Einführung Somatoforme Störungen, Somatische Belastungsstörungen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Beispiel für eine somatoforme Symptomatik mit somatischen und psychischen Faktoren

Die Patientin beschreibt einen seit etwa 20 Jahren bestehenden und stark ausgeprägten „Ganzkörperschmerz“. Vorbeschrieben sind diagnostisch eine zervikale Stenose mit Zervikalsyndrom (Einengung des Wirbelkanals im Halsbereich, die mit Beschwerden einhergeht) und eine chronische Lumbago (chronische Schmerzen im unteren Rücken). Es bestehen diverse psychosoziale Belastungsfaktoren (Tod des Vaters, Eheprobleme) sowie biografisch belastende Lebensereignisse. Die Stimmungslage der Patientin ist gedrückt, sie fokussiert stark auf die Schmerzen und orientiert ihren Alltag daran. Bisherige orthopädische und physiotherapeutische Behandlungen waren wenig entlastend.

Die angemessene organmedizinische Abklärung der Symptomatik ist dabei Aufgabe des Haus- oder Facharztes. Da die Interpretation medizinischer Befunde vom Fachwissen, der Erfahrung und der Einschätzung und Interpretation der Ärztinnen und Ärzte abhängig ist und sich zudem das medizinische Wissen durch neue Forschungsergebnisse ständig aktualisiert und erweitert, ist die Unterscheidung „organisch bedingter“ versus „nicht organisch bedingter“ Körperbeschwerden tatsächlich nur schwer zu treffen (Kap. 5). Darüber hinaus wurde im Zusammenhang mit der Diagnosekategorie der somatoformen Störungen immer wieder bemängelt, dass eine klare Trennung zwischen „körperlich“ und „psychisch“ auch angesichts der schwachen Zusammenhänge zwischen pathophysiologischen Veränderungen und subjektiven Beschwerden wenig haltbar ist (Mayou et al. 2005).

In den aktuellen Diagnosesystemen DSM-5 und ICD-11 wurde mit der Diagnose der somatischen Belastungsstörung diese Dichotomie entsprechend verlassen; die Ätiologie der Körpersymptome spielt nun für die Diagnosestellung keine Rolle mehr.

somatische Erklärbarkeit nicht mehr relevant

In Fällen, bei denen Patientinnen und Patienten mit einer somatisch definierten Diagnose auch die Kriterien für eine somatische Belastungsstörung erfüllen, können beide Erkrankungen parallel diagnostiziert werden (APA 2013). Der Schlüssel zur Entscheidung, ob bei einem Patienten oder einer Patientin mit einer definierten somatischen Erkrankung auch eine somatische Belastungsstörung vorliegt, liegt in der Feststellung, ob die kognitiven, emotionalen und verhaltensbezogenen Reaktionen auf die medizinische Erkrankung bzw. die damit assoziierten Symptome im Vergleich zu den meisten anderen Patientinnen und Patienten mit dieser medizinischen Erkrankung übertrieben, übermäßig oder dysfunktional erscheinen.

Relevanz psychischer Reaktionen auf Symptome

Funktionseinschränkungen (z. B. zwischenmenschliche, berufliche und körperliche Beeinträchtigungen) sind bei Patientinnen und Patienten mit einer medizinischen Erkrankung und zusätzlich vorliegender somatischer Belastungsstörung in der Regel größer als bei Patientinnen und Patienten, bei denen alleine die medizinische Erkrankung vorliegt (Levenson et al. 2018).


Beispiel für eine somatische Belastungsstörung bei organmedizinischer Komorbidität

Bei der Patientin (43 J.) wurde vor drei Jahren Brustkrebs diagnostiziert. Sie wurde leitliniengerecht durch eine Operation, Strahlen- und Chemotherapie behandelt und befindet sich aktuell in einer antihormonellen Anschlusstherapie mit einem Aromatasehemmer. Dabei beklagt sie Gelenkschmerzen, die Nebenwirkungen dieser Medikation sein könnten, aber auch andere Körperbeschwerden wie starke Kopfschmerzen. Gleichzeitig hat sie große Sorge bezüglich einer Wiedererkrankung. Die Krankheitsängste sind nahezu immer vorhanden und belasten ihren Alltag.

Bezüglich der somatischen Komorbidität bei somatischen Belastungsstörungen lassen sich bisher keine gesicherten Angaben machen. Da die Diagnosen in DSM-5 und ICD-11 erst 2013 bzw. 2018 veröffentlicht wurden, gibt es bisher noch keine ausreichende Datenbasis für die Schätzung von Komorbiditätsraten. Aus dem Bereich der somatoformen Störungen lassen sich Ergebnisse nur schwer übertragen, weil diese noch auf dem Prinzip der „Ausschlussdiagnostik“ organischer Erkrankungen beruhen.

Es sei an dieser Stelle außerdem angemerkt, dass die Zuverlässigkeit der von Patientinnen und Patienten selbst angegeben Diagnosen bezogen auf ihre aktuellen Beschwerden wie auch von Erkrankungen in der Vorgeschichte kaum untersucht ist.


Einer ersten kleineren Studie mit Patientinnen und Patienten aus der Neurologie zufolge, konnten nur 22 % der angegebenen früheren Vorerkrankungen bestätigt werden, wenn die Patienten an „unerklärten Beschwerden“ litten, aber 80 %, wenn die Beschwerden tatsächlich organmedizinisch erklärt werden konnten (Schrag et al. 2004).

Möglicherweise sind also eigenanamnestische Angaben von Patientinnen und Patienten mit „unerklärten Körperbeschwerden“ eher unpräzise.

körperliche und psychische Belastungen erfragen

Die aktuelle AWMF-Leitlinie zum Umgang mit Patienten mit nichtspezifischen, funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden“ (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften 2018) empfehlen Behandlerinnen und Behandlern daher, während der Anamnese immer auch gegenüber versteckten Hinweisen auf körperlich oder psychisch wirkende Belastungen aufmerksam zu sein und gegebenenfalls aktiv nachzufragen (Müller et al. 2000; Salmon et al. 2004; Epstein et al. 2006). Damit gilt es nicht zuletzt zu vermeiden, dass komorbide psychische Erkrankungen übersehen werden und Fehldiagnosen gestellt werden, die zu weiteren Belastungen und gefährlichen Krankheitsverläufen führen können (Kouyanou et al. 1997; Page / Wessely 2003).

2.2.4 Suizidalität bei somatoformen und funktionellen Körperbeschwerden

Vor allem bei Patientinnen und Patienten mit einer schwereren Belastung durch funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden sollte ein erhöhtes Suizidrisiko beachtet werden. Lange Zeit wurde das Risiko dieser Patientinnen und Patienten für Suizidgedanken und eine latente oder manifeste Suizidalität eher unterschätzt.


Aktuelle Studienergebnisse belegen aber, dass bei etwa 50 % der Patientinnen und Patienten passive Todeswünsche vorkommen, konkrete Suizidgendanken bei rund einem Drittel und sogar 13-18 % der Patientinnen und Patienten mit somatoformen Störungen einen früheren Suizidversuch berichten (Wiborg et al. 2013; Kämpfer et al. 2016; Guipponi et al. 2017).

Risikofaktoren für Suizidalität

Als spezifische Risikofaktoren gelten dabei eine lange Beschwerdedauer, eine hohe Beschwerdeintensität, eine hohe Belastung durch die Beschwerden und die Art und Anzahl der Beschwerden und Komorbiditäten, wobei Patientinnen und Patienten mit depressiven Begleiterkrankungen besonders gefährdet sind (Wiborg et al. 2013). Auch Einschlafstörung und ein Katastrophisieren der Symptome gelten als Risikofaktoren (Tang / Crane 2006). Am besten untersucht ist der Zusammenhang zwischen Suizidalität und chronischen Schmerzen. Diese stellen für sich genommen einen Risikofaktor für Suizidalität dar (Fishbain 1999; Ilgen et al. 2010). Neben diesen spezifischen Risikofaktoren gelten selbstverständlich auch bei funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden die allgemeinen Risikofaktoren für Suizidalität. Dazu gehören weibliches Geschlecht, eine schwere Depression, Hoffnungslosigkeit, Konkretheit der suizidalen Vorstellungen, Vorbereitungen zur Suizidhandlung, ein vorangehender Suizidversuch, Suchtverhalten sowie Suizidalität in der Familienanamnese (Fishbain et al. 2009; Tang / Crane 2006; Smith et al. 2004).


Grundsätzlich sollte bei allen Patientinnen und Patienten mit somatoformen oder spezifischen funktionellen Syndromen immer eine mögliche Suizidalität im Rahmen ärztlicher / therapeutischer Konsultationen beachtet werden.


Retrospektive Daten von n=29 Patientinnen und Patienten mit Somatisierungsstörung (diagnostiziert nach strukturiertem klinischen Interview für DSM-IV (SKID-I); Kap. 5) aus einer psychiatrischen Ambulanz in Norwegen zeigten bei 28 % eigenanamnestischen Angaben zufolge einen Suizidversuch in der Vergangenheit. Bei n=91 Patientinnen und Patienten ohne somatoforme Diagnose lag diese Rate bei 11 %, und zwar auch nach Kontrolle für depressive Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen (Chioqueta / Stiles 2004). In einer amerikanischen Studie aus einer psychiatrischen Praxis, die n=54 Patientinnen und Patienten mit Somatisierungsstörung (diagnostiziert nach DSM-III-Kriterien) und sekundärer Depression im Vergleich mit n=29 Patientinnen und Patienten mit primärer Depression verglich, fanden sich bezogen auf die Lebenszeit bei 83 % versus 59 % passive Suizidgedanken, bei 80 % versus 55 % aktive Suizidgedanken und bei 65 % versus 31 % Suizidversuche. Multiple Suizidversuche lagen dabei bei 41 % der Patientinnen und Patienten mit Somatisierungsstörung und lediglich 3 % der Patientinnen und Patienten mit primärer Depression vor (Morrison / Herbstein 1988).

 

Bevölkerungsbasierte Studien belegen auch bei Fibromyalgie ein erhöhtes Risiko für Suizidgedanken, -versuche und tatsächlich vollzogene Suizide (Calati et al. 2015; Lan et al. 2016). Zwei prospektive Kohortenstudien konnten zeigen, dass die somatische Mortalität bei Patientinnen und Patienten mit Fibromyalgie nicht erhöht ist, jedoch die Suizidrate. Im Vergleich mit der Allgemeinbevölkerung war bei Fibromyalgie die Odds Ratio (OR, Chancenverhältnis) für die altersstandardisierte Suizidmortalität erhöht; hier finden sich Zahlen aus Dänemark (n=1361; OR=10,5; 95 % CI: 4,5–20,7; Dreyer et al. 2010), und den USA (n=8186; OR=3,31; 95 % CI: 2,15–5,11; Wolfe et al. 2011).

Im Bereich Chronic Fatigue Syndrome lassen sich ähnliche Ergebnisse finden. Bei n=166 Verstorbenen mit der Diagnose eines Chronic Fatigue Syndrome in der Vorgeschichte wurde neben den Todesursachen Herzversagen (20 %) und Krebs (19 %) als häufige Todesursache auch der Suizid mit 20 % beschrieben (Jason et al. 2006). In einer Follow-up-Erhebung von bis zu 14 Jahren erhöhte eine gleichzeitig vorliegende Major Depression die Suizidrate bei Chronic Fatigue Syndrome signifikant (Smith et al. 2006).

Beim Reizdarmsyndrom besteht ebenfalls ein erhöhtes Risiko für Suizidalität, wobei dieses teilweise etwas geringer ist als bei anderen chronischen abdominellen Schmerzen (Spiegel et al. 2007). In einer retrospektiven Kohortenstudie aus Großbritannien, in der Patientinnen und Patienten mit Reizdarmsyndrom mit Patientinnen und Patienten mit einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung verglichen wurden, fanden sich jedoch bezogen auf die Lebenszeit bei insgesamt 19 % der Patientinnen und Patienten mit Reizdarm im Vergleich zu 15 % der Patientinnen und Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen aktive Suizidgedanken. Suizidversuche berichteten insgesamt 2 % aller Patientinnen und Patienten mit Reizdarmsyndrom und 1 % der Patientinnen und Patienten mit einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung (Miller et al. 2004).

mögliche Erklärungen erhöhter Suizidalität

Als mögliche Erklärungen der Suizidalität lassen sich vor allem eine beschriebene Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit bezüglich der Symptomatik nennen, aber auch der Wunsch, den Symptomen zu entkommen, sowie ein dysfunktionales Problemlöseverhalten, wie z. B. Vermeidungstendenzen (Miller et al. 2004, Tang / Crane 2006).

Generell sucht die Mehrzahl der Patientinnen und Patienten vor einem Suizid Kontakt zum Gesundheitssystem (Luoma et al. 2002). Um diese gefährlichste Komplikation also auch bei somatoformen und funktionellen Körperbeschwerden nicht zu übersehen und die Patientinnen und Patienten gut zu schützen, muss Suizidalität bedacht, durch Screeningfragen erfasst und in einem Gespräch überprüft werden. Gegebenenfalls müssen Handlungsmaßnahmen abgeleitet werden (Empfehlung der AWMF-Leitlinie; Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften 2018).

hilfreiche Maßnahmen bei Suizidalität

Dabei können verschiedene Maßnahmen hilfreich sein. Zunächst gilt es, die aktuelle Phase und Ausprägung der Suizidalität bei einem Patienten / einer Patientin abzuschätzen. Das Spektrum reicht dabei von passiven Todeswünschen, über aktive Suizidgedanken, Suizidpläne, Suizidvorbereitungen und Suizidversuche bis hin zum Suizid.

Stadien der Suizidalität

Wichtig ist, diese Stadien der Suizidalität zu kennen und konkrete Nachfragen zu stellen, um sie eruieren zu können (Tab. 2.3).

Tab. 2.3: Phasen (nach Pöldinger 1968) und geeignete Fragen zur Abklärung (nach Leitlinie, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften 2018) von Suizidalität


Phasen / Ausprägung der SuizidalitätFragen zur Abklärung
1.Passive Suizidalität Wunsch nach Ruhe, Pause, Unterbrechung im Leben (mit bewusstem Risiko bzw. Inkaufnahme von Versterben)■Hatten Sie in letzter Zeit das Gefühl, dass das Leben nicht lebenswert ist?■Wären Sie lieber tot?
2.Suizidphantasien (zunehmender Handlungsdruck) Todeswunsch (jetzt oder in Zukunft lieber tot sein zu wollen)■Haben Sie in letzter Zeit daran denken müssen, sich das Leben zu nehmen?■Haben Sie in dieser Situation schon einmal lebensmüde Gedanken gehabt?■Haben Sie daran gedacht, sich etwas anzutun?
3.Suizidideen (zunehmendes Handlungsrisiko)■Haben Sie schon daran gedacht, ihre Gedanken umzusetzen, sich also wirklich das Leben zu nehmen?
4.Suizidabsicht (akute Suizidalität) (mit / ohne konkrete Planung, mit / ohne Ankündigung)■Klarheit und Persistenz der Suizidgedanken: Drängen sich diese Gedanken bisweilen auf, ohne dass Sie das möchten? (sich aufdrängende unkontrollierbare Gedanken sind bedrohlich)■Wie groß schätzen Sie selbst die Gefahr im Moment ein, diese Gedanken umsetzen zu müssen? (Eine momentane Distanzierung führt zu mehr Behandlungsspielraum; liegt keine Distanzierung vor, muss die Behandlung und der Schutz der Patientin / des Patienten unmittelbar eingeleitet werden)■Konkrete Vorbereitungen: Haben Sie sich überlegt, wie Sie es tun würden? Haben Sie bereits Vorbereitungen getroffen? Wenn ja, welche? (Das Risiko ist umso größer, je konkreter diese Vorstellungen und Planungen sind, daher auch Verfügbarkeit der Mittel wie Medikamente oder Waffen prüfen)
5.Suizidhandlung
Abklärung weiterer Risikofaktoren■Halten Sie Ihre Situation für aussichts- und hoffnungslos?■Gab es Suizidversuche in der Vorgeschichte?■Gibt es eine Familienanamnese von Suizidhandlungen?■Ankündigung: Haben Sie schon mit jemandem über Ihre Suizidabsichten gesprochen? (Suizide werden zumeist angekündigt; solche Ankündigungen müssen ernst genommen werden)■Sind sie sozial eingebunden oder aktuell sehr zurückgezogen?■Sie sagen, dass zurzeit keine Gefahr besteht, was hält sie konkret davon ab? Was spricht dafür, weiterzuleben? (Bei konkreten Suizidabsichten wirken übliche Haltestrukturen nicht mehr; wie etwa familiäre Bindungen, religiöse Überzeugungen etc.)


Bei latenter Suizidalität ohne drängende bzw. konkrete Suizidabsicht kann ein so genannter Anti-Suizid-Pakt hilfreich sein. Bei diesem vereinbart der Patient / die Patientin per Handschlag mit dem Arzt / der Ärztin, bis zu einem nächsten, zeitnah vereinbarten Termin nichts zu unternehmen, was das eigene Leben in Gefahr bringen könnte, bzw. sich bei akuter werdenden Suizidgedanken an eine Psychiatrie oder einen Kriseninterventionsdienst zu wenden. Hilfreich sind dabei der Einbezug zwischenmenschlicher Kontakte (Angehörige und / oder Freundinnen und Freunde), aber auch das Informieren und ggf. Bereitstellen von Informationsmaterial über lokale und überregionale Krisenhilfen. Häufig bringt dies schon eine deutliche Entlastung für die Patientinnen und Patienten.

Im Notfall (bei akuter Selbstgefährdung) sollte eine fachpsychiatrische oder auch richterliche Einschätzung erfolgen. Gegebenenfalls, wenn auch eher selten, kann dies zu einer psychiatrischen Unterbringung auf einer geschützten Station auch gegen den Willen des Patienten / der Patientin führen.

2.3 Verlauf und Prognose

Die Art bzw. Lokalisation körperlicher Beschwerden ist äußerst vielgestaltig (Schmerzen, Herzrasen, Schwindel, Durchfall, Schwächegefühl, Müdigkeit etc.). Manche Patientinnen und Patienten klagen über eine einzelne, andere über mehrere verschiedene Körperbeschwerden. Das Ausmaß der Symptome reicht von leichten Befindlichkeitsstörungen mit geringer Funktionseinschränkung bis hin zu ausgeprägten Beschwerden mit bleibenden Einschränkungen und Behinderungen. Die Beschwerden können episodisch, mit oder ohne direkten Auslöser, auftreten oder anhaltend sein und chronifizieren (Olde Hartman et al. 2009; Henningsen et al. 2018).

Viele Beschwerden sind selbstlimitierend, d. h., sie verschwinden im Sinne von vorübergehenden Befindlichkeitsstörungen von selbst, oder es genügen einfache Verhaltensänderungen oder Hausmittel zur Besserung. Bei ca. 20–50 % der Patientinnen und Patienten, die mehrere Körperbeschwerden aufweisen und bei denen bereits die diagnostischen Kriterien für eine somatoforme Störung erfüllt sind, sind die Beschwerden jedoch anhaltend (Lieb et al. 2002; Jackson / Kroenke 2008; Steinbrecher / Hiller 2011; Budtz-Lilly et al. 2015). Die Beschwerden bestehen dann auch ein Jahr nach der ersten Präsentation weiter und führen zu dauerhaften Beeinträchtigungen. 34 % der Patientinnen und Patienten mit somatoformen Schmerzen erfüllten auch nach 11 Jahren noch die Kriterien der Störung (Leiknes et al. 2007).


In einem systematischen Review zu Studien mit Patientinnen und Patienten mit Chronic Fatigue Syndrome fand sich ein Median von 39,5 % (CI: 8–63 %), die sich im Verlauf der Zeit (max. 44 Monate) in ihrer Symptomatik verbesserten und lediglich 5 % (CI: 0–31 %) erreichten ihr früheres Leistungsniveau (Cairns / Hotopf 2005).

Prädiktoren für chronische Verläufe

Unabhängig von der konkreten Diagnose (somatoforme Störung oder funktionelles Syndrom) sind die Anzahl der Beschwerden und gleichzeitig bestehende katastrophisierende Interpretationen die wichtigsten Prädiktoren für einen chronischen Verlauf.

Eine hohe Anzahl von Beschwerden ist mit psychiatrischer Komorbidität, funktioneller Beeinträchtigung und vermehrter medizinischer Inanspruchnahme verbunden (Kroenke et al. 1994; Jackson et al. 2006; Olde Hartman et al. 2009; Escobar et al. 2010; Tomenson et al. 2013; Creed et al. 2012; Kingma et al. 2013; Woud et al. 2016; Boeft et al. 2016; Rosendal et al. 2017). Rosendal und Kollegen schlagen anhand der Menge, der Lokalisation und der Häufigkeit / Dauer der Beschwerden („multiple symptoms, multiple systems, multiple times“) eine einfache Prognoseeinschätzung vor (Rosendal et al. 2017).

 

Typischerweise entwickeln sich somatoforme Beschwerden bereits in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter und halten dann oft über die gesamte Lebensdauer an (Scher et al. 2014). In einer bevölkerungsbasierten Studie mit jungen Erwachsenen fanden sich bei 5 % der Befragten anhaltende Körperbeschwerden und mit diesen verbundene katastrophisierende Gedanken und Ängste (Geelen et al. 2015).

Risikofaktoren für die Entwicklung somatoformer Störungen

Als Risikofaktoren, die wahrscheinlich eine Rolle bei der Entwicklung somatoformer Störungen spielen, weil es zumindest einige empirische Evidenz gibt, gelten (APA 2013; Creed / Barsky 2004; Scher et al. 2014; Eberhard-Gran et al. 2007; Roelofs / Spinhoven 2007; Paras et al. 2009; Creed et al. 2012; Afari et al. 2014):

■weibliches Geschlecht,

■wenige Ausbildungsjahre,

■ein niedriger sozioökonomischer Status oder andere soziale Stressfaktoren,

■chronische Erkrankungen in der Vorgeschichte (im Kindesalter),

■eine Vorgeschichte von sexuellem Missbrauch oder andere Traumata in Kindheit oder Erwachsenenalter,

■gleichzeitig bestehende allgemeinmedizinische Erkrankungen (insbesondere bei älteren Patienten),

■gleichzeitig bestehende psychische Störungen (insbesondere depressive oder Angststörungen),

■eine familiäre Häufung chronischer Erkrankungen.

Die Lebenserwartung scheint dabei, abgesehen von einem erhöhten Suizidrisiko (Abschn. 2.2.4) bei somatoformen Störungen normal zu sein, einzelne Studien berichten sogar von einer niedrigeren Mortalität (Hatcher et al. 2011).

Obwohl der Krankheitsverlauf bei somatoformen Störungen oft chronisch ist, ist die Symptomatik durchaus variabel und schwankend, und zwar sowohl im Hinblick auf ihre Art und Lokalisation als auch im Hinblick auf ihr Ausmaß, ihren Schweregrad und ihre Auswirkungen auf die Lebensqualität und Leistungsfähigkeit. Bei ca. 50 % der Patientinnen und Patienten tritt im Verlauf des ersten Jahres nach Diagnosestellung eine Besserung oder Remission der Körperbeschwerden auf (Levenson et al. 2018).


Remissionsraten

Laut einer systematischen Übersichtsarbeit aus dem Hausarztsetting mit Patientinnen und Patienten mit einer Somatisierungsstörung (insgesamt n=762) berichteten im Verlauf von 6–15 Monaten rund 50–75 % der Patientinnen und Patienten über eine Besserung ihrer Beschwerden, bei 10-30 % kam es jedoch zu einer Verschlechterung (Olde Hartman et al. 2009). Auch eine weitere Untersuchung ergab, dass sich 50 % oder mehr der Patientinnen und Patienten mit einer Somatisierungsstörung innerhalb eines Jahres von der Diagnose erholten (Creed / Barsky 2004).

Eine prospektive Studie mit n=32 Patientinnen und Patienten aus der Primärversorgung mit einer Somatisierungsstörung ergab, dass 78 % die Kriterien für die Erkrankung nach fünf Jahren nicht mehr erfüllten, wobei einige Patientinnen und Patienten weiterhin ein oder zwei belastende Symptome berichteten (Jackson / Kroenke 2008).

Dazu ist generell anzumerken, dass Verbesserung oder Remission in diesen Studien nicht bedeutet, dass sich alle Symptome vollständig gebessert haben. Darüber hinaus können Patientinnen und Patienten auch nach Besserung später einen Rückfall erleiden und dann erneut die Störungskriterien erfüllen (Levensen et al. 2018). Manchmal treten nach Besserung oder Überwindung bestimmter Beschwerden stattdessen andere Symptome auf.

Alle Studienergebnisse deuten darauf hin, dass eine größere Anzahl von somatischen Symptomen zu Beginn der Beobachtung im weiteren Verlauf weniger wahrscheinlich mit einer Verbesserung einhergeht (Creed / Barsky 2004; Jackson / Kroenke 2008). Andere Faktoren, die möglicherweise einer Verbesserung entgegenstehen, sind ein höheres Alter, eine ausgeprägte Beeinträchtigung und komorbide Angst und Depression (Creed / Barsky 2004), sowie maladaptive Persönlichkeitszüge wie Vermeidungsverhalten und eine geringe Kooperationsbereitschaft (Jackson / Kroenke 2008).

2.4 Inanspruchnahme medizinischer Leistungen

Patientinnen und Patienten mit somatoformen Störungen (und somatischen Belastungsstörungen) haben körperliche Symptome, die von übermäßigen oder unverhältnismäßigen emotionalen und verhaltensbedingten Reaktionen begleitet werden. Sie nehmen daher häufig mehr Gesundheitsversorgung in Anspruch als andere Patientinnen und Patienten (APA 2013).


Eine Sichtung von Patientendaten aus neun bevölkerungsbasierten Studien (insgesamt n >28.000) ergab, dass auch nach der Kontrolle von Alter, allgemeinen medizinischen Erkrankungen, Angst und Depression eine höhere Anzahl belastender somatischer Symptomen mit einer vermehrten Inanspruchnahme des Gesundheitssystems verbunden war (Tomenson et al. 2013).

Eine retrospektive Studie untersuchte die Nutzung von Gesundheitsleistungen bei mehr als 1500 Patientinnen und Patienten aus der Primärversorgung und kontrollierte sie ebenfalls auf potenziell konfundierende Faktoren wie Alter, Angststörungen, depressive Störungen und allgemeine medizinische Erkrankungen. Krankenhausaufenthalte, Besuche in der Notaufnahme, Besuche beim Hausarzt, Facharztbesuche und ambulante Eingriffe in den letzten 12 Monaten waren bei Patientinnen und Patienten mit belastenden Körperbeschwerden jeweils höher als bei Patientinnen und Patienten ohne belastende somatische Symptome (Barsky et al. 2005).

In einer repräsentativen Stichprobe aus Hongkong (n >3000) war eine höhere Anzahl beunruhigender Körperbeschwerden und erhöhter Krankheitsangst jeweils unabhängig voneinander mit einer höheren Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen verbunden (Lee et al. 2015). Personen mit hoher somatischer Symptombelastung und zusätzlich hoher Gesundheitsangst zeigten dabei die höchste Inanspruchnahme und auch die größten Einbußen bezüglich des Funktionsniveaus. Daten aus einer repräsentativen Stichprobe aus Australien (n >8000) ergaben ebenfalls einen hohen Zusammenhang zwischen Krankheitsangst und der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen (Sunderland et al. 2013).

In einer Studie aus den USA zeigte sich, dass innerhalb eines Monats 800 von 1000 Menschen körperliche Beschwerden verspürten, 327 irgendeine Art medizinischer Hilfe aufsuchten, 217 sich ärztlich vorstellten (113 davon bei einem Allgemeinmediziner und 104 bei einem anderen Facharzt), 65 einen komplementär oder alternativmedizinischen Behandler aufsuchten, 21 sich in der Ambulanz eines Krankenhauses vorstellten, 14 zu Hause von Behandlern versorgt wurden, 13 sich in einer Notaufnahme vorstellten und 8 stationär in ein Krankenhaus aufgenommen wurden (Green et al. 2001; Hausteiner-Wiehle et al. 2013).

viele Patientinnen und Patienten bleiben lange unbehandelt

Patientinnen und Patienten mit funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden leiden bis zu 25 Jahre lang, bevor sie eine angemessene Behandlung erhalten (Herzog et al. 2018). Eine überwiegende Mehrheit der Patientinnen und Patienten mit anhaltenden Körperbeschwerden bleibt (zunächst) unbehandelt oder wird nicht entsprechend aktueller klinischer Leitlinien behandelt.

Viele Patientinnen und Patienten mit somatoformen Symptomen nehmen auch alternativmedizinische Leistungen in Anspruch, die sie z. T. als wirksam erleben, für die sich aber wenig wissenschaftliche Evidenz findet (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften 2018). Obwohl Patientinnen und Patienten mit somatoformen Störungen sowohl auf psychotherapeutische als auch auf pharmakologische Interventionen ansprechen, sind die Effekte aktueller Behandlungsmaßnahmen im Allgemeinen geringer als bei anderen psychischen Erkrankungen.

hohe direkte und indirekte Kosten

Hinsichtlich Prävention oder Früherkennung somatoformer Störungen finden sich aktuell leider nur wenige Ansätze. In der Folge führen beispielsweise Mehrfachdiagnostik, häufige Hospitalisierung und zahlreiche Krankheitstage zu hohen Kosten für die Sozialversicherungssysteme.

Da somatoforme oder funktionelle Körperbeschwerden trotz eines meist fehlenden körperlichen Befundes häufig mit Einschränkungen von Lebensqualität und Leistungsfähigkeit sowie einer hohen Komorbidität mit Depressionen und Angststörungen verbunden sind, gehen sie auch mit hohen indirekten Gesundheitskosten durch Krankheitstage und Produktivitätsverluste einher. Auch die direkten Gesundheitskosten sind bei diesen Patientinnen und Patienten deutlich erhöht: so verursachen sie im ambulanten Bereich im Mittel 14-fach höhere Kosten als die durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben. Die stationären Kosten belaufen sich auf das Sechsfache (Abb. 2.3). Vor allem Patientinnen und Patienten mit einer Somatisierungsstörung gehören zu den so genannten „high utilizern“ des Gesundheitssystems (Hatcher et al. 2011; Konnopka et al. 2012; Mack et al. 2015; Boeft et al. 2016; Rask et al. 2017; Henningsen et al. 2018). Die Mehrheit der Patientinnen und Patienten, die sich keiner multimodalen Behandlung unterziehen, werden nach drei Jahren aufgrund ihrer Symptome arbeitsunfähig (Kwan / Friel 2002). Im Jahr 2010 betrugen die Kosten für somatoforme Störungen (in Mrd. € Kaufkraftparitäten) in Europa 21,20 €. So ist die gesundheitliche Belastung durch somatoforme Störungen in Europa vergleichbar mit derjenigen durch Angst- und depressive Störungen (Jacobi et al. 2014).


Abb. 2.3: Somatoforme Störungen verursachen hohe Gesundheitskosten (Statistisches Bundesamt für das Jahr 2008)

2.5 Zusammenfassung

Anhaltende Körperbeschwerden sind weit verbreitet und stellen eine große Herausforderung für alle medizinischen Fachrichtungen dar. Unabhängig von ihrer Verursachung hat diese Art von Beschwerden erhebliche Auswirkungen auf das Wohlbefinden von Patientinnen und Patienten sowie auf das Versorgungssystem, da es häufig zu Beeinträchtigungen im Alltag, zu begleitenden Krankheitsängsten und hohen Kosten durch medizinische Inanspruchnahme kommt.

2.6 Fragen zum 2. Kapitel


6. Wie hoch wird die 12-Monats-Prävalenz für somatoforme Störungen in der europäischen Allgemeinbevölkerung geschätzt (z. B. nach Wittchen et al., 2011)?

7. Welches sind die beiden häufigsten psychischen Komorbiditäten bei somatoformen Störungen?

8. Bei den somatoformen Störungen galt das diagnostische Kriterium der „medizinischen Unerklärbarkeit“ der belastenden Körperbeschwerden. Warum wurde dieses Kriterium bei der somatischen Belastungsstörung aufgehoben?

9. Welche Bedeutung hat Suizidalität bei Patientinnen und Patienten mit funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden?

10. Was sind Risikofaktoren für einen chronischen Verlauf von belastenden Körperbeschwerden?

11. Was kennzeichnet das medizinische Inanspruchnahmeverhalten von Patientinnen und Patienten mit somatoformen und funktionellen Körperbeschwerden?

12. Wodurch entstehen indirekte Gesundheitskosten durch Patientinnen und Patienten mit somatoformen Störungen?

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?