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Treulose Seelen

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»Ein magischer Schutz ist auf den ersten Blick nicht erkennbar. Trotzdem werde ich sie ungeöffnet den Mitgliedern des Magischen Zirkels überbringen, die sie genauestens unter die Lupe nehmen werden.«

»Ich verstehe. Und was passiert jetzt mit Maki? Werdet Ihr ihn töten?«

»Nein. Wir werden ihn zur Roten Burg bringen. Seine Verletzung ist nicht schwer. Er wird den Transport auf dem Pferd überstehen. Aber ihm wird Hochverrat vorgeworfen und Ihr wisst, was das bedeutet.«

»Bedauerlich«, sagte Barrath leise. »Er schien ein netter Kerl zu sein.«

»Und er hat seine Rolle perfekt gespielt«, ergänzte der Magier.

Ein plötzlicher Schrei ließ sie zusammenzucken. Makithor war unvermittelt aufgesprungen und hatte dem Magier das Kästchen entrissen. Er lief noch ein paar Schritte weiter, dann blieb er taumelnd stehen und drehte sich um.

»Zarthas wird stolz auf mich sein!« Mit diesen Worten öffnete Makithor entschlossen den Deckel der Schatulle. Die Detonation riss das Behältnis und dessen Inhalt in tausend Fetzen, die noch in der Luft Feuer fingen und brennend zu Boden fielen. Makithor blutete aus Dutzenden von Wunden, wo sich die Splitter der Schatulle tief in seinen Brustkorb gebohrt hatten. Seine Hände waren abgerissen und helles Blut schoss pulsierend aus den Stümpfen.

»Und mich bekommt ihr auch nicht!«, stöhnte er und sackte mit verzerrtem Grinsen zu Boden. Wenige Augenblicke später erlosch sein Lebenslicht.

»Verdammt!«, schimpfte Moratho. »Wir waren so nah dran! Und jetzt stehen wir wieder am Anfang!« Nachdenklich betrachtete er den Toten.

»Nein, nicht ganz. Es gibt einen Verräter weniger unter uns«, erwiderte Barrath bedrückt.

»Natürlich, Ihr habt recht.« Mit einem Fingerschnippen setzte er die Leiche in Brand. »Lasst uns zur Roten Burg zurückreiten. Sie warten auf unseren Bericht.«

Ein kurzer Pfiff des Magiers genügte, und sein Pferd trabte aus dem angrenzenden Wald herbei. Schweigend brachen die beiden Männer auf und gingen zurück zu der kleinen Baumgruppe, wo die Pferde der Späher friedlich grasten.

Moratho wirkte ernst, doch der Schein trog. Er fühlte sich in Hochstimmung. Sein Vorschlag zur Enttarnung eines Verbündeten von Zarthas hatte bei Axathor Gehör gefunden und ihm damit die Möglichkeit geboten, seinen Plan umzusetzen: Die geheimen Dokumente hatte er längst in Sicherheit gebracht und niemand würde nach der Explosion der Schatulle weiter nach ihnen suchen. Makithor, der wegen einer heimlichen Liebschaft angreifbar war und für Zarthas somit eine unkalkulierbare Schwachstelle darstellte, war beseitigt, und Moratho selbst war mit der Enttarnung dieses Verräters bei den Magiern des Zirkels über jeden Zweifel erhaben. Zarthas würde zufrieden sein ...

Über Jürgen Schaaf

Jürgen Schaaf wurde im Mai 1956 geboren und wuchs in Frankfurt am Main auf. Sein Ingenieurstudium absolvierte er an der Technischen Hochschule Darmstadt. Im Alter von 27 Jahren zog er nach Miesbach, in der Nähe von München. Dort gründete er mit seiner Frau Sylvia eine Familie mit zwei Söhnen, Andi und Dani. Als Ausgleich zu seinem Beruf in Forschung und Entwicklung fand er seine Entspannung in den Geschichten der Fantasy-Literatur. Schon lange hegte er den Wunsch, seine eigenen Bücher zu schreiben. Sein erster high Fantasy Roman handelt von einem alten Magier und vier Jugendlichen, die gemeinsam versuchen, eine Katastrophe für die Menschheit zu vereiteln (»Der alte Magier«).

www.facebook.com/deraltemagier

Der Dämon von Naruel: Der dritte Hüter

von Janine Prediger

Die laue Abendluft brannte in seinen Lungen wie Feuer, doch Tokir konnte nicht anders als sie dennoch krampfhaft zu inhalieren.

Er trat einen Schritt zurück, kämpfte gegen den Schmerz in seinem Schwertarm an und streckte die Klinge drohend vor sich aus. Das kalte Metall zwischen ihm und seinem Gegner bot Schutz, verhalf ihm, einen ruhigen Moment in all dem Chaos zu finden, den Kontrahenten zu fokussieren. Schweiß und Blut tropfte Tokir in die Augen, sein Herzschlag dröhnte dumpf durch seinen Körper, erinnerte ihn daran, dass die Zeit nicht verharrte.

Mit dem Geschmack des Scheiterns auf den Lippen presste er die Zähne zusammen, um dem herausströmenden Blut den Weg zu versperren. Sein Körper wollte sterben, den zahlreichen Wunden nachgeben, doch Tokir ließ ihn nicht. Das Feuer in seiner Brust flammte hoch empor, stärkte seinen Willen, gab ihm Kraft. Er konnte nicht aufgeben. Nicht ehe die Bestie vor ihm im Staub lag und das Unrecht gesühnt war.

Der Rah-Krieger nahte heran, seine drahtigen Muskeln zu Höchstleistungen angespannt, doch Tokir sah ihn kaum. Die im Abendlicht blutrot schimmernde Lanzenspitze zog all seine Aufmerksamkeit auf sich. Seine Augen verfolgten ihren Flug, kreisend, sich wendend wie der Kopf einer zustoßenden Schlange. Sein Gegner spielte damit herum, scheuchte sie kunstvoll durch die Luft als würde er sie tanzen lassen. Es sollte Tokir verhöhnen, ihm zeigen, dass ihr Kampf seinem Kontrahenten nicht mehr bedeutete als eine Zurschaustellung seines Geschicks, während Tokir selbst um einen sicheren Stand auf dem blutfeuchten Boden rang.

Etliche Übungsstunden, Tage, Wochen bei den besten Schwertmeistern der Walorsteppe schienen unter den warmen Strahlen der untergehenden Sonne dahin zu schmelzen. All die schweißtreibenden Stunden, die unendlichen Wiederholungen, sein Kampfgeschick … in diesem Moment schien Tokir alles zu entgleiten. Nur sein Wille gab ihm noch die Kraft, zu stehen. Das Bild seiner geschändeten Schwester flackerte vor seinem inneren Auge auf, ihre verrenkten Gliedmaßen, die Tränen in den gebrochenen Augen und das blutige Loch in ihrer Körpermitte…

»Bestien!« Tokir schrie das Wort mit all seinem Zorn heraus, spürte, wie ihm der Geschmack von Eisen in den Rachen schoss. In einem unachtsamen Moment hatte ihm einer der Rah-Krieger eine Lanzenspitze durch seinen rechten Lungenflügel getrieben, doch Tokir weigerte sich, das als sein Todesurteil zu akzeptieren. Er konnte nicht aufgeben, noch nicht, nicht ehe er vor den Göttern Gerechtigkeit eingefordert hatte.

Er flehte seinen Körper an, ihm weiter zu gehorchen, noch durchzuhalten, bis das Monstrum aus seinem Versteck treten würde. Wie in Trance taumelten seine Beine in einen stabileren Stand. Tokir umfasste das lederumwickelte Heft mit beiden Händen, mobilisierte alle Kraft, die noch in seinen Muskeln steckte mit einem bitteren Aufschrei, und stürzte sich nach vorn.

Gerechtigkeit! Vergeltung!

Bei dem verzweifelten Angriff triumphierte seine Stärke über das Geschick des Rah-Kriegers. Krachend durchbrach Tokirs Schwertklinge den kunstvoll geschnitzten Schaft und spaltete ihn in zwei Teile. Noch ehe der goldene Lanzenkopf auf den Boden schlug, tauchte das kalte Metall seiner Klinge in die Eingeweide des Gegners. Mit einem knackenden Geräusch zerbarsten Rippen und Wirbel unter seinem Stoß und trieben die Schneide aus dem Rücken des Rah-Kriegers heraus. Keinen Ton brachte dieser im Moment seines Scheiterns über die Lippen, zu sehr hatte ihn der Angriff seines todgeweihten Kontrahenten überrascht.

Tokir entfuhr ein elendiges Keuchen, halb vor Schmerz, halb vor Erleichterung. Seinem Gegner beim Sterben zuzusehen, erfüllte ihn mit Genugtuung, sicherte seinen Seelenfrieden. Er wusste nicht, wie viele Männer er in den vergangenen Minuten gefällt hatte, doch jeder, der die mordlustige Kreatur versteckte oder verteidigte, hatte zweifelsohne den Tod verdient.

Das Blut kratzte in seiner Luftröhre. Tokirs Finger krampften sich um das rutschige Schwertheft, wanden das Metall mit Mühe aus dem zusammenstürzenden Körper des Sterbenden heraus. Mit gehetztem Blick fuhr er herum, wollte sich vergewissern, wie es um den Sieg stand. Doch wo er auch hinsah, erblickte er nur Verderben und Tod. Der Anblick seiner am Boden liegenden Mitstreiter ließ Tokirs Zuversicht schwinden.

Alle, die mit ihm Rache geschworen hatten, waren letztendlich den blutdurstigen Lanzen der Rah-Krieger zum Opfer gefallen.

Selbst Kaerun … Dabei wollte er die Bestie unbedingt niederstrecken …

Tokir war allein, umringt von Dutzenden zornerfüllten Gegnern, die mit ihren Waffen auf ihn zielten.

»Verfluchte Bestienanbeter!«, brüllte er ihnen seinen Zorn und die Verzweiflung entgegen. »Die Götter werden euch alle verfluchen!« Tokir wusste, dass es aussichtslos war, weiterzukämpfen, doch das Verlangen nach Vergeltung, nach Gerechtigkeit und Blut brannte in seinem Innern wie heiße Kohlen. Solange sein Körper ihm noch gehorchte, würde er jeden einzelnen Rah in diesem Dorf seiner Strafe zuführen, wenn es auch die ganze Nacht andauern würde.

Trunken vom Blutrausch fasste er den nächsten Gegner ins Auge: einen jungen Burschen, kaum alt genug, um eine der mit Federn verzierten Rah-Lanze zu halten, doch das machte ihn nicht weniger gefährlich. Diesem wilden Volk sagte man nach, dass sie von Kindesbeinen an lernten, mit ihren Waffen zu jagen, zu kämpfen und zu töten.

Ein durchdringendes Brüllen ließ Tokir plötzlich herumfahren und weckte Hoffnung gleich wie Furcht in ihm. Sollte er die verfluchte Bestie doch noch aus ihrem Versteck hervorgelockt haben?

Vergönnen mir die Götter, Rache zu nehmen, bevor ich sterbe?

Er versuchte den Ursprung des Geräuschs zu lokalisieren, seine Augen sprangen zwischen den Kriegern hin und her, suchten im Abendschein das Monstrum, welches ihm seine Schwester genommen hatte. Doch als er es schließlich zwischen den langen Schatten der umstehenden Bäume fand, versagten Tokirs Beinmuskeln ihren Dienst.

 

Es hieß, die Rah hätten sich einem düsteren Gott verschrieben, huldigten und opferten ihm zum Vollmond in barbarischen Ritualen Menschen. Doch all die Beschreibungen und Gerüchte, die zur Walorsteppe vorgedrungen waren, hatten Tokir nicht auf die dämonische Gestalt vorbereiten können, die sich nun bedrohlich langsam aus dem Zwielicht der Lehmhütten schälte.

Ein dichter sandfarbener Pelz überzog die Haut des falschen Gottes. Wie ein Mensch bewegte er sich auf zwei kräftigen Beinen auf ihn zu, doch der rastlos umhergleitende Schweif und die braune Mähne, die seinen Körper bis zur Mitte der Brust einhüllte, verrieten seine wahre Herkunft. Weder die bronzenen Reife, die er als stolzen Schmuck um die Oberarme trug, noch das Tuch aus weißer Seide, welches seinen Unterleib bedeckte, konnten für Tokir die Illusion von Menschlichkeit erzeugen. In der goldenen Iris, welche die Pupillen der Bestie umgab, konnte er das Feuer der Hölle brennen sehen.

Die Götter stehen mir bei …

Er sah noch, wie die Kreatur die Lefzen hob, die fingerlangen Reißzähne angriffslustig entblößte, doch die Finsternis fand schneller zu ihm, als Tokir seinen Schwertarm heben konnte.

***

Von weit her rollten Worte durch die Dunkelheit, durchdrangen seinen Kopf wie ein Schwarm Fliegen. Als Tokir nach der Quelle des Lärms suchte, begann die Finsternis vor ihm quälend langsam zu weichen. Farben und Formen tanzten aus der Ferne heran. Einen Moment glaubte er, betrunken zu sein, dann aber nahmen die verschwommenen Eindrücke Kontur an. Das Brennen in seiner Luftröhre und der Schmerz in seinem Brustkorb kehrten zurück. Er hörte seinen eigenen Atem, pfeifend und rasselnd inhalierte er das Leben. Als aber die Erinnerung an das zuletzt Gesehene zu ihm zurückkehrte, traf sie ihn wie einen Schlag, überschüttete seinen Körper mit Kälte und Hitze zugleich.

Die Bestie!

Tokir krallte die Finger seiner Schwerthand zusammen, nur um entsetzt festzustellen, dass er sie in den Sand grub. Von seiner Waffe fehlte jede Spur. Panik flutete seinen Körper, doch seine Muskeln gehorchten dem Ruf nicht, verweigerten sich seinem Befehl. Der Anblick der löwenköpfigen Kreatur schien sämtliche noch verbliebene Kraft aus ihnen herausgesaugt zu haben. Tokir war orientierungslos, paralysiert, er glaubte, noch immer in einem furchtbaren Albtraum gefangen zu sein.

»Richtet ihn auf.« Wie eine glühende Klinge durchschnitt die fordernde Anweisung seine wirren Gedanken. Im selben Moment spürte Tokir schon kräftige Hände an seinen Schultern, die seinen Körper in eine kniende Position zwangen. Erst jetzt bemerkte er, dass er am Boden zusammengesunken sein musste. Die Erde trank gierig sein Blut, saugte es auf, als könne sie sich seine Seele damit einverleiben. Und Tokir betete zu den Göttern, dass es ihr gelingen würde.

Soweit er seine Gedanken ordnen konnte, hatten die Rah ihm nicht die Ehre gewährt, im Kampf zu sterben. Weder die Bestie noch die Krieger hatten seinem Leben ein Ende bereitet. Das konnte nur bedeuten, dass sie Schlimmeres für ihn vorgesehen hatten.

Voll Furcht dem unheiligen Monstrum erneut ins Auge sehen zu müssen, hob er den Blick. Doch statt in die goldenen Augen der dämonischen Löwengestalt zu blicken, starrte ihm das von Falten zerfurchte Gesicht eines altgewordenen Mannes entgegen. Der Federschmuck und die goldenen Ringe, die an seinen viel zu langen Ohrläppchen baumelten, enttarnten ihn ohne Zweifel als Anführer dieser gottlosen Sippe.

»Warum?«, richtete dieser nun die kratzige Stimme an Tokir. Es klang beinah als kämpfte er mit einem widerspenstigen Käfer in seinem Hals. »Warum hast du unser Dorf angegriffen?« Für seine Antwort musste Tokir keine Sekunde überlegen.

»Rache!«, spuckte er die Worte zusammen mit ein paar Spritzern verklumptem Blut vor die nackten Füße des Rah-Häuptlings. Er hatte nichts mehr zu verlieren, wollte, dass sie es schnell zu Ende brachten, damit er Tiasa im Jenseits um Vergebung für sein Versagen bitten konnte. Die Schlacht war verloren, seine Mitstreiter tot, er selbst entwaffnet und am Boden.

»Ja, Rache wütet in dir wie ein Feuer, Schwertmeister. Doch sage uns, was einer der meinen den deinen angetan haben soll, dass du dich so davon verzehren lässt und dich und deine Freunde dafür ins Verderben stürzt?« Die ruhige Stimme des Stammesführers kam Tokir wie ein gut versteckter Hohn vor. Schließlich wussten die Rah ganz genau, was für ein bestialisches Verbrechen sie begangen hatten. Die scheinheilige Frage weckte nichts als rasende Wut in Tokir.

»Ihr wagt es noch zu fragen? Ihr habt die Götter verraten, habt euch diesem Ungetüm verschrieben, opfert ihm Menschen, Unschuldige! Ich habe die Bestie gesehen, ihre Klauen und Zähne!« Einmal die Anklage ausgesprochen schwemmte sein Zorn die Worte nur so aus seinem Innern hervor. »Ihr habt meiner Schwester das ungeborene Kind aus dem Leib gestohlen, um es an euren falschen Gott zu verfüttern! Oder hat das Monster es gleich eigenhändig aus ihrem Körper gerissen!?«

Der schlimmer werdende Schmerz in seiner Brust zwang Tokir innezuhalten. Die Worte zu sprechen bereitete seinem lädierten Körper Qualen, doch unausgesprochen schmerzten sie noch schlimmer. Er spürte Feuchtigkeit in seinen Augenwinkeln, wusste nicht ob es Blut, Schweiß oder Tränen der Verzweiflung waren, die hervorbrechen wollten.

»Du berichtest von einem schlimmen Verbrechen. Dir und deiner Schwester wurde großes Leid zugefügt-«

»Ihr!« Mit seinem wütenden Aufschrei unterbrach er den Häuptling. »Eure Bestie war es!« Tokir glaubte sein Herz müsse explodiert sein, so heftig trat das Blut plötzlich aus seiner Wunde aus, netzte seinen Harnisch, färbte das Leder dunkel. Die Welt um ihn herum verschwamm einen Augenblick im Nebel. Erst die Stimme eines zweiten Mannes konnte Tokirs Aufmerksamkeit zurück ins Hier und Jetzt locken.

»Ich habe deine Schwester nichts angetan.«

Spricht da die Bestie!?

Wie im Wahn reckte Tokir den Kopf nach der Stimme. Doch unter den versammelten Rah-Kriegern fand er das Monster seiner Albträume nicht. Nur ein großgewachsener Mann, dessen wildes Haar entfernt an eine Löwenmähne erinnerte, stach unter den Anwesenden hervor. Tokir verstand nicht. Er wusste nicht, ob seine Sinne ihm Streiche spielten. Hatte die Bestie überhaupt existiert oder hatte der Blutrausch ihn unmögliche Dinge sehen lassen? Hatte er sich die Stimme womöglich nur eingebildet?

Tokir sah genauer hin und plötzlich gossen die Götter die grausame Erkenntnis wie eisiges Wasser über ihn aus:

Mähne, Schweif und Fell waren verschwunden, doch seine goldenen Augen verrieten den Hünen als den falschen Gott, der er war. Er mochte sich die Haut eines Menschen angelegt haben, um nun unbemerkt unter den Rah-Kriegern wandeln zu können, doch Tokir konnte er nicht täuschen.

Mit einem Aufschrei rappelte der Schwertmeister sich auf, ignorierte den Schmerz, die Last, alles, was seinen Körper am Boden fesseln wollte.

Er muss sterben! Für das, was er getan hat, muss er sterben!

Einer der Rah-Krieger stürzte herbei, um Tokir aufzuhalten. Doch dieser stieß ihn zur Seite, prügelte ihn mit seinen bloßen Fäusten nieder. Nichts konnte ihn aufhalten. Er wollte, musste den Mann mit den goldenen Augen um jeden Preis erreichen, ihm die Hände um die Kehle legen und das Leben aus ihm wringen, solange noch ein Funken Kraft in seinem Körper steckte, solange er sich dem ewigen Schlaf noch nicht ergeben hatte.

Ein zweiter und dritter Rah-Krieger rangen ihn schließlich zu Boden, ehe Tokir sein Ziel erreichen konnte.

Er spürte die staubige Erde mit seinem Gesicht kollidieren, unzählige Hände drückten ihn herab. In seiner Wut brüllte er auf, schlug und trat nach ihnen, doch letztendlich zwangen die Erschöpfung und das heiße Brennen seiner Verletzungen Tokir zur Ruhe.

Keuchend rang er nach Atem, die Welt um ihn herum schien sich zu drehen. Farben begannen zu zittern, Konturen zu tanzen. Sein Herzschlag dröhnte in seinem Kopf wie Donnergrollen. Anstatt Luft schienen seine Lungen nur noch einen dünnen Hauch in seinen Körper zu saugen. Nichts wollte mehr funktionieren. Kälte griff nach ihm, legte sich um seine Mitte wie Hände aus einem eisigen Grab.

Nein, nein… ich darf noch nicht gehen!

Krampfhaft klammerte sich Tokir an seinem Bewusstsein fest. Sein Ziel war so nah und gleichzeitig so fern. Wenn er jetzt dem pochenden Schmerz nachgeben würde, würde er nie wieder aus dieser Ohnmacht erwachen, dessen war er sich sicher.

Mit verschwommenem Blick nahm er wahr, wie die Bestie, die sich ganz offensichtlich in der Haut eines Menschen versteckt hatte, bedacht an ihn herantrat und sich schließlich zu ihm hinabkniete.

»Ich habe deiner Schwester nichts angetan«, wiederholte die Kreatur mit sanfter Stimme und strich Tokir das verklebte Haar aus der Stirn. »Derjenige, der dieses Verbrechen begangen hat, hat seine Strafe bereits erhalten, Schwertmeister. Er zog heute mit dir in den Kampf und starb an deiner Seite.« Dieser Äußerung stieß Tokir sauer auf. Wie konnte die Bestie es nur wagen, das Andenken seiner Mitstreiter mit solch irrsinnigen Anschuldigungen zu beschmutzen?

»Das glaube ich nicht …« Als eine letzte Gegenwehr tropften die Worte von Tokirs Lippen. Er glaubte gar nichts mehr, was ihm seine Sinne vorspielten, und schon gar nicht, was das Monster ihm einzuflüstern versuchte.

Der Tod ruft nach mir… Ich kann meinen Augen nicht mehr trauen und meinen Ohren ebenso wenig…

»Was bist du?« Er hatte diese Frage gar nicht stellen wollen, sie war aus ihm herausgeflossen wie all das Blut und das Leben, das sein Körper nicht mehr in sich halten konnte. Am liebsten hätte Tokir sich aufgebäumt und seine Klinge in das Gesicht seines Gegenübers gestoßen, doch die Stärke zweier Rah-Krieger hielt ihn eisern am Boden, während seine eigene ihn endgültig verlassen hatte.

»Das ist Kashir«, hörte er die schnarrende Stimme des Häuptlings an seine Ohren tanzen, »er ist ein Cyral, ein Sohn der Götter. Die seinen sind uns nicht feindlich gesinnt.«

»Lüge!« Unter Krämpfen stieß Tokir das Wort heraus. Er wollte nichts von diesen Ausflüchten hören. »Ihr verratet die Götter, wenn ihr seine Lügen glaubt, das ist eine Bestie! Sie hat Tiasa getötet! Und jetzt trägt sie die Haut eines der euren! Seht doch hin!« Jedes Wort kostete Kraft, verkürzte die Lebenszeit, die ihm noch blieb, doch sie mussten heraus, glühten in ihm wie rot leuchtende Kohlen.

»Du bist stark, Schwertmeister, aber doch unterliegst du der Schwäche der Menschen«, tadelte ihn der falsche Gott und hob sich vor Tokir in den Stand zurück. »Ihr glaubt, was ihr glauben wollt, seht nur, was ihr sehen wollt: Chaos wo Ordnung herrscht, Bestien wo Götter sind. Ihr erwartet Feinde, wo Freunde auf euch warten und seht die Feinde nicht unter euren Freunden. Aber sei beruhigt, diese Haut gehört ganz allein mir!«

Entsetzt verfolgte Tokir, wie plötzlich sandfarbenes Fell aus der Haut des Mannes zu sprießen begann. Sein Gesicht verformte sich zu einer Schnauze, lange Zähne wuchsen darin. Finger formten sich zu Pranken, die dunkle Mähne begann seinen Löwenkopf zu umwuchern …

Tokir konnte nicht anders, als die Wandlung fassungslos mit anzusehen, bis sich wieder jene Bestie vor ihm befand, die er vor seinem Fall erblickt hatte. Ihm wurde schlecht und gleichzeitig schien sich eine klaffende Leere in seinem Innern zu öffnen.

Unfähig ein Wort zu sprechen glotzte er die Kreatur an, wollte, aber konnte den Blick nicht von ihrer ebenso furchteinflößenden wie unmöglichen Erscheinung abwenden.

»Akzeptiere, was du siehst, Schwertmeister!«, forderte ihn die Bestie auf. »Ihr seid diejenigen, die in ihrer Torheit die Götter verraten haben, indem ihr begonnen habt, uns zu jagen, jene, die Frieden mit euch schließen wollen, jene, die diese Welt schon länger durchstreifen, als die Menschheit alt ist.«

Tokir schüttelte mit Mühe den Kopf, doch die Stimme der Bestie hallte in seinem leergefegten Schädel nach:

»Die Menschen breiten sich bis in die letzten Winkel dieser Welt aus und glauben, mit uns Cyralen um das Land streiten zu müssen. Überall in Naruel werden die meinen geschlachtet und als Unwesen vertrieben. Wie auch heute schreibt ihr eure eigene Grausamkeit anderen zu, weil ihr nicht einsehen wollt, zu was für Taten ihr Menschen fähig seid. Ihr seid die Monster, die Bestien, die Verräter!«

 

Am liebsten hätte Tokir die Ohren vor den dröhnenden Lügen verschlossen, doch wenn auch alles an der Welt dumpf und weniger greifbar wurde, so klangen die Worte der Bestie klar und deutlich an seine Ohren. Sie schienen geradewegs aus dem Inneren seines Kopfes zu ihm zu finden.

»Soll er gerichtet werden?« Die Stimme des Rah-Häuptlings mischte sich unter die anklagenden Worte der Kreatur, doch zu Tokirs Überraschung verneinte diese.

»Nein …« Die Entscheidung des selbsternannten Gottessohnes ließ Tokir schmunzeln. Er war ohnehin dem Tod geweiht, würde das alles bald hinter sich haben. Doch die Bestie schien das anders zu sehen.

»Du stirbst heute nicht, Schwertmeister. Die Götter sagen, so heiß wie dein Feuer für den Zorn und die Rache brennt, ebenso heiß brennen dein Wille und dein Mut. Du bist verbohrt, verblendet von einer verschleierten Sicht auf die Wahrheit der Welt. Lass mich diesen Schleier fortbrennen, denn von allen Elementen, aus denen meine Väter dich schufen, wütet das Feuer am stärksten in dir. Es ist gleichwohl das Beste an dir.«

Tokir verstand nichts von dem, was die Bestie so andächtig verlauten ließ. Sein Hirn hatte aufgegeben, einen Zusammenhang zwischen den Silben zu finden. Einzelne Worte kreiselten wie in einem Sturm durch seine wirren Gedanken und ergaben doch keinen Sinn:

Feuer, Mut, Hoffnung, Wille, das Beste …

Plötzlich spürte er, wie sich eine angenehme Wärme über seine Haut legte und seinen zerschlagenen Körper einem wohltuenden Sommerregen gleich hinabströmte.

Werde ich etwa gerettet? Zeigen die Götter Erbarmen?

Die Illusion von Hoffnung währte nur kurz. Als Tokir den verschwommenen Blick auf seine Hände fokussierte, erkannte er, dass nicht die Gnade der Götter ihn benetzte, sondern Öl von seinen Fingern hinabrann. Die Rah-Krieger, die ihn am Boden gehalten hatten, hatten sich zurückgezogen, um ihm und der Bestie Platz zu machen. Tokir sah die brennende Fackel in den Pranken der löwenköpfigen Kreatur. Obwohl eine Panik, ein innerer Instinkt, in ihm aufzuwallen drohte, konnte sein Verstand nicht begreifen, was dieser Anblick verhieß.

Alles schwamm ihm fort, seine Augen sahen nur noch eine tanzende Wand aus Flammen, sein Körper fühlte nur noch Hitze und in seinem Kopf klangen die Worte der Bestie, als wollten sie seinen Schädel sprengen:

»Die Götter strafen dich für deine Taten, Mensch. Aber sie belohnen dich auch für deinen Mut und deine Stärke. Du bist ausgewählt worden, dem Feuer als Gefäß zu dienen…«

Flammen breiteten sich über Tokirs Haut aus, tanzten auf seinen Armen, auf seinen Händen. Ihre Hitze trieb die Kälte in seinem Inneren fort, fraß sich tief in ihn hinein und stieß tausend geschärfte Zähnen in sein Fleisch.

Die laue Abendluft brannte in seinen Lungen wie Feuer. Flammen schlugen in seinen Rachen, füllten sein Inneres mit heißer Glut, füllten seinen Kopf mit Bildern: Tokir sah seinen Freund Kaerun vor sich, ein Messer hinter seinem Rücken. Im Schein einer Lampe stach er es Tiasa immer und immer wieder in den Leib, um ihre Todesumstände so bestialisch wie möglich aussehen zu lassen. Tokir sah es, als wäre er dabei gewesen, als wäre die Flamme in der Lampe Zeuge dieser Bluttat geworden. Was sie gesehen hatte, enthüllte für ihn die grauenhafte Tat seines Mitstreiters als jenen schrecklichen Verrat, der sie alle in den Krieg gegen die Rah getrieben hatte.

Die Erkenntnis, dass Kashir ihm keine Lügen erzählt hatte, erschütterte Tokir zutiefst. Er wollte schreien, wollte den inneren Schmerz aus sich herausschreien, die Enttäuschung, die Wut. Doch es war zu spät, sein verkohlter Körper entglitt ihm. Mit seinem letzten klaren Gedanken flehte Tokir die Götter um Vergebung an, bevor auch dieser Teil von ihm verging.

Seine Sinne,

sein Körper,

sein Denken,

sein Name,

die Erinnerung an Tiasa und seine Rache,

sein gesamtes Bewusstsein,

die rasende Wut,

die Verblendung,

die Verzweiflung,

das Andenken an das, was er einst war,

die Fesseln seines menschlichen Daseins,

selbst die Schmerzen …

Das alles löste sich in Rauch und Flammen auf, schmolz, verbrannte mit ihm, bis nichts mehr von Tokir blieb, außer dem heißbrennenden Feuer in seiner Brust.

Nach Ewigkeiten des Dämmerschlafes lockte eine Stimme das Feuer aus tiefer Dunkelheit, aus den Ruinen, die ein Teil von ihm einmal bewohnt hatte. Es folgte dem Klang der Stimme, sie zerrte es heraus aus dem Schatten, heraus aus der Sphäre des Vergänglichen. Und als es seine neuen Augen öffnete, kam es dem Feuer vor, als würde es die Herrlichkeit Naruels zum aller ersten Mal erblicken. Es besaß einen Körper, ein Gefäß, in dem es wohnen konnte. Es hörte durch menschliche Ohren, was der Cyral ihm verriet:

»Stimmen werden laut, dass die Menschen in ihrer Vermessenheit ein großes Unheil heraufbeschwören. Doch alles Menschliche an dir wurde durch die Flammen verzehrt, es ist zu einer Hülle für dich geworden, die du abstreifen kannst, wann immer es dir beliebt. Du bist als ein neues Wesen wiedergeboren worden, als Hüter eines Elements. Als dritter von sieben sollst du Sorge tragen, dass das Gleichgewicht in Naruel gewahrt und das drohende Unheil abgewendet wird. Erhebe dich aus der Asche und empfange von den Göttern deinen Namen und deine Bestimmung, Selsba, Hüter des Feuers.«

Das Feuer folgte dem Ruf, es ließ die schwarzgebrannte Erde hinter sich, bewegte sich mit kräftigen Beinen auf den Cyral zu. Es kannte seinen Namen, kannte seine Aufgabe. Mit einer geschmeidigen Bewegung griff es nach der Lanze, die Kashir ihm als Waffe darbot und stemmte dessen Schaft auf den Boden.

»Ich werde mein Bestes geben«, sprach es mit Tokirs Stimme.