Buch lesen: «Tiefenlager», Seite 3

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Es standen Prüfungen an. Betty zog sich in ihr Zimmer zurück und lernte. Ihre Freundin kam nicht mehr vorbei, weil sich Betty stets neu verliebte, aber schnell eifersüchtig wurde, wenn das der Freundin auch geschah. Bettys Stadt war nach innen gewachsen, in die Häuser hinein, die Studentenheime auf dem weiten grünen Campus der Staatsuniversität, in verschachtelte Häuser im Hinterhof einer Bäckerei. Betty lernte, in einem Zimmer, in dem fünf Leute schliefen, einen Orgasmus zu genießen, von dem niemand, der nicht beteiligt war, etwas mitbekam. Sie nannte das Implosion. Im Innersten der Stadt zerfiel sie im Glück, fand sich in einem dunklen Himmel wieder, in einer unbekannten Stille. Die suchte sie auch in Stundenhotels, die reichere Freundinnen zahlten, sah sich nackt im Spiegel, der über dem Bett an der Zimmerdecke angebracht war; oder in einer Villa am Stadtrand und in einem Raum, den eine Prinzessin eingerichtet hatte. Ein sanftes Paradies in Rosa und Hellblau, mitten in einem wuchernden Quartier aus ärmlichen Hütten.

Die »Vita« behauptet, dass Betty in jener Zeit auf eine Entscheidung zusteuerte, einen Ausbruch. Sie soll begonnen haben, an den Ratschlägen der Titas zu zweifeln und offen mit ihnen zu streiten. Die Kritik an ihrem Lebenswandel nagte an ihr; vor den Prüfungen hatte sie Angst, das Geld war knapp, es regnete in Strömen. Nur Jet Li schien unverwüstlich über allem zu thronen. Er sprang nicht nur, er flog durch die Nacht über dem Boulevard und den Passagieren, die nass gespritzt wurden, während sie auf eine Fahrgelegenheit warteten.

Manchmal fuhr Betty eine Freundin unwirsch an, die nach ihrem Befinden fragte. Von einer Party lief sie weg, ohne irgendjemandem gesagt zu haben, dass sie plötzlich nichts mehr hörte. Als seien ihre Ohren dicht. Nachts schlief sie schlecht. Sie träumte von bleiernen Jeeps, die im Meer versanken. Still ergaben sich die Passagiere dem Wasser. Betty erwachte schreiend. Aber es sei ihr gelungen, den Atem zu beruhigen. Betty habe auch Worte gefunden, um murmelnd Mut zu schöpfen. Eine Ahnung von etwas Größerem habe sich eingestellt und breit gemacht. Eine neue Rührung. Eines Tages sei sie zu Tita Celia ins Wohnzimmer getreten und habe verkündet, von nun an wolle sie sich dem Ernst des Lebens stellen. Noch in derselben Woche zog sie in ein Personalzimmer des größten städtischen Krankenhauses. Es wurde schwierig, den Kontakt zu Freundinnen zu halten, die in anderen Quartieren wohnten. Aus den Volksmassen, die Tita Gloria in ihren Berichten an die Vereinten Nationen beschworen hatte, wurden nackte Arme mit Brandwunden, geschwollene Bäuche, blasse verängstigte Gesichter, Familien, die im Halbrund um die Betten standen oder den Flur blockierten, weil sich auch dort Bett an Bett reihte. Betty sah viele Leichen. Amputierte Füße. Röntgenbilder und blutige, da neugeborene Babys. Sie schätzte ihre Uniform, die grünliche Hose und das weit geschnittene Oberteil. Dass die Farbe bald ausbleichte, verstärkte die Wirkung: Jeder, der Betty sah, wusste sofort, dass sie hierher gehörte, sich auskannte und immer dann lächelte, wenn es nötig war. Es galt, jede kleine Zehe zu verstehen, jede Verfärbung der Haut genau zu studieren, die Zutaten sämtlicher Medikamente auswendig zu wissen und die Kürzel auf dem Monitor des Tomographen, der heiß lief im Keller und gekühlt werden musste, damit er nicht verrückt spielte.

Im Wechsel von Station zu Station vergingen die Jahre. Als Betty die dreißig überschritten hatte, suchte sie eine neue Freundin, wie schon so oft, aber diesmal fand sie einen Meister. Auch er war Krankenpfleger. Jeden Morgen trainierte er und hatte bald Schüler. Betty war seine einzige Schülerin. In den Bewegungen, die sie von ihm lernte, kam ihr Körper in einen neuen Zusammenhang. Alles verband sich immer besser und manchmal, in besonders guten Momenten, schienen ihre Arme und Beine mit den kleinen Jungen auf der Straße ihrer Kindheit verwandt und dem Basketball; der Wind spielte in die Routinen hinein, wenn er übers Dach des Spitals wehte und ans Ufer der Bucht von Manila, wo sie auf einem leeren Parkplatz trainierten. Die Beine schnellten hoch und schwer fuhr eine Faust aus. Betty stellte fest, dass sie gefährlich werden konnte.

Aber der Meister spornte sie nicht nur an, er beruhigte sie auch. Wenn sie krank war und Fieber hatte, kam er in ihr Personalzimmer und trocknete mit einem weißen Frotteetuch ihre Haut ab, den Rücken, den Nacken, die Arme und die Rinne zwischen den Brüsten. Er schien sie nicht anzublicken dabei. Trotzdem fühlte sie sich nicht wie eine Patientin im Spital. Etwas Mütterliches brachte er ihr entgegen, eine ständige Sorge um die richtige Temperatur ihres Körpers, egal ob ein Fieber wütete oder nicht. Auch im Training war darauf zu achten, dass der Schweiß nicht offen floss, dass kein Windhauch in die Tropfen fuhr, Wasser durfte nicht auf der Haut trocknen, die Abkühlung nach einem Kampf musste langsam vonstatten gehen. Des Teufels war kaltes Wasser auf einem heißen Körper, eine plötzliche Dusche konnte Krämpfe und Schockzustände hervorrufen. Das widersprach den Lehrbüchern nicht, die Betty studiert hatte, aber es kam darin auch nicht vor. Die mütterlich-meisterliche Lehre der Wechsel, des sanften Übergangs und der Schirmung im richtigen Moment breitete sich außerhalb der Arbeitszeit in ihrem Leben aus, sie wirkte immer dann, wenn Betty frühmorgens einen stillen Winkel aufsuchte, um zu turnen. Auch in Europa, als sie dem Orden beigetreten war, trug sie ein weißes Frotteetuch über die rechte Schulter geschlenzt, wenn Sommer war und manche Bewegung zu einem Schweißausbruch führte. Petra sagte einmal, dass sich Betty Wang überall auf der Welt zu Hause fühlen werde, wo sie genug Zeit finde, sich nach einer Anstrengung langsam abzukühlen.

Vom Meister wurde erzählt, er sei lange in Nordamerika gewesen, als einziger philippinischer Schüler von Bruce Lee. Andere sagten: als Masseur von Bruce Lee. Wahrer Erbe des Filmstars war er für alle. In der Gegend ums Spital würde die Kampfkunst zu neuer Blüte gelangen, wenn der Meister endlich eine richtige Schule gründen und die Uniform des Krankenpflegers an den Nagel hängen könnte. In dieser Hoffnung lebte auch Betty, bis sie wieder begann, in die Stadt auszuschweifen, alte Freundinnen und Titas zu besuchen, nach kurzen Gesprächen verstimmt zu verschwinden und sich treiben zu lassen, in Jeepneys zu steigen, von denen sie nicht wusste, wohin sie fuhren. Sie entdeckte Kampfsportschulen in mehreren Stadtteilen, erfuhr von einem zweiten einzigen philippinischen Schüler von Bruce Lee und wollte sich nicht ausdenken, wie viele es noch gab auf dem Archipel, den siebentausend Inseln voller Leute, die darauf hofften, dass hier endlich etwas ganz Großes aufblühte.

Betty verlor sich an ihren freien Tagen in der Stadt, weil ihr Vater gestorben war. Eines Tages hatte die Mutter angerufen. Die Nachricht wirkte erbarmungslos. Blieb Betty allein in ihrem Zimmer, stürzten hundert fratzenhafte Gesichter des Toten auf sie ein. Stumm schrien sie und trieben Betty aus dem Haus. An der Beerdigung nahm sie teil, als sei sie eine Fremde. Die Geschwister schienen sie nicht herzen zu wollen. Einen klaren Gedanken konnte sie nicht mehr fassen. Da war nur der Wille auszufahren. Wo sie auch hinkam, war alles falsch. Was die Titas sagten, die Freundinnen empfahlen, die Mutter anmahnte, klang schrill und daneben, ein wiederholter Affront, und dem Meister wagte sie nicht mehr ins Gesicht zu blicken, seit sie an seiner Geschichte zweifelte. Ihn zu fragen, wie es denn wirklich gewesen sei mit Bruce Lee, hätte ihr das Herz gebrochen.

Als sie mehrmals die Morgenübungen verschlafen und bei der Arbeit zwei Medikamente verwechselt hatte, steigerte sich ihre Unruhe zu Panik. Ihr Leben drohte in Scherben zu gehen, sie wäre am liebsten in eine Wand gerannt und wollte bellen, wenn ein Patient vor ihr lag und leise winselte. Alles Mitgefühl war dahin. So schnell wie möglich musste sie aus dem Spital, der Stadt, dem Archipel verschwinden. Als ihr ein Inserat am Anschlagbrett ins Auge sprang, glaubte sie sich von höherer Stelle erhört: »Hongkong« stand da, »Privatklinik«, »Hokkien-Chinesisch erwünscht«, das war genau auf sie zugeschnitten. Sie würde mit Jacky Chan ihren Kinderdialekt sprechen und modernste Maschinen bedienen. Die Stelle war sofort anzutreten.

6.

Den Anflug übers Meer genoss Betty als Versprechen. Vom Flugzeug aus waren Berge und Wälder zu sehen. Die Vorstellung von der kleinen Wiese, die sie sich vor dem Fernseher in Tita Celias Wohnung gemacht hatte, war offenbar falsch. Dass in den frühen Filmen von Jacky Chan immer dieselbe kleine Lichtung zu sehen war, hieß nicht, dass es in Hongkong keine anderen Wiesen gab. Nur die schmalen Küstenstreifen der Inseln und der Halbinsel waren von Hochhäusern vollgestellt, nahtlos ragten dahinter steile Berghänge auf, der Buschwald schien drauf und dran, die Häuser einzunehmen. Da musste es tausend kleine Wiesen geben, um zu kämpfen, ein Sandwich zu essen oder Morgenübungen zu machen. Hongkong wuchs nicht in die Breite, wie Manila, sondern in die Höhe und in den Untergrund. Mit der U-Bahn fuhr man vom Flughafen direkt unter das Haus, wo sie wohnen würde. Aber schon am Tag der Ankunft schrumpfte die Stadt auf einige Quadratmeter zusammen. Betty fand sich in einem Zimmer wieder, das keine Fenster hatte. Das Wort »Privatklinik« entpuppte sich als Täuschung, ihr Arbeitsplatz war nichts als privat.

Betty wohnte auf einem Sofa, das sie nachts vor die Klotür schob, um sofort aufzuwachen, wenn ihr Patient Wasser lassen wollte. Seine ebenfalls schon ältere Tochter fürchtete sich vor einem Schenkelhalsbruch. Deshalb lag Betty nachts im Halbschlaf da und hörte der Klimaanlage zu, ihr Vibrieren schien sich am Brummen des Kühlschranks aufzureizen. Das Zimmer war mit weiteren Apparaten bestückt: einem Dampfabzug über der Kochnische, einer Mikrowelle; lief die Waschmaschine, befeuchtete sie Schränke, den Spiegel, Geschirr und Ablagen. Betty sah manchmal nichts mehr, wenn ihr ein Essen anbrannte und die Wäsche in ihrem Rücken trocknete. Innerlich ratternd lag sie nachts wach und fand keinen Ausgang, ihre Gedanken steckten in dem Inserat fest, im Flugzeug, dem kühlen Abschied von der Mutter. Es gab kein Zurück zu den Freundinnen, die ihr nicht glauben würden, dass sie das Inserat nicht überprüft, keine Erkundigungen eingeholt hatte; im Alter von 42 Jahren war sie übers Ohr gehauen worden wie ein Trottel vom Land. Sie sackte ab in den Gerüchen, die vom Klo ins Allzweckzimmer drangen. Es dauerte Tage, bis sie ans Fenster kam.

Im vorderen Zimmer saß Herr Tan stundenlang stumm auf seinem Bett; er schob sich einige Kissen zurecht, damit ihm wohl war. Und er schaute hinaus. Zwischen Bett und Fenster war wenig Abstand, also stürzte die Stadt durch das wandgroße Glas direkt auf ihn ein und bald auch auf Betty, die sich neben ihn setzte. Die Häuser schienen aus Hochstraßen und Schluchten aufzusteigen. Wurde es abends langsam dunkel, standen sie als schwarze Streifen vor dem Himmel. Ein Anflug von Abendrot flackerte hinter ihnen, aber nur kurz, dann war nur noch Kunstlicht zu sehen. Aus dem Schwarz der Schluchten schossen Lichter auf, Punkte in vielen Farben wanderten den Kanten entlang, ein stundenlanges Blinken hob an – die Krönung jeder Weihnachtsbeleuchtung, dachte Betty, die sich in Manila nicht hatte satt sehen können an Rudy, dem rotnasigen Rentier, an Santa und allen Ochsen, die zu Weihnachten über den ärmsten Quartieren der Stadt prangten, und Musik machten, einen Monat lang dieselbe Melodie in Endlosschlaufe. Kaum wurde es Nacht, war nichts mehr zu sehen gewesen vom Schlammpfad, von lecken Dächern, eingebrochener Wand oder trübem Kanal. Alles verschwand in Schwärze, wenn leuchtend weiß quiekendes Getier und Engel erschienen. Auf Menschenhöhe. Nach Sonnenuntergang war nur noch wahr, was hell erstrahlte.

In Hongkong begannen sich jeden Abend die Häuser zu verschieben, in Lichterreihen aufzulösen, neu zu erscheinen, zu springen. Herr Tan fragte dann:

»Wo sind wir?«

»Zu Hause«, sagte Betty.

Er nickte zweifelnd und fragte stets nochmal nach.

»Zu Hause«, wiederholte Betty in ihrem Kinderchinesisch, Hokkien, Dialekt der Provinz Fujian, der Seeräuber, der Händler und der Armen, die sich im Süden eine Insel gesucht hatten um zu überleben, vielleicht sogar reich zu werden. Herr Tan sollte sich an sein Dorf auf dem Festland erinnern, wenn er den alten Dialekt hörte, den seine eigene Tochter weder sprach noch verstand. Mit mütterlicher Stimme musste ihm versichert werden, dass dieses Bett sein Bett war. Aber Betty fühlte sich hinter der schall- und luftdichten Fensterwand selber entrückt, sie hätte gern gesagt: »Wir schauen direkt ins All, Herr Tan, da fliegen Häuser senkrecht ab wie Raketen, andere fallen uns entgegen, die kleinen Lichter auf der Hochstraße sind Kampfmücken, bald fliegen wir mit.«

Auf digitalem Weg war Betty mit Manila verbunden. Sie wagte eine erste Botschaft an Tita Rosa, die ihr früher die Karten gelesen hatte. Das Wort »Privatklinik« behielt sie bei, aber sie schrieb von einer »langen Nacht der Seele«. Das genügte, um eine kleine Welle von guten Wünschen auszulösen. Rosa behielt Nachrichten nicht für sich. Musik wurde geschickt, hübsche Bilder von Jet Li, die Namen hilfreicher Leute wurden empfohlen und Telefonnummern. Der Tantenhimmel reichte über das kleine Meer zwischen den Inseln und China hinweg und vielleicht reichte er noch viel weiter. Im Feldlager der Hausangestellten, das sich jeden Sonntag im Zentrum der Stadt entfaltete, suchte Betty bald die Freundin einer Freundin einer Freundin auf. Sie erfuhr, dass gegen die Täuschung nicht viel zu machen sei, wenn sie in der Stadt bleiben, vielleicht sogar vorankommen wolle. Hongkong sei ein Sprungbrett, das dürfe sie nicht vergessen. Auch Falltüren gebe es zu beachten, Seilstricke, aber mit ihrer Ausbildung und Erfahrung werde sie bestimmt bald weiterreisen. Ihr Lohn sei überdurchschnittlich, auch für hiesige Verhältnisse exzellent, sagten ihr alle, mit denen sie Zahlen verglich. Sie würde sparen können. Wofür, wusste sie noch nicht.

Richtig gute Tage waren selten, es gab sie nur sonntags. Die meisten Hausangestellten strömten dann zur Stadtmitte. Wenn Betty einigermaßen gut aufgestanden war, ließ sie sich planlos in der Menge treiben und war nicht überrascht, wenn ihr plötzlich ein kleiner, handgeschriebener Zettel gereicht wurde. Eine Menukarte mit drei Gerichten zur Auswahl. Klandestin wurde serviert, was sie flüsternd bestellt hatte. Die Aufpasser der Stadtverwaltung durften nicht mitbekommen, was hier im Nebenerwerb verkauft wurde – in Koffern und Taschen warmgehaltenes Essen, gereicht in kleinen Tupperwares. Wer in einer überfüllten Unterführung massiert wurde, bezahlte nicht direkt. Verstohlen wurden Geldnoten zugesteckt. Betty ging zu Nanay Del, wenn ihr Rücken schmerzte und nach schlaflosen Nächten die Gelenke pochten. Nanay Del war ein neuer Stern am Tantenhimmel. Sie saß leicht erhöht über den sitzenden und liegenden Frauen. Ein kleiner Plastikhocker zeichnete sie aus, von hier aus hatte sie einen Überblick über die Stadt gewonnen. Die Straßenverkäufer holten sie, um im Flüchtlingsheim der Afghanen den lahmen Arm einer Frau zu behandeln. Sie erzählte von der alten Weißen, die in jeden Krieg gezogen war, um davon zu berichten, und Del kommen ließ, wenn ihr der Schreck noch in den Knochen hockte. Del schien alle zu kennen, die sich am Sonntag im Zentrum einfanden und von Abu Dhabi oder London sprachen, wo sie versagt hatten. Tänzerinnen, die nicht müde werden durften. Gläubige. Prinzessinnen. In engen Leggins getarnte Soldatinnen einer Kirche oder Partei. Mütter über Mütter, die Kinder weit weg. Mit einem kräftigen Druck der Schenkel fixierte sie Frauen, die sich auf der Kartonmatte vor sie hinsetzten, um massiert zu werden.

In der »Vita of Betty Wang« steht Nanay Del in einer Reihe mit dem Schüler von Bruce Lee, sie ist Tante und Meister in einem. Auf die Temperaturen des Körpers gab sie besonders acht. Betty presste sie jeden Schmerz aus dem Rücken und verschaffte ihr das Gefühl, hellwach den mangelnden Schlaf nachgeholt zu haben. Eine Ahnung von Verbindung kam zurück und von Übungen am frühen Morgen. Gegen Ende der Behandlung ließ Del ihre Hände ruhig über Bettys Arme gleiten. Sie fuhr mit allen Fingern unter ihr Haar, das damals noch lang über die Schultern fiel. Ein heilsames Streicheln war das, dachte Betty, und ließ es sich gefallen. Sie vermisste Hände, die ihr unter die Bluse fuhren, sehnte sich ungestüm nach einem Moment im Dunkeln, in dem ihr alles wieder zufiel, was im fensterlosen Zimmer abhanden gekommen war. Auch Hongkong musste sich in kleine Zimmer auflösen lassen, Betty wollte hier implodieren. Und tatsächlich lächelten junge Frauen, wenn sie planlos umherstrich, schoben ihr einen privaten Zettel zu, wenn sie geheimes Essen servierten, oder sie kamen ihr strahlend entgegen und reichten ein Pamphlet. Betty ließ sich digital kontaktieren und fand sich ein, wenn eine Verabredung zustande kam. Aber dann gab’s nur verzweifelte Umarmungen, große Beichten, ihre starke Schulter war gefragt, ein mütterlicher Rat. Verweinte Gesichter verschlossen sich, wenn Betty stotternd sagte, was ihr die Brust zu sprengen drohte. Sie hörte von tausend Liebschaften und Dramen, blieb aber ausgesperrt, sprach freundlich Mut zu und sehnte sich doch nach feuchten Schenkeln, hörte ihr Herz viel zu laut schlagen. Ein ums andere Mal hoffte sie peinlich vergebens, sie begann ihre eigene Sehnsucht zu hassen. Es blieb immer nur das Sofa vor dem Klo, das Schnarchen des Patienten, ein stummer einsamer Orgasmus, der nach der ersten Schwingung abbrach; und wenn sie beten wollte, begann sie haltlos zu weinen. Die Kartonböden sogen sich mit kaltem Regenwasser voll, als der Winter über Hongkong hereinbrach. Auch der Sonntag war nun kein guter Tag mehr.

Die »Vita« zählt weitere Prüfungen auf: Dreckluft aus dem Norden der Stadt. Beschimpfungen und böse Gerüchte. Ein Husten brachte Betty fast zum Ersticken. Ein Fieber ging auf Herrn Tan über und ließ ihn nachts halluzinieren. Schweißgebadet kam Betty zur Überzeugung, dass in Honkong alles hochgeschraubt war, selbst die Luft barst vor Energie, besonders der Feinstaub, wenn er in der Lunge explodierte.

Ein rettender Meister blieb aus, Nanay Del blieb machtlos gegen die Schwere, die sich in Betty ausbreitete. Die Nächte waren traumlos, Musik aus Geräten nur leeres Geplärr, der Tantenhimmel verstummte. Es blieb die Erinnerung an eine kleine grüne Wiese vor Hongkong. Betty beschloss, sie zu finden.

An einem klaren Sonntagmorgen begrüßte sie die Tochter von Herrn Tan, übergab den Patienten und ging langsam zum Aufzug. Mit der Bahn fuhr sie zum Stadtrand, folgte dort einem Wegweiser und den grell gekleideten Wanderern. Es dauerte nur eine Viertelstunde, bis sie den Wald betrat, feuchtes Moos roch und leichter ging. Ein Steilhang ließ sie erstmals außer Atem kommen. Schon stand sie vor einem kleinen Altar, mitten im Gebüsch. Frische Früchte waren hier dargebracht worden. Ein kleiner Buddha hielt seinen Bauch. Neben ihm stand Maria, dachte Betty, aber das konnte nicht sein. Das war kein Familienaltar in Manila, hier führte nicht ihre Mutter Regie. Aber Betty war es egal, ob unbefleckte Jungfrau Mutter Gottes oder kinderspendende Guanyin, Bodhisattva der Barmherzigkeit. Ihr wurde leicht ums Herz, als sie die blumenbekränzte Statue sah, da hatte ihr jemand einen Glücksbringer in den Weg geworfen. Sie murmelte einige Sätze, die ihr früher schon einmal Ruhe verschafft hatten. Und dann trat sie über den Wald und wurde fast fortgeblasen vom Wind, der vom Meer hochkam. Sie schien über der Stadt zu verwehen. Weit unten standen die Hochhäuser, jedes ein kleiner Stecken, schön senkrecht in den Boden versenkt. Hongkong wuchs in die Höhe und die Berge wuchsen über die Stadt hinaus. Sie thronten über der Bucht und ließen alles, was da unten war, als kleine Vorstufen erscheinen.

Über dem Wald wuchs Gras, aber keine Wiese. Betty fand sich in einer wild verwehten Steppe, die von Sattel zu Sattel reichte. Sie ging schnell, fliegend, als sei sie ein Kampfmönch gespielt von Jet Li, ein einsamer Kämpfer, der sich vor seinen Feinden in die Berge zurückzieht. Sich sammelt. Den richtigen Moment abwartet, um zurückzuschlagen.

Betty sei mehrmals aus der Stadt geflohen, schreibt Petra in der »Vita«. Sie habe diverse Berge bestiegen, hinter der Stadt und auf den vorgelagerten Inseln. Und mit jedem Berg sei sie mönchischer geworden. Das fensterlose Zimmer wurde zur Zelle. Betty begann Dinge zu verschenken, die im Weg waren. Sie wollte alles weglassen, was nicht zur Zukunft gehörte. Sehnsucht sollte ihr fremd werden. Wenn sie aufbräche, würde ihr ganzer Besitz in einem Schnappsack Platz haben.

Die Angst, in ihrem Zimmer allein zu ersticken, wurde leiser, dünner, langsam verzog sie sich. Betty erinnerte sich an den Schüler von Bruce Lee und ließ die Arme schwer werden. »Alles Blei«, hörte sie ihn sagen, aus einer anderen Welt. Einsam schien er aus Amerika zu sprechen. »Alles Blei«, wiederholte er, und aus den Füßen stieg die Wut auf, die ihn antrieb, schwere Arme zu stemmen. Betty hob ihre Hände und schaute in die offenen Handflächen. »Das sind Spiegel«, hatte der Meister in Manila gesagt. »Schau Dir Deine Fratze an.« Das tat sie, drehte die Hände dann nach außen, die Mittelfinger als stehende Achsen, schnaubend und beidhändig schlug sie zu. Ein unsichtbarer Feind kriegte ihre ganze Wut ab und die Fratze und das Schnauben des Meisters, das sie angenommen hatte.

Weil im Zimmer kein Platz für Schritte war, übte sie stehend. Auf zwei Beinen, dann auf einem Bein. Je schwerer die Arme wurden, desto schneller schnellten sie nach vorn.

Auch die langen Haare wurden ihr zu viel. Aber sie schnitt sie nicht vollständig ab. Es durfte keine Kopfhaut durchscheinen. Blass gekleidete Nonnen hatten sie auf der Straße erschreckt. Das Grau ihrer Gewänder war mit dem Grau der Haut verflossen – ob Chinesinnen oder Weiße, sie waren alle bleich und kahl. Betty wollte sich selbst über den Plüschkopf fahren können. Ihr schwarzer Pelz musste dicht und samtig bleiben. Und weil sie nur noch wenige Kleider hatte, um sich auf der Straße auszuzeichnen, ließ sie sich eine einzelne lange Strähne grellblau färben.

»Man musste sich abheben von den Jogginghosen der Kindermädchen«, hat sie mir selbst erzählt. Als geschlechtsloses Hilfswesen durchs Viertel zu huschen, sei auf Dauer Selbstmord. Man werde bald nicht mehr gesehen und dann mit voller Härte getroffen, wenn – wie aus dem Nichts – ein böses Wort auf einen niedergeht. Deshalb trug sie eine schwarze Hose mit Buntfalte, eine blaue Seidenbluse, wenn nötig einen Regenmantel. Betty markierte die burschikose Chinesin und solange sie den Mund nicht aufmachte, wurde sie als solche erkannt.

Zurück im Feldlager konnte sie von Bergen berichten. In der Unterführung sprach auch Nanay Del von einem Ausflug auf die Insel Lantao. In ihrem zehnten Jahr in Hongkong sei sie da hingefahren. Vor langer Zeit. Dem Riesenbuddha, der dort auf dem Berg thront, sei sie zu Füßen gestanden und von einem Gefühl erfasst worden, das sie nicht kannte, enthoben und mitgenommen sei sie mit einem Mal gewesen, beschenkt. Tagelang habe sie kein Wort gesprochen, als sie von Lantao in ihren Haushalt zurückkehrte. Die Kinder, für die sie zuständig war, mussten damit leben, dass ihre Del eine Weile nur noch Handzeichen gab. Dann habe sie die Sprache wiedergefunden und neu auch die Kraft, mit den Händen zu heilen.

Betty hörte sich die Geschichte an, während Del einer jungen Frau die Schultern massierte. Die hatte ihre Augen geschlossen und schien im Meer der Frauen zu versinken, das sich in die Unterführung ergoss aus den Straßen, die sich in südliche Regionen verwandelt hatten – Luzon, Visayas, Mindanao setzten sich zwischen HSBC und Connaught Road neu zusammen, Tänzerinnen aus den Kordilleren Luzons stampften im Kreis, lachten sich zu und sangen von den Rivers of Babylon. Hoch über allem wurde anglikanisch gebetet, katholisch noch weiter oben, senkrecht fielen die Straßen von den Kirchen zum Meer ab, in engen Abschrankungen pressten sich die Gläubigen hoch und nieder, ein heftiger Verkehr brauste an ihnen vorbei. Die junge Frau schien davon so erschöpft, dass sie mit geschlossenen Augen komatös zwischen Dels Schenkeln hing, ein bisschen weniger Druck und sie wäre hingefallen. Das brachte Nanay Del nicht aus der Ruhe. Sie erzählte vom haushohen Gott auf Lantao, der über allen Regionen throne, den Vogelflug mit Rückenschmerzen und lateinischer Oratio verbinde. Seit jenem Ausflug vor vielen Jahren sehe sie Zusammenhänge, sagte sie, und ungefragt sprach sie von Bettys Vater, der im Unfrieden gestorben war. Bettys Schuld sei das, eindeutig, sie hätte sich rechtzeitig versöhnen müssen. Drum sei sie hier dem alten Herrn Tan zugefallen, um Abbitte zu leisten.

Betty wagte nicht zu widersprechen, aber sie erhob sich, strich ihre schwarze Anzughose glatt, nickte höflich, aber stumm, und entfernte sich rasch. Sie sehnte sich nach einem Berg, auf dem sie allein war. Von Vorsehung und Vätern wollte sie nichts wissen.

Inzwischen geht im Orden die Idee um, Betty sei in Hongkong nicht zufällig auf Petra gestoßen. Ihr ganzes Leben sei auf jene Begegnung und die Klostergründung zugelaufen. Besonders von den Neuen wird die erste Medica sehr verehrt. Über Gebühr, wie sie selbst betont. An Schicksalskräfte glaubt sie nicht. Wer sich den Zufall nicht denken könne, werde dem Atommüll nicht Herr. Die schlimmsten Unfälle zeichnen sich nie vorgängig ab, sie entwickeln sich aus unvorstellbaren Naturkatastrophen oder aus alltäglichen kleinen Störungen, die man lange nicht beachtet. In einer der ersten Lektionen, die nach dem Eintritt der Neuen abgehalten wurden – als große Wiederholung – hat Betty von »freak incidents« gesprochen. Damit sei zu rechnen. Ein wirkliches Ereignis komme überraschend, quer hinein, unerwartet wirkt ein Erdbeben mit heftigster Schneeschmelze zusammen, schon fließt Wasser, wo es nicht sollte. Der Größenwahn eines Ingenieurs ist da noch gar nicht bedacht. Gegen diese Freaks unter den Wirkungen ist eine feste Zeit zu bauen. Ein Bollwerk gegen die Angst. Schöne Routinen. In der Ruhe, die sie schaffen, bleibe der Geist beweglich, sagte uns Betty. Er nehme dann besonders gut wahr und könne alles denken.

Auch vom »prozeduralen Gedächtnis« sprach sie in der großen Runde. Von Automatismen. Und so hörte ich die Geschichte von Herrn Tan, noch bevor Petra die »Vita« geschrieben hatte. Betty sprach von dementen Menschen, die Namen vergessen, immer mehr Orte und Ereignisse durcheinanderbringen, bald von Unbekannten umgeben sind. Herr Tan erkannte manchmal seine eigene Tochter nicht mehr, wenn sie am Sonntag auf ihn aufpasste. Aber eines Morgens stand er in der Tür, die das Allzweckzimmer mit seinem Bett und dem Fenster verband. Er sah Betty zu, wie sie mit den Armen die Luft pflügte und tat es ihr nach. Schon nach wenigen Bewegungen scherte er aus Bettys Routine aus, fiel in einen Ablauf, der seinem Körper tief vertraut war. Herr Tan turnte neben seinem Bett, als sei ein junger Kämpfer in ihm erwacht. Ganz langsam.

Bald wagte sich Betty mit ihm ins Freie. Gemeinsam gingen sie frühmorgens in den kleinen Park, wo sich die Alten sammelten. Vereinzelt und in Gruppen klopften sie sich die Muskeln warm, schwangen langsam ein Schwert oder dachten nur nach. Herr Tan stand jeden Tag fester unter den Bäumen. Er spannte die Arme, als halte er einen Bogen, dann duckte er sich, schützte das Gesicht mit einer Hand, schob vorsichtig den rechten Fuß vor und erhob sich, beide Arme schirmend vor dem Kopf, und dann schlug er zu. Der Unterarm schnellte als Geisel hoch und fiel oben, wo die Knochen des Gegners brachen, in eine kurze Starre. Betty stellte sich hinter den alten Mann und tat ihm alles nach. Sie guckte ihm Formen ab, die sie noch nicht kannte; erweiterte ihre Übung. Bald turnten sie unisono, absolut still.

Bettys Tage begannen zu pulsieren und die Zeit verdichtete sich. Wenn Herr Tan nach dem Mittagessen einschlief, wurde sie nicht mehr schläfrig. Betty las, repetierte Zutaten von Medikamenten und sie ließ sich die alten Schulbücher liefern, die ihr als Kind das Mandarin, die Hochsprache, vergällt hatten. Nachts öffnete ihr der Laptop ein Tor zu alten Schlachtfeldern, künftigen Galaxien und höfischen Gemächern. In phantastischen Welten erkannte sie ein unendliches Ringen zwischen Feuer und Luft, Erde, Metall und Wasser. Sie folgte dem Phoenix und dem Einhorn, der alten Schildkröte, dem Tiger und dem Drachen in eine wild bewegte Zukunft. Jet Li sprach jetzt nicht mehr Englisch, sondern Mandarin. Betty wollte ihn verstehen. Wenn sie Schriftzeichen übte, brauchte das noch weniger Platz als stehend zu turnen. Ein Mensch war mit zwei kurzen Strichen aufs Papier gebracht. Ein dritter Strich, und er hatte sich zum Wort »groß« erweitert. In kleinsten Karrees standen »Himmel«, »Messer«, »Herz«, »Berg« und »Auge«. Als edle Comic-Schrift erschien ihr das Chinesische. Wenn ein Feld und Seidenballen auf dem kleinen Bauern lasteten, hieß das: »müde«. In immer enger verzahnten, präzisen Strichen erweiterte Betty den Menschen um Pflanzen, Drachen, Staub und Seide, sie baute eine Welt auf – und fand Muster, die schon immer da und schon immer schön gewesen waren, als trete sie in ein Spiel ein, das seit Jahrhunderten auf sie gewartet hatte. Antworten stiegen aus ihr selbst auf, sie durfte nur nicht ins Grübeln geraten, nicht bohrend über eine Frage nachdenken, es galt, die Zeichen lange zu betrachten, wegzulegen, und plötzlich war sie da, die Erklärung, warum das genau so sein musste und immer so bleiben würde, von nun an würde sie dieses eine Zeichen nicht mehr vergessen. Die Welt wuchs mit jedem Zug, den sie aufs Papier setzte. Betty eröffnete sich einen Kontinent. Eines Tages würde sie ihn betreten. Wenn ihr die Einsamkeit den Atem abzudrücken drohte, malte sie sich Städte aus, die höher als Hongkong in den Himmel ragten, sie wünschte sich Kollegen und Betrieb, ein Festland. Es wuchs die Gewissheit, dass der Moment zum Absprung nahe war.

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