hat. Und die Kasse hat nicht gezahlt und nach zwei Versuchen hatten sie den Glauben daran und das Geld dafür verloren. Dank der modernen Medizin zweifelten sie nun nicht nur an den Hoden von Hannes, sondern auch noch an der Gebärmutter von Moni. Schlimmer konnte es eigentlich nicht mehr kommen, dachten sie beide, nur noch im Urlaub. Zwei Wochen sie ganz allein, immer nur Hannes und Moni und das große Nichts in Monis Bauch, wo sie doch schon längst das Kind wachsen wissen wollten.

Und dann, im Urlaub, redeten sie doch darüber und machten sich erst gegenseitig Vorwürfe und dann gaben sie sich jeweils selbst die Schuld daran und schließlich rückten sie seufzend aneinander. Und sie fanden sich damit ab: Jaja, das wäre schön gewesen. Jaja, sie hatten da so ihre kleinen Defekte. Jaja, da war aber noch mehr zwischen ihnen als die Unfähigkeit, das Natürlichste der Welt zu machen: ein Kind.

Nach dem Urlaub ist Moni schwanger. Blockade im Kopf weg, Blockade im Bauch weg, liest sie in einer Zeitschrift und findet das ganz passend.

 

Wie überall steht es auch bei ihr in den ersten Wochen gleich fünfzig zu fünfzig, dass alles gut wird: Mal nistet sich die Eizelle ein und bleibt auch wirklich hängen und wächst sich zu einem Kind aus – und mal nicht. Daumendrücken, denkt Moni. Wird schon, denkt Hannes. Aber das Schicksal ist manchmal eine hundsgemeine Drecksau und grinst sich eins und sagt sich: Wenn es bei jemandem schief geht, dann ausgerechnet bei solchen wie Hannes und Moni.

II. Karin und Stefan wollen ein Kind

Karin und Stefan wollen ein Kind. Sie haben schon eins, mit dem sind sie sehr zufrieden, aber sie wollten von Anfang an drei Kinder haben. Vor allem Karin. Das ist der Plan. Und alles läuft so schön nach Plan in ihrem Leben, denkt sich Karin manchmal, wenn sie die Hecken zum Nachbargrundstück stutzt, und freut sich darüber. Eigentlich geht es uns ganz gut, weiß auch Stefan, wenn er mal über den Rand von seinem Computer sieht und weiter denkt. Eigentlich könnten wir ruhig weiter expandieren. Es ist gerade die richtige Zeit dafür.

Also setzt Karin die Pille ab und zieht neue Laken auf. Wie das mit dem Windeln war, hat sie schon längst vergessen. Und die Koliken, die Max in den ersten drei Monaten hatte, sind auch nicht mehr in Karins Kopf. Und das Geheule, als die ersten Zähne kamen, auch nicht. Zwei Jahre Abstand, denkt Karin, sind perfekt. Und es muss doch schön sein, einen großen Bruder zu haben. Sie hätte sich so einen damals für sich gewünscht und nun wünscht sie so einen für ihr zweites Kind. Den großen Bruder hat sie schon, nun fehlt nur noch das zweite, das neue Kind – das wird es gut haben bei uns, ist sich Karin sicher.

Nur manchmal, wenn sie Stefan reitet und er ihr wie immer so ein bisschen unbeholfen die Vorderfront abtastet, dann denkt sie an ihr Bindegewebe, das nicht mehr so straff ist wie früher. Um den Bauch rum wird es trotz zwei Mal die Woche Fitnessstudio nie mehr wieder so sein, wie es mal war. Und der Beckenboden wird auch nicht besser von noch einer Geburt. Und die Brüste erst … Stefan sieht das nicht so, weil er nichts sieht, aber Karin sieht alles. Auch das, was gar nicht da ist. Und dann fragt sich Karin, ob es das wirklich wert ist. Körper gegen Kind – in Karins Kopf führen sie einen harten Kampf. Aber dann sieht sie Stefan an, der neuerdings dabei immer so sehr ins Schwitzen kommt. Wenn er sie hält, muss er ab und zu eine Pause machen. Oder er lehnt sie an die Tür, die kalt ist und ihr die Stimmung versaut. Oder er setzt sie mal kurz auf dem Fensterbrett ab, was auch nicht viel besser ist. Erst denkt Stefan, dass Karin das nicht mitbekommt: dass er nicht mehr so fit ist in letzter Zeit. Bürojob eben, denkt er sich, und so schlimm ist das ja nun auch wieder nicht. Das Wesentliche klappt ja schließlich. Und ab Mai, wenn es wärmer draußen ist, will er sowieso wieder joggen gehen, dann regelt sich das alles wieder von alleine. Aber auch im Juli wird es nicht besser von den zwei, drei Mal, die Stefan bis dahin joggen war. Und dann bemerkt er, wie Karin ein mitleidiges Lächeln nicht weglächeln kann und er vermutet, dass sie denkt, er müsse doch mal wieder mehr Sport treiben, also wirklich mal Sport treiben, so wie sie. Aber Stefan, der an seinem kleinen Bauchansatz eigentlich nichts auszusetzen hat, vermutet da völlig falsch.

Denn Karin denkt nicht an Stefans Sport, sondern an Stefans Vater, der ein Herzproblem hatte und schon gestorben ist, und sie fragt sich, ob das vererbbar ist und bekommt Angst. Nicht, weil sie Stefan so sehr liebt. Das schon. Aber dann wäre sie ja alleine, so wie Stefans Mutter jetzt in ihrem großen Haus, und das wäre noch viel gruseliger. Das brächte ihren ganzen Plan vom Leben durcheinander, in den Stefan als Vater-Verdiener-Tanzpartner ganz unabdingbar reingehört und in dem kein neuer Vater-Verdiener-Tanzpartner vorgesehen ist. Weil ein zweiter Vater-Verdiener-Tanzpartner so ein bisschen danach klingt, als wäre Karin zweite Wahl. Findet sie. Außerdem würde das Haus vielleicht nicht so gut zu dem zweiten Mann passen. Oder die Kinder, von denen sie aber derzeit erst Max hat.

Also vergisst Karin ihr Bindegewebe auch gleich wieder und pfeift auf Beckenboden und Brust und konzentriert sich ganz auf Stefans mögliches Herzproblem und zieht ihn noch fester in sich hinein und saugt alles von ihm gedanklich in sich auf und legt schon währenddessen die Beine hoch und denkt ganz fest an das weiße Zeug, das bitte, bitte, bitte in die richtige Richtung fließen und ein Kind werden soll. Noch ein Kind, dann noch ein Kind. Drei Kinder sind geplant. Drei Kinder kann sich Karin gerade so vorstellen. Zwei Jungs und ein Mädchen sollen es sein, wenn es geht. Aber Karin nimmt auch andere. Nur drei müssen es sein, drei Kinder. Genauso viele kann sie bewältigen und großziehen und lieb haben, glaubt sie. Mehr nicht, leider. Die wüchsen ihr über den Kopf, glaubt sie. Aber weniger dürfen es auf keinen Fall sein, weil Karin sonst zu oft an all das denken würde, was passieren kann, wenn man nicht aufpasst. Und auch, wenn man aufpasst. Und an die Einsamkeit, die so ganz gegen den Plan wäre. Mit drei Kindern ist sie gegen jegliches Alleinsein abgesichert, sollte Stefan nicht mehr da sein. Nur bis die alle da sind, soll er doch wenigstens durchhalten, denkt sich Karin und vermutet so für sich: Wenn er mich liebt, dann macht er das auch mir zuliebe. Jetzt das zweite Kind und dann, in zwei Jahren, das nächste. So lange muss Stefan noch mitmachen. Dann ist alles gut.

Karin hat mit ihrem Psychologen darüber gesprochen und der sagt: „Das kommt daher, dass Sie ein Einzelkind sind.“ Das findet Karin blöd, weil es so wie ein Vorwurf an ihre fortpflanzungsfaulen, übervorsichtigen, egoistischen Eltern klingt. Und noch verbissener reitet sie Stefan das weiße Zeug aus dem Hirn, denn auf keinen Fall möchte sie so sein wie ihre Eltern. Und auch will sie nicht, dass ihre Tochter – die noch zu zeugen sein wird – einmal genauso schlecht von ihr denken wird. Nein, Karin will nicht fortpflanzungsfaul und übervorsichtig und egoistisch sein. Sie will nur nicht einsam sein! Und sie nickt immer fleißig mit dem Kopf, wenn Stefan meint, dass es jetzt eigentlich die richtige Zeit für noch ein Kind wäre, und zieht ihn gleich wieder mit hoch ins Schlafzimmer. Und bekommt schon Lust, wenn er nur so komisch guckt. Und auch, wenn er gar nicht guckt.

Und hinterher liegt Stefan neben ihr und sagt: „Schon allein dafür lohnt es sich“ – weil er es nicht besser weiß, weiß Karin, die gerade an Eizellen und Spermien denkt und daran, dass sie das jetzige Arbeits- und künftige Kinderzimmer gelb streichen werden. Weil das neutral ist. Junge, Mädchen. Komme, was wolle. Und Stefan, der Depp, sieht nur den geilen Sex und kapiert nicht, dass Karin nur ganz eilig ein Kind von ihm will und sonst nur normal scharf auf ihn ist. Und nicht mehr als sonst. Aber sie lässt Stefan in seinem Irrglauben, weil er sich dann besser fühlt und mehr Lust hat und es besser, länger und mit mehr Schwung schafft. Und Schwung ist wichtig, falls Karins Eizellen noch im Eileiter rumtrödeln. Wenn Stefan alles gibt, freut sich Karin und gibt ihrerseits noch ein bisschen mehr als das. Damit Stefan noch mehr gibt und Karin noch mehr Grund zur Freude hat. Zur Vorfreude.

Aber manchmal muss Karin dann plötzlich weinen, ganz leise. Weil es so schwer ist, gegen das Alleinsein anzukämpfen und anzubumsen. Weil sie erst das ganze eklige Zeug von Stefan in sich kriegen muss, um schwanger werden zu können. Weil Stefan dabei auf ihr rumschwitzt wie ein Schwein und sich auf ihr suhlt wie in einer Schlammkuhle. Oder unter ihr so unappetitlich japst, als würde er gleich den Herzkasper bekommen, den Karin schon kommen sieht und von dem Stefan und selbst der Kardiologe, zu dem Karin ihn geschleppt hat, noch nichts wissen. Weil jedes Kind ihr Bindegewebe immer weiter ausleiert und sie sich umso weniger als Frau fühlt. Nur noch als Mutter und Schweinekuhle. Und mal ehrlich: Wer hat denn heute schon noch drei Kinder? Doch nur Assis.

Aber drei müssen es trotzdem sein, denkt Karin und wischt sich schnell die Tränen von der Wange. Wegen der Einsamkeit in ihr. Und weil sie Kinder gern um sich hat, denen sie wie den Blumen in ihrem Garten beim Wachsen zugucken kann. Und so zieht sie Stefan, der sein Glück gar nicht fassen kann, gleich noch mal auf sich und zieht die Soße in sich hoch wie durch einen Strohhalm. Drei Kinder sind schön, eine schöne Familie. Junge, Mädchen, Junge – das wäre schön. Karin ist bereit dazu, empfängnisbereit. Der erste Junge ist schon da, der Anfang ist gemacht. Alles läuft nach Plan – und doch würde Karin am liebsten ihrer Eizelle einen Stups in die richtige Richtung geben, Stefans Spermien entgegen. Komm schon, denkt sie und hofft, dass Stefan jetzt nicht schon wieder eine Pause macht. Und hofft und hofft und hofft.

III. Sandy und Micha wollen kein Kind

Sandy und Micha wollen kein Kind. Deshalb zieht sich Micha ja auch immer was drüber. Und weil Sandy die Pille nicht verträgt. Das findet Micha echt blöd, aber noch findet er Sandy schärfer als die Sache mit den Kondomen blöd. Und deshalb steigt Micha immer wieder gerne mit Sandy in die Kiste. Aber gleich ein Kind machen, obwohl sie sich doch erst die paar Wochen kennen? Das wäre ja schön blöd – noch wesentlich blöder als mit Kondomen, denkt sich Micha.

Sandy denkt genauso. Nicht weil sie Kinder nicht mag, sondern weil sie Micha so sehr mag. Und vor Micha war da lange Zeit rein gar nichts, nur Sandy und der Job im Supermarkt und die Eltern zu Hause. Und Sandy, die sich da ein bisschen mehr erhofft hatte von ihrem Leben. Und jetzt, wo Micha in selbiges reingetreten ist, ist alles so unglaublich voll Neuem, dass Sandy noch gar nicht über Micha hinaus gedacht hat. Weil was, wenn das gar nicht so lange läuft mit Micha, denkt sich Sandy? Dann sieht das, was hinterher kommt, genauso aus wie das, was vor Micha war: Dann gibt es wieder nur Sandy, Sandy und ihre Eltern, bei denen sie noch wohnt, oben, unterm Dach, in ihrem alten Zimmer, das erst Kinderzimmer war und dann Jugendzimmer und jetzt einfach nur Sandys Zimmer.

Sandy fährt jeden Tag außer sonntags, weil da nur, wenn Inventur oder vier Mal im Jahr offen ist, von dem eingemeindeten Dorf, wo ihre Eltern mit ihr wohnen, in die Stadt rein, zum Supermarkt, wo sie an der Kasse sitzt oder Regale einräumt. Manchmal hilft sie auch im Getränkemarkt nebenan aus. Dort steht sie an der Flaschenannahme oder an der Flaschenpresse, wo es so nach Bier und Pisse stinkt, und dort kommt sie dann oft ins Quatschen. Mit den Kolleginnen, die heimlich zwischen den Stapeln von Getränkepaletten rauchen. Weil der Chef ja vorne im Büro sitzt. Und weil sie eben rauchen.

Manchmal quatscht Sandy auch schon vorne, bei der Flaschenannahme, mit den Kunden. Ramona sagt dann manchmal: „Quatsch dich nicht fest.“ Und Petra, die viel lieber ist, weil sie Mutter ist und zwei Kinder alleine an der Backe hat, sagt: „Nicht mit dem und auch nicht mit dem da.“ Aber Sandy hat ja nur ihre Eltern und fühlt sich manchmal entweder schon viel zu alt oder noch viel zu jung dafür und freut sich, wenn sie mal mit jemand anderes quatschen kann als mit Vati oder Mutti. Jemanden, der was wirklich Wichtiges von ihr will, nicht nur die Zeitung. Der sie will.

Bald kennt Sandy im Getränkemarkt die Namen von den Stammkunden, obwohl sie da ja eigentlich nur aushilft. Aber weil Ramona eine ganz miese Zicke ist, glauben bald alle im Supermarkt, dass Sandy mit (wenigstens) jedem zweiten Stammkunden was laufen hat (wenn das reicht). Weil sie charmant sein kann, wenn sie will. Und sie will ja! Unbedingt!

Sonst ist da weit und breit nichts in Sandys ganzen Leben. Nur die Eltern und Sandy selbst ein bisschen und der Supermarkt und das bisschen Gequatsche mit den Stammkunden und die Heimfahrt nach der Schicht, manchmal schon im Dunkeln. Wenn sie dann nach elf zu Hause ist, hat sie nur noch Kraft fürs Waschen und Einschlafen. Nicht wegen der Arbeit – Sandy kann rackern wie eine Wilde –, sondern vor Einsamkeit. Denn das ist gerade das Komische, denkt sich Sandy gelegentlich: Je mehr sie mit dem und dem quatscht, desto einsamer kommt sie sich hinterher vor, wenn sie den und den abkassiert hat und wieder alleine ist.

Und dann kommt einmal Micha. Das ist so einer, von dem Petra gern sagen würde: „Nicht mit dem, aber so was von sicher nicht mit dem.“ Aber sie kriegt es nicht raus, wenn sie Micha sieht. Und auch sonst nicht, weil Micha so ein Typ ist, der den Frauen die Sprache verschlagen kann, ob er nun will oder nicht. Das spürt Petra schon an seinem Blick, auch wenn er gar nicht zur Kasse rüber sieht. Denn Micha hat nur Augen für sein Bier. Das holt er jeden zweiten Sonnabend, wuchtet den Kasten in seine Fahrerkabine vom LKW und verschwindet wieder nach Litauen oder Frankreich oder runter nach Kalabrien, wenn auch viel seltener. Denn Micha ist Fernfahrer.

 

Sandy hat das nicht gleich mitgekriegt, weil Micha maulfaul ist und sie nicht so richtig mit ihm ins Gespräch gekommen ist – und sie nicht auf den Parkplatz raus geguckt hat. Also hat sie gewartet und gewartet und war erst traurig und dann wütend (auf sich selbst) und dann wieder traurig, bis Micha wieder am übernächsten Sonnabend seinen üblichen Kasten abgeholt hat und alles vergessen war. Micha, das hat Sandy schnell gemerkt, ist keiner zum Quatschen. Und außerdem, das hat sie dann auch noch gerade so schnell gemerkt, ist er immer unterwegs. Und das findet Sandy gar nicht mal so schlecht. Weil die Stammkunden, die sonst mit ihr quatschen und sogar flirten, immer da und gewöhnlich und kein Abenteuer sind. Micha aber ist anders. Der ist rarer. Der ist exklusiver.

Aber leider maulfaul.

Deshalb hat Sandy das mit dem üblichen Augenaufschlagen und Anquatschen mal sein gelassen und hat ihm kurzerhand ihre Telefonnummer in die Tasche gesteckt. Direkter, hat sie sich gedacht, ist manchmal besser, auch wenn man sich dabei unter Umständen wie ein Flittchen vorkommt. Auch wenn es nur ein kleiner Zettel ist. Aber trotzdem hat sich Sandy für ganz kurz so gefühlt – obwohl sie gar keinen Grund dafür hat. Und das nicht nur, weil es bloß ein wirklich ganz kleiner Zettel war.

Und dementsprechend ist Sandy ganz puterrot geworden – und noch röter, als sie bemerkt hatte, so puterrot geworden zu sein. Wie ein blödes Schulmädchen, hat sie sich verärgert gedacht und ist hinten auf den Hof zur Leergutpresse gerannt, wo die Kowalski ganz froh war, weil sie dann mal eben kurz zwischen den Plattenstapeln eine durchziehen konnte, und wo Ramona mit ihrer fiesen Art nichts sagen kann und wo Sandy noch ganz lange das Herz wild an die Rippen hämmerte. Noch mindestens zwei Leergutsäcke lang (Das ist gut eine halbe Stunde lang, weil der Automat manche Flaschen erst beim dritten oder vierten Anlauf erkennt und manche auch gar nicht, die muss Sandy dann in einem Vordruck registrieren. Mit der ganzen, elend langen Strichcode-Nummer).

„Wie romantisch“, haucht Petra, als ihr Sandy die ganze Geschichte, die eigentlich gar keine ist, in der Raucherpause erzählt. Aber trotzdem spürt Sandy da ein Gefühl, das ihr vorkommt wie eine warme Decke, eine wohlig warme, große Decke. Aber dann fühlt sich die Decke plötzlich zu kurz an den Füßen an, denn leider kommen ja der übernächste Samstag und mit ihm Micha erst in zwei Wochen wieder. Und so lange hält die Decke, an die Sandy komischerweise denken muss, garantiert nicht warm, wie sich Sandy schon denkt, als sie Petra von Micha erzählt.

Aber dann – und es war erst Donnerstag! Micha klingelte durch, zwei Tage später trafen sie sich zuerst auf eine Currywurst vor dem Supermarkt, in Sandys Mittagspause. Das war schön, weil er sich extra Zeit genommen hatte für sie. Dann, am Abend, nahm er sie mit zu sich, in eine ganz kleine Bude, wo er nur an den Wochenenden hauste und alles genauso nach Männerhaushalt aussah und auch roch, wie Sandy sich das ausgemalt hatte: der Dreck in den Fugen vom Bad, der ganze Staub, der Abwasch von vor zwei Wochen ... Aber Sandy hatte nur Augen für Micha und kam vor Aufregung aus dem Quatschen gar nicht mehr heraus. Das war so ziemlich alles, was sie in der letzten Zeit mit Männern gemacht hatte. Das gab Sandy ein bisschen Sicherheit. Aber das verschreckte Micha auch ein bisschen, weil er ja maulfaul ist und nicht so gut kann mit Wörtern und langen Sätzen, die Kommas haben. Micha ist eher so der Anpacker. Und er dachte sich etwas genervt: Hört die denn gar nicht mehr zu plappern auf? Hat ja eine ganz tolle Figur, aber steht die Gusche denn nie still? Und: Vielleicht sollte ich sie einfach knutschen, dass endlich mal Ruhe ist. Vielleicht wartet sie ja auch nur darauf und textet mich deshalb so zu.

Ansonsten findet Micha Sandy klasse, weil sie so wenig Zeit hat. Wegen der Eltern und der Arbeit, und mit allem, was dran hängt von Einkaufen bis Mitputzen zu Hause, ist Sandy ja auch wirklich richtig eingespannt. Micha hat es nicht gern, wenn er sich auf seinen Fahrten quer durch Europa immer fragen muss, wo das Weib bloß steckt. Das hat er erst seit Caro so im Blut, die hat ihn nämlich betrogen, und seitdem fehlt es Micha an Vertrauen. „Mit mir nicht“, sagt er, denkt: Nicht noch mal, und haut auf den Tisch. „Ich tu mich damit schwer“, flüstert er im Vertrauen und klingt dabei schon viel mehr nach warmer Decke. Findet Sandy. Und die muss es wissen, denn bald deckt sie sich mit Michas Wärme ganz zu.

Und Micha freut sich, dass er mit Sandy so ein prima Mädel hat, das mit beiden Beinen im Leben steht und den ganzen Tag ackert. Für sie macht er sogar in seiner kleinen Bude Platz, was er noch nicht mal für Caro gemacht hat: zuerst für ihre Zahnbürste, dann für ein paar Wechselsachen. Und dann stört ihn nicht mal der Damenrasierer am Wannenrand – Micha wundert sich nur, wie schnell das Ding in sein Bad gekommen ist. Und dass überhaupt mit Sandy seine kleine Wohnung ordentlich aufgewertet wird.

So geht das eine ganze Weile und es geht gut so. Alle zwei Wochen hat Sandy Urlaub von ihren Eltern und ihrem Leben und hat Urlaub bei Micha. Und Micha hat Urlaub von seinem LKW und Litauen und Frankreich. Für Micha heißt dieser Urlaub: Sex, ohne bezahlen zu müssen. Und mit einer richtigen, also vorzeigbaren Frau – auch wenn Micha nicht dazukommt, Sandy irgendwo vorzuzeigen. Möchte er auch gar nicht. Für Sandy heißt dieser Urlaub kuscheln unter der Decke, die sie in sich fühlt.

Als sie sich auf einmal nur noch nach Kotzen fühlt, ahnt Sandy, dass sie nicht nur einfach ein par Wochen über der Zeit ist. Sie holt sich in dem Supermarkt einen Test (natürlich nicht in ihrem Supermarkt, wo sie ja jeder kennt) und dann weiß sie es auch: Sie ist definitiv nicht nur drüber, sagt der Teststreifen nach zehn Minuten.

Als Sandy Micha mitten in ihrem gemeinsamen Wochenendurlaub ihrer Beziehung sagt, dass sie so, wie’s aussieht, schwanger ist, schweigen sie sich spontan einen Weile an. Sandy denkt: Schmeiß mich nicht gleich wieder raus, schmeiß mich jetzt bloß nicht wieder raus. Das ist doch eigentlich was Schönes und wunderbar – die Decke wird größer – eine Familie entsteht – so schnell. Wir mussten nicht mal groß drüber nachdenken oder drüber reden – das passt doch zu dir, das fängt doch gut an, oder?

Micha denkt: Was verdient Sandy eigentlich da in ihrem Supermarkt? – Scheiße, jetzt müssen wir irgendwie zusammen sein, auch wenn wir nicht mehr wollen, so im Unterhalt sind Kinder bestimmt teurer als zu Hause. Aber auch gleich nach den paar Mal – was bist du für eine Wucht, dich hält nicht mal so ein Gummi auf! Du bist halt potent wie ein Zuchtbulle.

Und das sagt er Sandy auch, weil er nichts anderes weiß und Sandy findet das irgendwie auf eine ganz komische Weise, die nicht so poetisch ist wie im Film, doch ganz passend in diesem Moment.

Und Sandy schließt Micha fest in die Arme und noch fester ins Herz und lässt ihn nie wieder los. Bis Sonntag, wenn Micha wieder fahren muss. Auf zwei Wochen nach Estland diesmal. „Wir wollen also ein Kind“, sagt sie zu Micha, wobei sie ihn aber auch ein bisschen fragt.

„Hm“, macht Micha, „sieht wohl so aus.“

Mehr sagt er nicht mehr dazu, das ganze Wochenende nicht.

Er ist halt maulfaul, leider.