Einführung Somatoforme Störungen, Somatische Belastungsstörungen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

2 Epidemiologie

2.1 Prävalenz

Anhaltende Körperbeschwerden sind ein weit verbreitetes Phänomen. Genaue Schätzungen zur Prävalenz und Inzidenz klinisch relevanter Körperbeschwerden lassen sich nur schwer bestimmen. Wie im vorherigen Kapitel beschrieben, existieren zahlreiche unterschiedliche Begrifflichkeiten und diagnostische Konzepte zur Klassifikation anhaltender und medizinisch unerklärter Körperbeschwerden, somatoformer und funktioneller Störungen und somatischer Belastungsstörungen. Die Prävalenzzahlen lassen sich entsprechend nur bezogen auf die jeweils zugrunde liegenden diagnostischen Kriterien (Kap. 5) bestimmen und interpretieren.

2.1.1 Allgemeinbevölkerung

In der Allgemeinbevölkerung sind körperliche Beschwerden sehr häufig.


In einer Studie aus dem Jahr 2006 gaben 82 % der befragten Teilnehmerinnen und Teilnehmer Beschwerden an, die sie innerhalb der letzten sieben Tage zumindest leicht beeinträchtigten, 22 % berichteten sogar mindestens eine Beschwerde, die sie schwer beeinträchtigte (Hiller et al. 2006). Die Teilnehmenden wiesen dabei oft multiple Körperbeschwerden anstatt nur einzelner Symptome auf und berichteten im Durchschnitt sieben verschiedene Symptome. Dabei wurden vor allem Rücken-, Kopf-, Gelenk- und Menstruationsschmerzen, Schmerzen in den Extremitäten, Verdauungsbeschwerden und mit Sexualität assoziierte Beschwerden wie Erektions- und Ejakulationsstörungen genannt. In einer vergleichbaren Studie aus Großbritannien ergaben sich als häufigste über die vergangenen 2 Wochen berichteten Symptome Müdigkeit, Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen, Rückenschmerzen und Schlafstörungen (McAteer et al. 2011), wobei im Durchschnitt vier belastende Symptome pro befragter Person genannt wurden. In einer Studie aus den USA zeigte sich, dass von 1000 befragten Personen jeden Monat 80 % körperliche Beschwerden verspürten, die sie als beeinträchtigend beschrieben (Green et al. 2001).

Die Häufigkeitsbestimmung der so genannten „medizinisch unerklärten“ oder „somatoformen“ Beschwerden in der Allgemeinbevölkerung ist dadurch erschwert, dass die somatoforme Symptomatik oftmals nicht als solche erkannt wird und somit auch nicht die passende Diagnose gestellt werden kann. Angaben zur Prävalenz medizinisch unerklärter Körperbeschwerden schwanken daher massiv (Hilderink et al. 2013).

Auch die Häufigkeit somatoformer Störungen nach ICD-10 (WHO 1996) oder DSM-IV (APA 2000) lässt sich in der Allgemeinbevölkerung, außerhalb eines klinischen Kontextes, nur schwer bestimmen. In repräsentativen Bevölkerungsstichproben werden nur selten standardisierte klinische Interviews (Kap. 5) durchgeführt, mit denen sich die Häufigkeit somatoformer Störungen zuverlässig ermitteln lassen könnte.

Prävalenz in Deutschland

Im Bundesgesundheitssurvey 1998 / 1999, einer Umfrage zur Häufigkeit psychischer und körperlicher Erkrankungen in der deutschen Allgemeinbevölkerung, wurde eine Lebenszeitprävalenz von 16,2 %, eine 12-Monats-Prävalenz von 11 % und eine 4-Wochen-Prävalenz von 7,5 % für die gesamte Diagnosegruppe der somatoformen Störungen nach ICD-10 ermittelt (Jacobi et al. 2004).

Knapp ein Drittel der Patientinnen und Patienten gaben dabei zwei oder mehr Schmerzsymptome an; am häufigsten wurden Kopf-, Unterbauch- und Rückenschmerzen berichtet (Fröhlich et al. 2006). Bezogen auf die Lebenszeitprävalenz sind somatoforme Störungen damit die dritthäufigste Störung nach Suchtstörungen und Angststörungen (Jacobi et al. 2004).

Für die undifferenzierte Somatisierungsstörung (zu den diagnostischen Kriterien (siehe Kap. 5) wurde in einer weiteren Studie aus der deutschen Allgemeinbevölkerung eine Punktprävalenz von 19,7 % festgestellt (Grabe et al. 2003). Für die Somatisierungsstörung, die durch sehr streng definierte diagnostische Kriterien gekennzeichnet ist, wurde in einer repräsentativen Studie aus den USA eine Lebenszeitprävalenz unter 1 % gefunden (Robins / Regier 1991).

Prävalenz in Europa

In der europäischen Bevölkerung wird die 12-Monats-Prävalenz somatoformer Störungen 2011 mit 4,9 % angegeben (Wittchen et al. 2011; Abb. 2.1), was einer Anzahl von ca. 25,1 Millionen Erkrankten in der Europäischen Union entspricht. Mit dieser Prävalenz stellen somatoforme Störungen die vierthäufigsten psychischen Störungen nach Angststörungen, Schlafstörungen und affektiven Störungen dar.


Abb. 2.1: 12-Monats-Prävalenz psychischer Störungen in Europa (geschätzte Anzahl an Personen in Mio.; nach Wittchen et al. 2011)

2.1.2 Hausärztliche Versorgung (Allgemeinmedizin)

Insbesondere in der medizinischen Primärversorgung (Hausarztpraxen, Allgemeinmedizin) stellen sich viele Patientinnen und Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden vor, womit auch die Hauptverantwortung für das Erkennen und Diagnostizieren bei Ärztinnen und Ärzten der Primärversorgung liegt.


In 15–19 % der Fälle sind somatische Symptome ohne organische Ursache der Hauptgrund für eine Konsultation in der Hausarztpraxis (Burton 2003). In einer Untersuchung von Nimnuan et al. (2001) fand sich eine Punktprävalenz von 52 % bezogen auf unerklärte Körperbeschwerden. Dabei wurde eine breit gefasste Definition der Symptome zugrunde gelegt, nämlich im Sinne von medizinischen Beschwerden, für die keine definierte medizinische Diagnose im Rahmen einer adäquaten medizinischen Untersuchung gefunden werden konnte. Verhaak et al. (2006) analysierten Daten von Patientinnen und Patienten, die über das vergangene Jahr mindestens vier Arztbesuche bezüglich ihrer Körperbeschwerden in Anspruch genommen hatten. Dabei ergab sich eine Punktprävalenz von 2,5 % unerklärter Körperbeschwerden. Auch hier sind die Schwankungen in den Prävalenzraten in Abhängigkeit von den angewendeten diagnostischen Kriterien zu sehen.

In einem aktuellen und hochwertigen systematischen Review, in das Daten von über 70.000 Patientinnen und Patienten aus 24 Ländern eingeschlossen wurden, zeigte sich, dass bei 40-49 % aller Patientinnen und Patienten aus dem hausärztlichen Setting mehr als eine medizinisch unerklärte Beschwerde diagnostiziert werden konnte (Haller et al. 2015).

In derselben Übersichtsarbeit wurden aus den Studien, in denen klinische strukturierte Interviews bei Patientinnen und Patienten in der Hausarztpraxis durchgeführt worden waren, auch die Prävalenzen für die Diagnosen der somatoformen Störungen nach DSM-IV bzw. ICD-10 ermittelt. Dabei ergaben sich Punktprävalenzen für die Somatisierungsstörung von 0,8 % bzw. 5,9 %, für die undifferenzierte somatoforme Störung von 27,0 % bzw. 8,9 % und für die Schmerzstörung von 7,3 % bzw. 9,3 %. (Haller et al. 2015).

2.1.3 Funktionelle Syndrome

Multiple unerklärte Körperbeschwerden treten häufig auch im Rahmen spezifischer funktioneller Syndrome auf. Die Angaben der Punktprävalenz schwanken auch hier, und zwar in Abhängigkeit von der Art eines solchen Syndroms bzw. von den zugrunde liegenden diagnostischen Kriterien.

Gerade in der ambulanten hausärztlichen Versorgung gehören funktionelle Körperbeschwerden zu einem der häufigsten Beratungsanlässe. Dabei werden für funktionelle Körperbeschwerden Häufigkeiten zwischen 20 % und 50 % in Hausarztpraxen angegeben (Nimnuan et al. 2001). Eine Allgemeinärztin mit 40 Patienten am Tag sieht demnach ca. zwei Patienten mit funktionellen Körperbeschwerden pro Stunde (Reid et al. 2001; Henningsen et al. 2018).

Zu den klassischen funktionellen Syndromen zählen das chronische Erschöpfungssyndrom (Chronic Fatigue Syndrome), für das Punktprävalenzen von 0,2–0,4 % in der Allgemeinbevölkerung ermittelt wurden (Jason et al. 1999; Nacul et al. 2011; Reyes et al. 2003), oder die Fibromyalgie. Für letztere fand sich in Großbritannien eine Punktprävalenz von 3,3 % (Gallagher et al. 2001). In einer repräsentativen deutschen Bevölkerungsstichprobe wurde sie mit 2,1 % angegeben. In einer größeren europäischen epidemiologischen Studie ergab sich in Abhängigkeit von den verwendeten Kriterien eine Punktprävalenz zwischen 2,9 % und 4,7 % (Branco et al. 2010). Funktionelle gastrointestinale Störungen (einschließlich des Reizdarmsyndroms) traten bei 3,6 % der Hausarztpatientinnen und –patienten auf (Thompson et al. 2000). Die Punktprävalenzen schwanken hier je nach zugrunde gelegten Störungskriterien (z. B. Grundmann / Yoon 2010; Rey / Talley 2009: 2,1–22,0 %). Bei Anwendung der so genannten Rome-Kriterien wird die Punktprävalenz des Reizdarmsyndroms auf 7-10 % geschätzt (Wolfe et al. 2013).

 

Tab. 2.1: Prävalenz diagnostischer Subkategorien in der Allgemeinbevölkerung (nach Wittchen / Hoyer 2011; Kleinstäuber et al. 2011)


Diagnostische KategorieArt der PrävalenzbestimmungPrävalenz
Somatoforme Störung4 Wochen7,5 %
SomatisierungsstörungLebenszeit< 0,01–0,84 %
Chronic Fatigue SyndromePunkt-Prävalenz0,4 %
FibromyalgiePunkt-Prävalenz3,3 %
ReizdarmsyndromPunkt-Prävalenz2,1–22 %

2.1.4 Spezialisierte Medizin (Fachärztinnen und Fachärzte)

Da somatoforme Symptome oftmals nicht direkt als solche erkannt werden, sind Überweisungen zu medizinischen Spezialistinnen und Spezialisten häufig. In spezielleren klinischen Kontexten (z. B. bei Fachärztinnen und -ärzten für Rheumatologie, Schmerzmedizin oder Gynäkologie) werden Häufigkeiten zwischen 25 % und 66 % für funktionelle oder somatoforme Beschwerden angegeben (Maiden et al. 2003; Snijders et al. 2004; Waal et al. 2004).


In einer Studie von Nimnuan et al. (2001) wurden Patientinnen und Patienten getrennt nach der Fachabteilung, von der sie überwiesen wurden, hinsichtlich der Anzahl ihrer somatoformen Körperbeschwerden untersucht. Die höchsten Prävalenzraten wiesen Patientinnen und Patienten auf, die von gynäkologischen (66 %) sowie neurologischen Abteilungen (62 %) überwiesen wurden, gefolgt von Patientinnen und Patienten von gastroenterologischen (58 %) und kardiologischen (53 %) Stationen. Dabei stellten sich Patientinnen und Patienten mit unerklärten Körperbeschwerden oft auch in verschiedenen Fachbereichen vor. Nonkardialer Brustschmerz kam beispielsweise häufig in kardiologischen Abteilungen vor (27,2 %), trat aber auch bei Fachärzten für Atemwegserkrankungen (39,0 %), Neurologie (21,4 %), Gastroenterologie (13,5 %) oder in rheumatologischen Sprechstunden (14,3 %) auf (Nimnuan et al. 2001). In einer Studie von Mehl-Madrona (2008) wurden Patientinnen und Patienten untersucht, die mehr als fünf Mal im Jahr die Notaufnahme aufsuchten. 11 % von ihnen erfüllten die Kriterien einer Somatisierungsstörung nach DSM-IV.

häufiger Syndrom-Overlap bei funktionellen Störungen

Bei unterschiedlichen, aber gleichzeitig bestehenden Beschwerden werden oft auch die Kriterien für verschiedene Diagnosen, wie mehrere umschriebene funktionelle Syndrome gleichzeitig erfüllt. Man spricht dann von einem Syndrom-Overlap, bei dem entsprechend bei der Diagnostik und Therapie nicht nur ein Organsystem oder eine Fachrichtung im Fokus stehen sollte, sondern eine interdisziplinäre Behandlung zielführend ist (Kanaan et al. 2007; Fink / Schröder 2010; Henningsen et al. 2018).

2.1.5 Somatische Belastungsstörung

Da die somatische Belastungsstörung (Kap. 5) erst mit Erscheinen der 5. Version des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-5, APA 2013) eingeführt wurde, ist die Prävalenz dieser relativ neuen Diagnose noch weitestgehend unbekannt. Die meisten der Patientinnen und Patienten, die zuvor die Diagnose einer somatoformen Störung erhalten haben, werden gemäß DSM-5 mit einer somatischen Belastungsstörung diagnostiziert; z. T. werden durch die beiden Diagnosen aber natürlich auch verschiedene Patientinnen und Patienten erfasst.

Die Prävalenz der somatischen Belastungsstörung lässt sich entsprechend nur auf Basis früherer epidemiologischer Studien zu somatoformen Störungen schätzen (Creed / Barsky 2004), wobei vieles darauf hindeutet, dass auch die somatische Belastungsstörung eine weit verbreitete Störung ist, die am häufigsten bei Patientinnen und Patienten in der Primärversorgung auftritt (Rief et al. 2011).

Das DSM-5 legt als neues obligates Diagnosekriterium kognitiv-emotionale und Verhaltensmerkmale im Umgang mit den körperlichen Symptomen fest (B-Kriterium). Dabei wird nicht mehr zwischen medizinisch unerklärten und erklärten körperlichen Symptomen unterschieden. Es gab in diesem Zusammenhang zahlreiche Bedenken darüber, dass die neu definierten Kriterien der somatischen Belastungsstörung zu einer „Überdiagnostik“ anhaltender Körperbeschwerden führen könnten, da die Diagnose nun auch medizinisch erklärte Symptome berücksichtigt(Kap. 5). Tatsächlich ist es aber gerade die Kombination aus somatischen Symptomen und assoziierten psychologischen Belastungen, die mit dem höchsten Leidensdruck und entsprechend mit einer Verschlechterung der Lebensqualität und einer erhöhten Inanspruchnahme des Gesundheitswesens verbunden ist, sodass davon auszugehen ist, dass die neue Diagnose weiterhin relevante Fälle identifiziert (Rief et al. 2010).


Eine Studie, in der Prävalenzdaten aus einer populationsbasierten Stichprobe zugrunde gelegt wurden, untersuchte daher im Jahr 2012 folgende drei Personengruppen zur Häufigkeitsschätzung der somatischen Belastungsstörung (Creed et al. 2012): Gesunde, Patientinnen und Patienten mit medizinischen Erkrankungen wie Herzerkrankungen und Arthritis sowie Patientinnen und Patienten mit funktionellen Syndromen wie dem Reizdarmsyndrom. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden jeweils zum Vorhandensein belastender Körpersymptome (A-Kriterium) befragt, sowie zu damit einhergehenden psychischen Belastungen (B-Kriterium). 5 % der Gesamtstichprobe bejahte dabei die Frage, ob sie sich oft Sorgen machten, möglicherweise unter einer schweren körperlichen Erkrankung zu leiden. 10 % hatten das Gefühl, dass ihre Symptomatik von ihrer Umgebung (Familie, Freunde, Gesundheitssystem) nicht ernst genommen würde. 5 % aller Befragten gaben an, dass es ihnen schwer falle, ihre Symptomatik für eine Weile zu vergessen und über andere wichtige Dinge in ihrem Leben nachzudenken.

Wurde die Diagnose dabei nur auf Grundlage der Anzahl vorhandener somatischer Beschwerden (A-Kriterium) gestellt, waren die Prävalenzschätzungen für die somatische Belastungsstörung deutlich höher, als wenn zusätzlich auch die psychologischen Kriterien (B-Kriterien: kognitive, affektive, behaviorale Belastung durch die Symptome) erfüllt sein mussten (Tab. 2.2). Beispielsweise gaben die Patientinnen und Patienten aus der Gruppe mit den medizinischen Erkrankungen zahlreiche belastende somatische Symptome an, aber die Mehrheit der Befragten mit einer hohen Symptomanzahl erfüllte dabei nur eines oder gar keines der B-Kriterien. In der Gesamtstichprobe (n=952) berichteten 6,7 % sowohl über eine hohe Anzahl belastender somatischer Symptome als auch über ein oder mehrere psychische Kriterien vom Typ B, womit die Diagnose einer somatischen Belastungsstörung erfüllt wäre. Die Prävalenz ist demnach höher als die der Somatisierungsstörung nach DSM-IV oder ICD-10, aber weitaus geringer als die der undifferenzierten somatoformen Störung mit ca. 20 %.

783 der Befragten erklärten sich in der Studie außerdem damit einverstanden, dass ihre Krankenakten im Hinblick auf medizinische Diagnosen überprüft wurden. Dabei fanden sich n=339 Befragte mit medizinischen Erkrankungen wie einer Herzerkrankung oder Arthritis und n=107 Patientinnen und Patienten mit funktionellen Syndromen wie dem Reizdarmsyndrom. Aus diesen beiden Gruppen berichteten insgesamt mehr Befragte sowohl belastende Symptome als auch begleitende psychologische Kriterien (A- und B-Kriterien) als in der gesunden Vergleichsgruppe. Doch selbst in diesen Patientengruppen, bei denen eine hohe medizinische Belastung und chronische Körperbeschwerden vorliegen, sind nicht immer die Diagnosekriterien einer somatischen Belastungsstörung erfüllt. Nicht alle Patientinnen und Patienten geben eine psychologische Belastung durch ihre Körperbeschwerden an (Tab. 2.2).

Tab. 2.2: Prävalenzschätzungen der somatischen Belastungsstörung unter Zugrundelegung verschiedener Diagnosekriterien in unterschiedlichen Teilstichproben (nach Creed et al. 2012)


Anmerkung: A-Kriterium: mind. 1 belastende Körperbeschwerde; B-Kriterien: damit einhergehende übermäßige Gedanken, Sorgen oder Verhaltensweisen

Die Daten aus dieser Studie deuten darauf hin, dass die Verwendung der neuen Diagnosekriterien der somatischen Belastungsstörung nicht zu einer stark erhöhten Prävalenz der Diagnose im Vergleich zum Status quo nach DSM-IV oder ICD-10 führt. In weiteren aktuellen Studien werden etwas höhere Prävalenzzahlen berichtet als bei Creed et al. (2012).


In einer Studie, die 156 Patientinnen und Patienten mit Fibromyalgie untersuchte, ergab sich in mehr als 25 % der Fälle die Diagnose einer somatischen Belastungsstörung (diagnostiziert nach den Kriterien des DSM-5; Häuser et al. 2015). Dessel et al. (2016) fanden in einer Stichprobe mit Patientinnen und Patienten mit medizinisch unerklärten Körperbeschwerden, dass bei 92,9 % die DSM-IV Kriterien einer somatoformen Störung erfüllt waren, aber nur 45,5 % der Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Kriterien der somatischen Belastungsstörung nach DSM-5 erfüllten. Eine Studie aus einem psychiatrischen Setting in China (Huang et al. 2016) berichtet im Unterschied dazu, dass 40,3 % der Patientinnen und Patienten die DSM-5-Kriterien erfüllten und lediglich 24,6 % die Kriterien der somatoformen Störungen nach DSM-IV.

Forschungsbedarf zur Prävalenz

Auch die Prävalenzangaben der somatischen Belastungsstörung schwanken also stark je nach untersuchtem Setting. Es bedarf weiterer epidemiologischer Studien, um die neuen Diagnosekriterien nach DSM-5, aber auch ganz aktuell nach ICD-11, systematisch zu untersuchen.

2.1.6 Kulturelle Aspekte

Somatoforme Störungen sind in allen Kulturen bekannt und auch die häufigsten körperlichen Symptome scheinen, unabhängig von der Kultur, gleich zu sein. Dennoch findet sich eine Häufung somatoformer Beschwerden in bestimmten Kulturkreisen (APA 2013; Lee et al. 2011; Rief et al. 2001). Über verschiedene Kulturen variiert vor allem die Art und Weise, wie somatische Symptome ausgedrückt werden (Kirmayer / Sartorius 2007). Somatische Symptome können in einer bestimmten Kultur eine spezifische Bedeutung haben. Die kulturelle Umgebung hat auch einen Einfluss darauf, wie somatische Symptome interpretiert werden und welche Ursache den Symptomen zugeschrieben werden. Darüber hinaus kann die Kultur beeinflussen, wie und wann Patientinnen und Patienten medizinische Versorgung in Anspruch nehmen und den Krankheitsverlauf zu beeinflussen versuchen.

 

Häufigkeit bei Flüchtlingen erhöht

In einem aktuellen Review zeigte sich, dass die Häufigkeit somatoformer und funktioneller Symptome bei Flüchtlingen aus nichtwestlichen Ländern im Vergleich zu nicht geflüchteten Personen aus der Allgemeinbevölkerung deutlich erhöht ist. Damit ist Somatisierung ein gesundheitspolitisch relevantes, aber selten adressiertes Problem in Flüchtlingspopulationen. Mögliche Erklärungen für die erhöhten Prävalenzangaben sind aufgrund der Heterogenität der in den Studien verwendeten Methodik schwer zu treffen. Sie liegen aber vermutlich in einer bei dieser Gruppe allgemein erhöhten Psychopathologie infolge von Traumatisierung, aber auch infolge eines erhöhten Stigmatisierungserlebens gegenüber psychischen Diagnosen und Behandlungen (Rohlof et al. 2014).

2.2 Komorbidität

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Angsterkrankungen und Depressionen die häufigsten Komorbiditäten bei somatoformen Störungen (und somatischen Belastungsstörungen) darstellen. Vor allem bei schweren Verlaufsformen funktioneller und somatoformer Körperbeschwerden bestehen außerdem oft komorbide Persönlichkeitsstörungen und Suchterkrankungen (v. a. Alkohol- und Medikamentenabusus).

Am Ende des aktuellen Kapitels wird auf Suizidalität als schwerste begleitende Komplikation bei somatoformen Störungen eingegangen. Die wichtigsten Differentialdiagnosen werden in Kap. 5 dargestellt.

2.2.1 Psychische Komorbidität bei somatoformen Störungen

psychische Komorbidität häufig

Eine ganze Reihe von Studien belegt die hohe Komorbidität von somatoformen Körperbeschwerden und verschiedenen anderen psychischen Erkrankungen (Fröhlich et al. 2006). Eine „reine“ somatoforme Störung ist selten und die psychische Komorbidität stellt eher die Regel als die Ausnahme dar. Komorbide psychische Erkrankungen können dabei in einem (möglicherweise wechselseitigen) ursächlichen Zusammenhang mit den Körperbeschwerden stehen. Die einzelnen Störungsbilder entstehen aber nicht notwendigerweise gleichzeitig oder verlaufen parallel. Manchmal liegen viele Jahre zwischen dem Erstauftreten der somatoformen und einer weiteren komorbiden psychischen Symptomatik, wobei sich in einigen Fällen zuerst die somatoforme Störung und in anderen Fällen zuerst die andere psychische Störung entwickelt (Hiller / Rief 1997).

Am häufigsten berichten Patientinnen und Patienten mit somatoformen Störungen zusätzlich belastende angstbezogene oder depressive Symptome (Kohlmann et al. 2016), wobei dies nicht bedeutet, dass immer die vollen Diagnosekriterien für eine Angststörung oder Depression erfüllt sind. Die Komorbidität ist so hoch, dass lange diskutiert wurde, ob funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden überhaupt eigene Krankheitsentitäten sind oder eigentlich nur Manifestationen einer depressiven oder Angststörung darstellen (Kleinstäuber et al. 2016). Dagegen spricht, dass sich, trotz hoher Komorbiditätsrate, bei ca. 20 % der Patientinnen und Patienten mit somatoformen Körperbeschwerden keine affektive Symptomatik findet, wobei die Raten hier je nach Art, Dauer und Schweregrad der Beschwerden und dem jeweiligen Versorgungssetting schwanken (Henningsen et al. 2007). Darüber hinaus sprechen hohe Komorbiditätsraten zwischen psychischen Störungen nicht grundsätzlich gegen das Vorliegen distinkter klinischer Entitäten, sondern können auch durch die zum Teil wenig spezifisch formulierten Diagnosekriterien selbst verursacht werden (Maj 2005).

Das vermehrte gleichzeitige Auftreten von somatoformen, angstbezogenen und depressiven Symptomen wird in der Primärversorgung auch als so genannte „Somatisierungs-Angst-Depressions-Triade“ beschrieben (Hänel et al. 2009).


Abb. 2.2: Überlappung von Depression, Angst und Somatisierung (n=2091 Patientinnen und Patienten aus der Primärversorgung; nach Löwe et al. 2008)

Somatisierungs-Angst-Depressions-Triade

Es wird geschätzt, dass jede / r zweite Patient / in mit einem der SAD-Syndrome (Somatisierung, Angst oder Depression) unter mindestens einem weiteren leidet (Löwe et al. 2008; Abb. 2.2). Da die entsprechenden Untersuchungen zwar einerseits eine hohe Überlappung dieser Phänomene, gleichzeitig aber auch deren Unabhängigkeit belegen (Henningsen et al. 2003; Löwe et al. 2008), wird weiterhin davon ausgegangen, dass es sich bei somatoformen Störungen, Angststörungen und Depressionen jeweils um eigenständige Krankheitsentitäten handelt. Diagnostisch wird dabei vorgeschlagen, Komorbiditäten ohne Hierarchien nebeneinander zu diagnostizieren (und auch zu verschlüsseln; Stein / Müller 2008; Kap. 5).


Eine große epidemiologische Studie aus der deutschen Allgemeinbevölkerung kam zu dem Schluss, dass Komorbidität bei insgesamt 44 % aller Fälle bei Patientinnen und Patienten mit einer psychiatrischen Diagnose vorhanden ist. Die Kombination aus somatoformen, Angst- und depressiven Störungen fand sich dabei in 4,7 % der Fälle (Jacobi et al. 2014).

In einer Studie von Rief et al. (1992) fand sich bei 47 % der untersuchten Patientinnen und Patienten mit einer Somatisierungsstörung zusätzlich auch eine depressive Störung (Lebenszeit-Diagnosen). Seltener fand sich eine Komorbidität mit einer Agoraphobie (17 %), Panikstörung (13 %), Zwangsstörung (10 %), Essstörung (17 %) oder Alkoholabusus (20 %). Nur bei 7 % der Patienten mit somatoformer Störung bestand in dieser Studie keine andere zusätzliche Störung (Hiller / Rief 1997). Auch Traumafolgestörungen treten gehäuft zusammen mit somatoformen Störungen auf. Für die Posttraumatischen Belastungsstörungen finden sich Zahlen zwischen 8 % bis 19 % (Spitzer et al. 2009; Lieb et al. 2007). In einer Studie, die im Hausarztsetting durchgeführt wurde (n >10.000), zeigten diejenigen Patientinnen und Patienten mit einer Somatisierungsstörung sechsmal häufiger ein erhöhtes Maß an Angst oder depressiven Symptomen als diejenigen ohne Somatisierung (30 % versus 5 %; Clarke et al. 2008).

Risikofaktoren für Komorbidität

Für das Vorliegen einer komorbiden Angstsymptomatik und / oder Depression bei somatoformen Störungen wurden zahlreiche Risikofaktoren identifiziert. Ein konsistent belegter Risikofaktor ist eine hohe Anzahl an somatischen Symptomen. So steigt mit zunehmender Anzahl körperlicher Symptome auch die Symptombelastung durch Angst- oder depressive Symptome. Die Art der körperlichen Symptome spielt dabei eine untergeordnete Rolle (Kroenke / Rosmalen 2006).

Als weitere Risikofaktoren gelten eine erhöhte psychische Belastung im Zusammenhang mit den somatischen Symptomen, im Sinne von übermäßigen und dysfunktionalen Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen in Bezug auf die Symptome (Dessel et al. 2016), aktuelles Stresserleben, sowie ein subjektiv als schlecht eingeschätzter eigener Gesundheitszustand (Croicu et al. 2014).

Bei Patientinnen und Patienten mit somatoformen Störungen scheinen gleichzeitig vorliegende Angstsymptome und depressive Beschwerden auch mit einer größeren Funktionseinschränkung im Alltag (Leeuw et al. 2015) sowie mit einer verstärkten Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen (Barsky et al. 2005) verbunden zu sein. Die komorbide Angst selbst kann außerdem ebenfalls weitere belastende somatische Symptome hervorrufen. Panikattacken sind beispielsweise durch Bauchschmerzen, Brustschmerzen, Diaphorese, Schwindel, Dyspnoe, Herzklopfen, Parästhesien und Zittern gekennzeichnet (Tavel 2015).

Patientinnen und Patienten mit somatoformen Störungen zeigen auch ein erhöhtes Risiko für Persönlichkeitsstörungen.


komorbide Persönlichkeitsstörungen

Eine Untersuchung ergab, dass bei Patientinnen und Patienten mit somatoformen Störungen komorbide Persönlichkeitsstörungen bei 66 % auftraten (Bass / Murphy 1995). In einer weiteren Studie wurden 94 Patientinnen und Patienten mit Somatisierungsstörung anhand strukturierter Interviews untersucht. Dabei erfüllten 61 % die Kriterien für mindestens eine Persönlichkeitsstörung. Die häufigsten Persönlichkeitsstörungen waren dabei die selbstunsicher-vermeidende, die paranoide und die zwanghafte Persönlichkeitsstörung (Rost et al. 1992).

Bezüglich der psychischen Komorbidität bei somatischen Belastungsstörungen muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass das Ausmaß bislang weitestgehend unbekannt ist, da die Diagnosen in DSM-5 und ICD-11 erst 2013 bzw. 2018 veröffentlicht wurden und daher Untersuchungen zu Komorbiditätsraten bislang weitestgehend fehlen. Zum aktuellen Zeitpunkt sind ähnliche Komorbiditätsraten wie bei den somatoformen Störungen anzunehmen.

2.2.2 Psychische Komorbidität bei funktionellen Syndromen

Auch bei den meisten funktionellen Syndromen wurde die psychische Komorbidität untersucht. Für die Rate von Depressionen bei Chronic Fatigue Syndrome finden sich Werte zwischen 19-37 % (Prins et al. 2005), bei Fibromyalgie sind es 62—86 % (Arnold 2008) und beim Reizdarmsyndrom 27-60 % (Folks 2004). Bei den komorbiden Angststörungen sind es entsprechend 13–20 % bei Chronic Fatigue Syndrome (Prins et al. 2005), 26-60 % bei Fibromyalgie (Arnold 2008), 44 % beim Reizdarmsyndrom (Folks 2004).

Interessanterweise findet sich eine psychische Komorbidität bei den funktionellen Syndromen insgesamt häufiger als bei vergleichbaren somatisch definierten Erkrankungen (z. B. Fibromyalgie vs. rheumatoide Arthritis, Reizdarm vs. Morbus Crohn / Colitis ulcerosa; Arnold 2008; Henningsen et al. 2003; Henningsen et al. 2007). Bezüglich der eingeschränkten Funktionalität im Alltag sowie der niedrigeren Lebensqualität sind die Gruppen jedoch gleichermaßen betroffen (Joustra et al. 2015).

Die Komorbidität einzelner funktioneller Syndrome untereinander, d. h. das gleichzeitige Erfüllen der Kriterien mehrerer Einzelsyndrome, ist mit ca. 50 % (10-80 %) ebenfalls als hoch anzusehen. Die Zahlen sind stark von den jeweiligen Syndromdefinitionen und Patientenstichproben abhängig, aber auch in Bevölkerungsstichproben nachweisbar.

2.2.3 Komorbidität mit körperlichen Erkrankungen

Die Frage nach somatischen Komorbiditäten erhält im Zusammenhang mit den DSM-5- und ICD-11-Diagnosen der somatischen Belastungsstörung, bei der die Ätiologie der Körperbeschwerden für die Diagnosestellung keine Rolle mehr spielt, eine neue Wichtigkeit.

somatoforme Störungen als „Ausschlussdiagnosen“

Die somatoformen Störungen nach DSM-IV und ICD-10 wurden als „Ausschlussdiagnosen“ angesehen, d. h., eine vorliegende organische Erkrankung schließt die Diagnose einer somatoformen Störung mehr oder weniger aus, zumindest wenn dieselben oder ähnliche Beschwerden im Vordergrund stehen. Ein wesentliches Merkmal der somatoformen Störungen sind unklare körperliche Beschwerden, wobei „unklar“ bedeutet, dass durch medizinische Untersuchungen keine körperliche Ursache festgestellt werden konnte, die das Ausmaß der Beschwerden ausreichend erklärt. Von einer klaren Dichotomie „organisch“ versus „nichtorganisch bedingt“ kann jedoch auch hier nicht ausgegangen werden, da auch bei den somatoformen Störungen nach DSM-IV oder ICD-10 die betreffenden Symptome organisch mitverursacht sein können. Nach der ICD-10 sind Symptome z. B. auch dann als „somatoform“ zu werten, wenn die zugrunde liegende körperliche Erkrankung nicht die Schwere, das Ausmaß, die Vielfalt und die Dauer der körperlichen Beschwerden oder die damit verbundenen sozialen Einschränkungen erklären kann (Kleinstäuber et al., 2016).