Einführung Somatoforme Störungen, Somatische Belastungsstörungen

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Bei der Diagnostik psychischer Erkrankungen (z. B. Angststörungen, affektive und somatoforme Störungen) liegt der Fokus hauptsächlich auf psychischen Prozessen. Wenn gleichzeitig somatische Symptome vorhanden sind, geht es bei der Diagnostik um die Art und Anzahl dieser Symptome, und zwar unabhängig davon, auf welches Organsystem sie sich beziehen. Beispielsweise gehen psychische Beschwerden im Zusammenhang mit einer Depression oder Angststörung begleitend häufig mit somatischen Symptomen einher, die sich dann durch eine wirksame Behandlung der psychischen Störung oft ebenfalls bessern. In Fällen, in denen die belastenden Körperbeschwerden vordergründig sind, ist die geeignetste Diagnose dann die einer somatoformen Störung (bzw. aktueller Begriff laut ICD-11 und DSM-5: „somatische Belastungsstörung“; Levenson et al. 2018).

Unterschiedliche Begriffe werden in unterschiedlichen Settings und Klassifikationssystemen benutzt

(z. B. Hausarzt, Facharzt, psychotherapeutische Versorgung etc.):

■Nichtspezifische oder medizinisch unerklärte Symptome

■Funktionelle Syndrome (z. B. Reizdarm, Fibromyalgie, Chronic Fatigue)

■Somatoforme Störungen (ICD-10, DSM-IV)

■Somatische Belastungsstörung (ICD-11, DSM-5)

Der Vorteil des übergeordneten Begriffes „anhaltende Körperbeschwerden“ ist, dass er keine Psychogenese, sondern nur die Störung bestimmter Körperfunktionen voraussetzt. Obwohl es also unterschiedliche medizinische und psychiatrische Klassifikationen für diese Art von Symptomen gibt, handelt es sich dabei eigentlich um alternative Methoden, um die gleichen oder zumindest ähnliche Phänomene zu beschreiben (Henningsen et al. 2018; Kroenke 2003). Unser Lehrbuch nimmt vor allem die Gemeinsamkeiten dieser Störungsbilder in den Blick. Unser Anliegen ist es fächerübergreifend und praxisnah ein umfassendes (biopsychosoziales) Verständnis anhaltender Körperbeschwerden zu fördern.

Die Existenz paralleler Klassifikationsmöglichkeiten ist oftmals verwirrend. Für viele anhaltende Körperbeschwerden kann eine einfache Beschreibung mit einer zusätzlichen Spezifikation des Symptoms wie „isoliert“ oder „multiple“ und „akut“ oder „chronisch“ ausreichend sein. Häufig vermittelt auch eine Kombination aus medizinischen und psychiatrischen Diagnosen die beste Information wie z. B. Reizdarmsyndrom mit komorbider Angststörung (Mayou / Farmer 2002).

Nicht alle belastenden Körperbeschwerden haben einen Krankheitswert. Erst wenn sie über einen Zeitraum von mehreren Monaten bestehen und bedeutsames Leiden und Beeinträchtigungen bei den Patienten verursachen, sollte eine Diagnose wie beispielsweise die somatoforme Störung (nach ICD-10 und DSM-IV) vergeben werden (Rief / Martin 2014).

1.3 Historische Konzepte

Anhaltende Körperbeschwerden sind kein neues Phänomen. Medizinisch unerklärte Körperbeschwerden sind vermutlich seit Anbeginn der medizinischen Lehre bekannt.


Eine ausführliche Darstellung der Historie somatoformer Störungen findet sich bei Morschitzky (2007).

Im Folgenden werden die zentralen Entwicklungen in der Konzeptualisierung der somatoformen Störungen bis hin zur heute aktuellen Diagnose der somatischen Belastungsstörung (nach ICD-11 und DSM-5) in Kürze dargestellt.

Vor allem der Somatisierungsbegriff findet sich bereits früh bei Stekel (1908, 1935; vgl. Kleinstäuber 2018). Lange Zeit galt die Somatisierung nicht als eigenständige Störungseinheit, sondern als Symptom und Folge einer anderen zugrunde liegenden psychopathologischen Störung, vor allem der Hysterie (Hoffmann 1996) oder der (larvierten) Depression. Bridges und Goldberg (1985) benannten ein hohes ärztliches Inanspruchnahmeverhalten, einen somatischen Attributionsstil der Beschwerden, das Vorliegen einer psychiatrischen Erkrankung sowie ein Ansprechen der somatischen Beschwerden auf die Behandlung der psychischen Primärerkrankung als notwendige Kriterien, um die Diagnose einer Somatisierung zu erfüllen.

Konzept der Somatisierung

In der klassischen, psychoanalytisch geprägten Psychosomatik wurde Somatisierung nicht als Kategorie für eine Störungseinheit genutzt, sondern vielmehr als Bezeichnung für einen Prozess bzw. pathologischen Mechanismus, der sich auf den Vorgang der Konversion psychischer Konflikte in somatische Symptombildung bezog (Hoffmann 1996; Küchenhoff 2001). Dahinter steht die Idee, dass der Verlust bestimmter körperlicher Funktionen (z. B. Sehen, Hören oder willkürliche motorische Handlungen) in Zusammenhang zu starken emotionalen Zuständen (z. B. als Folge von Traumatisierungen) steht.

Konversion und Dissoziation

In diesem Zusammenhang wurde auch der Begriff der Dissoziation beschrieben, der eine Desintegration von mentalen Prozessen und Inhalten wie des Erlebens, Handelns oder des Gedächtnisses meint (Kapfhammer 2001).

biopsychosoziale Konzepte

Das bekannteste Vorläuferkonzept der heutigen somatoformen Störungen (bzw. der Somatisierung) ist das bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführte „Briquet-Syndrom“ (Briquet 1895). Briquet konzeptualisierte die Somatisierungsstörung dabei multifaktoriell (biopsychosozial) und benannte entsprechend emotionale Einflüsse, familiäre Erfahrungen und psychosoziale Stressoren als relevante Einflussfaktoren für die Symptomentstehung. Auch in der Definition von Lipowski (1988, S. 1359) wird die Somatisierung als multidimensionales Phänomen beschrieben. Es handelt sich demnach um

„eine Tendenz, körperlichen Stress zu erleben und zu kommunizieren, der nicht hinreichend durch pathologische Befunde zu erklären ist, diesen auf körperliche Erkrankungen zurückzuführen und dazu medizinische Hilfe aufzusuchen“.

Diese frühe Definition bildet die charakteristischen Merkmale der Somatisierung gut ab und bezieht perzeptuelle, kognitive und auch verhaltensbezogene Merkmale mit ein. Sie hat die Begriffsbestimmungen der somatoformen Störungen in den Klassifikationssystemen der Weltgesundheitsorganisation (WHO: International Classification of Disorders [ICD]) und der American Psychiatric Association (APA: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders [DSM]) stark geprägt.

In den Klassifikationssystemen der WHO (1991) und der APA (2000) wurden die somatoformen Störungen lange Zeit als eigenständige, primäre Störungskategorie aufgeführt (Abb. 1.4). Die Diagnosen enthielten dabei nicht nur störungswertige Merkmale der Person selbst (Tendenz, körperlichen Stress zu erleben und zu kommunizieren), sondern beinhalteten auch ein dysfunktionales Interaktionsmuster zwischen den Patientinnen und Patienten mit ihren Erklärungsmustern und Verhaltensweisen einerseits und den Ärztinnen und Ärzten bzw. dem medizinischem System andererseits.


Abb. 1.4: Klassifikation der somatoformen Störungen nach ICD-10 (WHO 1992)

Als Alternative zur Diagnose der somatoformen Störung wurde lange Zeit vor allem in den Leitlinien der ICD für die ärztliche Primärversorgung der Begriff der „medizinisch unerklärten Symptome“ verwendet (Deary 1999). Der Begriff ist neutraler im Vergleich zum Somatisierungsbegriff, der durch seine historische Verknüpfung mit dem Konzept der Hysterie vorbelastet ist und dadurch auf Patientinnen und Patienten stigmatisierend wirken kann. Trotzdem ist der Begriff nicht unumstritten.

medizinische Erklärbarkeit von Körperbeschwerden

In der Wissenschaft findet sich der Standpunkt, dass alle körperlichen Beschwerden erklärbar sind, wenn die medizinische Abklärung nur ausführlich genug durchgeführt wird, und es lediglich eine Frage des medizintechnischen Fortschrittes ist, bis alle Beschwerden erklärt werden können. In der Praxis tun sich Behandlerinnen und Behandler häufig schwer, einzelne Beschwerden als hinreichend medizinisch erklärbar oder nicht einzuordnen (Fischer / Nater 2012).

1.4 „Revolution“ der diagnostischen Konzepte: aktueller Stand

Diese historischen diagnostischen Konzepte wurden aktuell durch Expertengremien der Weltgesundheitsorganisation und der American Psychiatric Association sowohl im DSM-5 (APA 2013) als auch in der ICD-11 (WHO 2018) durch neue Diagnosen abgelöst. Die neue Terminologie reflektiert das heutige Verständnis zur Pathogenese, Aufrechterhaltung und Prognose von subjektiv belastenden Körpersymptomen und soll damit auch den therapeutischen Zugang erleichtern, um unbefriedigende Behandlungsverläufe und eine Chronifizierung von körperlichen Beschwerden frühzeitig abwenden zu können (Känel et al. 2016).

 

Neuerungen in der Klassifikation

In der 2013 erschienenen 5. Auflage des „Diagnostischen und Statistischen Manuals für psychische Störungen“ (DSM-5) der American Psychiatric Association wurden die Somatisierungsstörung, die undifferenzierte somatoforme Störung, die Hypochondrie und die Schmerzstörung als Diagnosen abgeschafft. Die meisten der Patientinnen und Patienten, die zuvor eine dieser Diagnosen erhielten, erfüllen mit ihren Symptomen nun die Kriterien der so genannten somatischen Belastungsstörung (englische Übersetzung: Somatic Symptom Disorder).

In der 2018 von der WHO in Genf vorgestellten Internationalen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation – 11. Revision (ICD-11) wurde die diagnostische Kategorie der somatoformen Störungen ebenfalls ersetzt, und zwar durch die so genannte Bodily Distress Disorder; in der deutschen Übersetzung soll die neue Diagnose ebenfalls somatische Belastungsstörung heißen. Die Kriterien sind den im DSM-5 beschriebenen inhaltlich sehr ähnlich und gehen entsprechend mit denselben Veränderungen und Implikationen einher.

neue Diagnose der somatischen Belastungsstörung

Die ICD-11 wurde 2019 durch die Weltgesundheitsversammlung (World Health Assembly, WHA) verabschiedet. Über den Zeitpunkt einer möglichen Einführung der ICD-11 in Deutschland sind allerdings derzeit noch keine Aussagen möglich. Solange behält die ICD-10 der WHO im deutschen Gesundheitssystem für die Kodierung von (psychischen) Erkrankungen und die Abrechnung stationärer und ambulanter Leistungen ihre Gültigkeit. Entsprechend behalten auch die „somatoformen Störungen“ ihre Berechtigung in der Klassifikation anhaltender und belastender Körperbeschwerden.

Hypochondrie als Diagnose abgeschafft

Die somatische Belastungsstörung mit körperlichen Beschwerden sowie symptombezogenen Ängsten und Befürchtungen ist gemäß DSM-5 von der Krankheitsangststörung abzugrenzen, bei der die Überzeugung vorherrscht, an einer ernsthaften Krankheit zu leiden, ohne dass gleichzeitig körperliche Symptome präsent sind (APA 2013). Im DSM-IV erfüllten Patientinnen und Patienten, die ein oder mehrere körperliche Symptome fälschlicherweise im Sinne einer schwerwiegenden Krankheit interpretierten oder glaubten, dass sie trotz anders lautender medizinischer Bewertung und Beruhigung mit Ängsten vor einer schlimmen Erkrankung beschäftigt waren, die Diagnose einer Hypochondrie. Von denjenigen Patientinnen und Patienten, bei denen zuvor eine Hypochondrie diagnostiziert wurde, werden nun ca. 80 % unter die DSM-5-Diagnose einer somatischen Belastungsstörung (wenn körperliche Beschwerden vorhanden sind) und ca. 20 % unter die DSM-5-Diagnose einer Krankheitsangststörung (wenn körperliche Beschwerden minimal oder gar nicht vorhanden sind) subsumiert (Bailer et al. 2016; Abb. 1.5).

Die neuen diagnostischen Konzepte tragen der Tatsache Rechnung, dass ca. 30 % der Patientinnen und Patienten in der allgemeinmedizinischen Versorgung körperliche Symptome haben, durch die sie sich erheblich gestresst und im Alltag (Familie, Beruf, Freizeit) eingeschränkt fühlen. Ärztinnen und Ärzte verschiedenster Fachrichtungen beschäftigten sich in ihrem Praxisalltag also mit körperlichen Symptomen, die häufig erst dadurch Krankheitswert erhalten, dass Patientinnen und Patienten aufgrund von mit den Symptomen assoziierten dysfunktionalen Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen einen Leidensdruck verspüren und deshalb überhaupt erst medizinische Versorgung in Anspruch nehmen. Körpersymptome werden nun als eigenständige klinische Entität ernst genommen, weil sie entsprechend zu weitreichenden Einschränkungen bei den Betroffenen, bis hin zur Invalidisierung in allen wichtigen Alltagsbereichen führen können (Känel et al. 2016).


Abb. 1.5: Reduktion der diagnostischen Kategorien von DSM-IV zu DSM-5 (nach Dimsdale et al. 2013)

Kennzeichen einer somatischen Belastungsstörung

Für die neue Diagnose genügt bereits ein einziges chronisches körperliches Symptom (z. B. Schmerz, Schwächegefühl oder Kurzatmigkeit), das zu einer erheblichen Funktionseinschränkung in wichtigen Lebensbereichen führt. Die somatische Belastungsstörung ist darüber hinaus dadurch gekennzeichnet, dass die somatischen Symptome von einer unverhältnismäßig ausgeprägten gedanklichen, emotionalen oder verhaltensmäßigen Beschäftigung mit diesen Symptomen begleitet werden. Außerdem verursachen die Symptome eine erhebliche Belastung und / oder Funktionseinschränkung im Alltag (Dimsdale / Levenson 2013).

Die somatischen Symptome können dabei durch eine zugrunde liegende somatische Grunderkrankung erklärbar sein oder auch nicht. Die Diagnose einer somatischen Belastungsstörung wird unabhängig von der Ursache der körperlichen Beschwerden gestellt. Damit entfällt die stigmatisierende und häufig nicht mit Sicherheit zu treffende Unterscheidung zwischen somatoformen (medizinisch unerklärten, „psychogenen“) und somatischen (organmedizinisch begründeten) Symptomen (Creed et al. 2011; Hilderink et al. 2013; Känel et al. 2016). Entsprechend der neuen Kriterien können auch bei Vorliegen einer somatischen Grunderkrankung (z. B. Asthma) anhaltende Sorgen und Ängste (hier bezogen z. B. auf eine mögliche Luftnot mit Erstickungsgefahr), die Diagnose rechtfertigen.


Abb. 1.6: Klassifikationskriterien der somatischen Belastungsstörung (300.82) nach DSM-5 (APA 2013)

keine reine Ausschlussdiagnostik

Die Diagnose kann nicht vergeben werden, nur weil eine medizinische Ursache für ein körperliches Symptom nicht identifiziert werden kann (im Sinne einer Ausschlussdiagnostik). Der Fokus liegt jetzt auf dem Ausmaß, in dem die mit den Körperbeschwerden verbundenen Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen übertrieben oder unverhältnismäßig erscheinen (Dimsdale / Levenson 2013).

Für die Diagnose einer somatischen Belastungsstörung nach DSM-5 müssen die Kriterien A, B (mindestens eine der drei aufgeführten psychologischen Dimensionen) und C aus Abb. 1.6 erfüllt sein.

In der ICD-11 werden die diagnostischen Kriterien zum aktuellen Zeitpunkt wie folgt beschrieben:

ICD-11: 6C40 Bodily Distress Disorder (somatische Belastungsstörung, übersetzt nach WHO 2018)

Die Somatische Belastungsstörung ist gekennzeichnet durch das Vorhandensein belastender körperlicher Symptome, auf die eine übermäßige Aufmerksamkeit gerichtet ist, was sich in wiederholtem Kontakt mit medizinischen Leistungserbringern manifestiert. Wenn eine andere Erkrankung die Symptome verursacht oder dazu beiträgt, ist der Grad der Aufmerksamkeit in Bezug auf die Natur und den Verlauf der Symptome eindeutig übertrieben.

Die übermäßige Aufmerksamkeit wird auch nicht durch geeignete klinische Untersuchungen und angemessene Beruhigung abgemildert. Die körperlichen Symptome sind andauernd, d. h. an den meisten Tagen mindestens über mehrere Monate vorhanden. Typischerweise treten mehrere körperliche Symptome auf, die über die Zeit variieren können. Möglicherweise liegt auch nur ein einzelnes Symptom – oftmals Schmerzen oder Müdigkeit, die mit den anderen Merkmalen der Störung assoziiert sind – vor.

Erste empirische Überprüfungen der neuen DSM-5-Diagnose ergaben, dass sowohl die Reliabilität, die Validität als auch die klinische Nützlichkeit bei der somatischen Belastungsstörung den Gütekriterien der somatoformen Störungen nach DSM-IV überlegen sind (Dimsdale et al. 2013).

Reliabilität

Die Beurteiler-Übereinstimmung (Interrater-Reliabilität), in dem Sinne, dass sich verschiedene Beurteilerinnen und Beurteiler zuverlässig über das Vorhandensein einer Erkrankung einigen können, kann bei einer Zugrundelegung der neuen Kriterien der somatischen Belastungsstörung als gut bis sehr gut bezeichnet werden (Freedman et al. 2013).



Obwohl die Diagnosekriterien der somatischen Belastungsstörung bereits als „überinkludierend“, mit dem Potenzial für zu viele falsch-positive Diagnosen kritisiert wurde (Frances 2013), deuten erste Untersuchungsergebnisse darauf hin, dass die neue Diagnose im Gegenteil restriktiver als die somatoforme Diagnose nach DSM-IV sein könnte.


Eine Studie mit Patientinnen und Patienten mit Symptomen, die als „medizinisch unerklärt“ eingestuft wurden (n=325), ergab, dass doppelt so viele Patientinnen und Patienten die diagnostischen Kriterien für eine somatoforme Störung (DSM-IV) erfüllten als die einer somatischen Belastungsstörung (DSM-5; 93 versus 46 %; Dessel et al. 2016).

Darüber hinaus erfordert die Diagnose der somatischen Belastungsstörung, wie in den B-Kriterien beschrieben, dass die Patienten „übertriebene“ oder „unangemessene“ Gedanken, Gefühle oder Verhaltensweisen im Zusammenhang mit den somatischen Symptomen aufweisen. Dadurch lässt sich eine Gruppe von Patienten identifizieren, die sich durch eine größere psychische Beeinträchtigung im Vergleich zu Patienten mit einer somatoformen Störungen kennzeichnet (Voigt et al. 2012).


Aktuelle Studien aus anderen Settings berichten teilweise aber auch gegenteilige Befunde. Zum Beispiel konnten Limburg et al. bei Patientinnen und Patienten mit Schwindelsymptomen in einer neurologischen Ambulanz feststellen, dass die Kriterien der somatischen Belastungsstörung nach DSM-5 fast doppelt so häufig erfüllt wurden wie die DSM-IV Kriterien der somatoformen Störungen (Limburg et al. 2016). Dass es sich um eine in bestimmten Settings häufig erfüllte Diagnose handelt, zeigte sich auch in einer Studie aus einer psychosomatischen Ambulanz: hier erfüllte mehr als die Hälfte der untersuchten Patientinnen und Patienten (54,6 %) die Diagnosekriterien der somatischen Belastungsstörung (Hüsing et al. 2018).

Insgesamt gibt es leider erst wenige Resultate aus Studien, die sich empirisch mit den neuen Diagnosekriterien beschäftigen. Hier besteht dringend weiterer Forschungsbedarf.

 

1.5 Zusammenfassung

Anhaltende Körperbeschwerden sind ein häufiges, sowohl für die Betroffenen als auch für das Gesundheitssystem bedeutsames Phänomen. Mit einer zunehmenden Anzahl an belastenden Körpersymptomen steigt das Risiko für individuelles Leiden, Funktionseinschränkungen im Alltag, psychische Belastung, wiederholte Arztbesuche, gesundheitsbezogene Kosten und Arbeitsunfähigkeit. Im Rahmen der medizinischen Diagnostik sollten daher immer sowohl das Ausmaß körperlicher Symptome, als auch die damit verbundene Belastung erhoben werden. Um die Auswirkungen der Beschwerden, das Ausmaß der Beeinträchtigung und das Chronifizierungsrisiko sinnvoll einschätzen zu können, sollten neben einer angemessenen organmedizinischen Abklärung der Körperbeschwerden, im Sinne eines biopsychosozialen Krankheitsverständnisses, immer auch psychische, soziale und verhaltensrelevante Ursachen für symptombedingtes Leiden erfragt werden. Diese Verknüpfung spiegelt sich auch in der neuen Diagnose der somatischen Belastungsstörung (nach DSM-5 und ICD-11) wider, die sich durch das Vorhandensein belastender Körpersymptome bei einem dysfunktionalen kognitiven, emotionalen und verhaltensbezogenen Umgang mit diesen Beschwerden kennzeichnet. Damit wird die Diagnose der somatischen Belastungsstörung frühere Konzepte wie das der somatoformen Störungen oder der medizinisch unerklärten Körperbeschwerden zukünftig ablösen. Die somatische Belastungsstörung wird als psychische Diagnose unabhängig von der Verursachung der somatischen Symptome vergeben. Wie der diagnostische Prozess im besten Falle aussehen könnte, und wie betroffene Patientinnen und Patienten in geeigneten Versorgungssetting adäquat therapeutisch behandelt werden sollten, wird in den folgenden Kapiteln dieses Buches beschrieben.

1.6 Fragen zum 1. Kapitel


1.Was sind drei der häufigsten körperlichen Beschwerden in der Allgemeinbevölkerung?

2.Wie hoch wird der Anteil unerklärter Körperbeschwerden in der allgemeinmedizinischen Versorgung geschätzt?

3.Welche diagnostischen Begriffe für anhaltende Körperbeschwerden werden in unterschiedlichen Kontexten benutzt?

4.Die somatische Belastungsstörung gemäß DSM-5 und ICD-11 ist das aktuellste diagnostische Konzept für belastende und anhaltende Körperbeschwerden: Welche früheren Konzepte kennen Sie und worin bestehen die Hauptunterschiede zwischen diesen Konzepten?

5.Für die Diagnose einer somatischen Belastungsstörung nach DSM-5 müssen eines oder mehrere beeinträchtigende somatische Symptome über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten vorliegen. Welches weitere diagnostische Kriterium muss erfüllt sein?