Spurensuche - 100 Jahre Frauengeschichte

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Spurensuche - 100 Jahre Frauengeschichte
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Anna Malou

SPURENSUCHE –

100 JAHRE FRAUENGESCHICHTE

Romanhafte Frauenbiografie

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2018

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Gedicht Spuren

Vorwort

Teil 1

Heute

Die Vorgeschichte

Die Flucht

Ankunft im neuen Leben

Rückkehr nach Berlin

Gedicht Förrenbach

Alfreds Eltern

Neustart in Berlin

Der Mauerbau und seine Folgen

Jugendjahre

Teil 2

Erwachsenes Leben

Zurück in Berlin

Schwesterleben – Exkurs

Familienjahre

Alleinerziehend

Wieder Familie

Endlich Freiheit

Ausblick

Nachwort

Anhang

Literaturliste

Biographie

Bibliographie

WIDMUNG

Dieses Buch widme ich mit Dank meiner Mutter, die mit ihren Geschichten mein Leben von klein auf an geprägt hat. Diese Geschichten haben mich nie losgelassen und waren der Anstoß für viele Teile dieses Buches. Jedoch sind die Personen und Handlungen frei erfunden und können keiner realen Person oder Situation zugeordnet werden. Keine Begebenheit entspricht in vollem Umfang der Realität.

Weiterhin gebe ich diese Geschichte an meine Kinder, Enkel und Nichten mit ihren Familien weiter, die mit Hilfe dieses Buches sicherlich viele Zusammenhänge verstehen werden.

SPUREN

Fühlst du sie in dir, in deinem Leben,

Schatten, die dich einholen,

die dich besiegen, immer mal wieder?

Alte Spuren, die dir in deinen Träumen begegnen,

die ein Eigenleben in deiner Seele haben.

Unverhofft und unvermittelt

kommen sie zu dir,

überrennen, überfallen, übermannen dich,

machen dich traurig und wehrlos,

denn sie sind zwar ein Teil von dir,

aber du hast sie nicht gerufen, nicht erschaffen,

sie wurden dir förmlich aufgedrängt

als Teilhabe an deinem Leben,

an dem Leben deiner Vorfahren,

das ohne sie so viel ruhiger und entspannter

hätte sein können. Und doch,

sie sind ein Teil von dir,

von deiner Familiengeschichte,

von deinem Dasein

als Mensch des 20.Jahrhunderts.

VORWORT

Das, was wir sind, ist das, was wir waren.

Wir alle sind hineingeboren in eine Kette der Menschen, unseren Vorfahren, von denen wir nicht nur viele Geschichten, sondern auch unsere Erbanlagen erhalten haben. So findet sich beim Enkel das gleiche Interesse an bestimmten Dingen wieder wie beim Großvater, so hat die Tochter die gleichen Augen wie die Urgroßmutter. Der Mensch ist ein Spielball des genetischen Materials, das bei jedem neugeborenen Menschen immer wieder neu gemischt und weitergegeben wird. Zwar können wir mit Sicherheit sagen, dass jeder Mensch immer wieder einzigartig ist, aber Teile des Aussehens, des Charakters, der Vorlieben, alles das lässt sich auf genetische Merkmale der Vorfahren zurückverfolgen. Ohne Großeltern gibt es keine Eltern, keine Kinder, jedes Kettenglied bedingt die Zugehörigkeit zu einer Familie.

Und was wäre das Leben ohne eine Familie?

Wissen muss man dazu auch, dass jede Geschichte, die erzählt wird, so viele Wahrheiten hat, wie Personen an ihr beteiligt sind, denn jeder in der Familie wird dieselbe Geschichte unter seinem persönlichen Blickwinkel und seinen persönlichen Empfindungen unterschiedlich erzählen.

Teil 1
HEUTE

Die Tür klappt, der Wind weht diese mit Schwung zu, als Britt mit energischen Schritten den Flur entlanggeht. Eine Tür reiht sich an die andere, alle mit fröhlichen Bildern geschmückt. Schließlich verlangsamt sie ihre Schritte, bleibt an der Tür mit der Katze stehen und klopft zaghaft an. Auf dieses Klopfen hin ist ein Murmeln zu hören, die Bewohnerin hat offensichtlich Mühe, nach ihrem Mittagsschlaf zu sich selbst zurückzufinden. Als sich jedoch die Tür öffnet, huscht ein Lächeln über das Gesicht der alten Dame, die in ihrem Bett liegt. Sie erkennt ihre Enkelin, die sie heute wieder einmal besucht, so wie fast an jedem Mittwochnachmittag. Britt arbeitet bei der Zeitung und will eine Reportage darüber schreiben, was ältere Menschen in ihren letzten Lebensjahren so beschäftigt, woran sie denken, welche Erlebnisse sie mit sich herumtragen. Und so kam ihr die Idee, ihre Oma nach ihrem Leben zu befragen, sie einfach mal erzählen zu lassen, von ihren Wurzeln, von ihren Erlebnissen, von ihrer Sicht am Ende des Lebens von gut achtzig Jahren.

Aus diesem Versuch, Eindrücke einzufangen, ist jedoch weitaus mehr geworden. Neben dem täglichen Kleinkram der letzten Woche entsteht eine Geschichte, die Britt mehr und mehr in ihren Bann zieht, stellt sie doch fest, dass das Leben ihrer Oma und deren Vorfahren so ganz anders gewesen ist, als sie es heute für sich lebt. Und so kommt es, dass die Lebensgeschichte ihrer Oma sich verselbständigt hat, beginnt in ihrem Kopf zu leben, und es entwickeln sich Pläne, ob man nicht vielleicht auch mehr aus den Erzählungen der Oma machen könnte. Und so macht sie sich Notizen, von dem, was ihre Großmutter ihr erzählt:

Heute, endlich, finde ich Zeit und Muße, über die Dinge zu sprechen, die mich nicht loslassen – mein ganzes Leben lang nicht. Immer wieder besteht mein Erinnerungsvermögen aus diesen Fetzen von Worten und Bildern, die in meinem Kopf wohnen, die immer wieder durchbrechen, immer wieder aus meiner Seele neu auftauchen. Oft sind sie unvermittelt da, zu Zeiten, in denen ich sie nicht erwarte, in Situationen, in denen sie völlig unpassend erscheinen. Und doch – ich mag sie, sie sind ein Teil meines Lebens, begleiten mich ständig in meiner Fantasie, und auch sie haben mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Meine Kindheit ist geprägt worden von diesen Geschichten meiner Mutter und den Erlebnissen vor allem meiner Großmütter, die sie mir immer wieder erzählten, die bei mir im Kopf bebildert wurden und mit denen ich dann lernte, zu leben und mich immer wieder auseinanderzusetzen. Viele Geschichten kenne ich wörtlich, sie wirken auf mich wie auswendig gelernt, und doch, vielleicht sind sie es nur in meinem Erinnerungsvermögen, da sie mich nie wirklich losgelassen haben.

DIE VORGESCHICHTE

Meine Großmutter, Gertrud, geboren 1898, hatte ein Schicksal, das viele hatten, und einen Lebensweg, den so viele gegangen sind. Als Kind der Mitte innerhalb einer Kinderschar von zwölf Kindern wächst sie auf, gemischte Reihe, Jungen und Mädchen. Als Kind ist ihr kaum bewusst, dass sie ein Mädchen ist und damit „anders“ als die Jungen der Familie. Jedoch mit zunehmendem Alter bemerkt sie, dass es in der Familie doch Besonderheiten gibt. Ihr Vater ist Gutsinspektor in der Uckermark in der Mark Bandenburg, hat ausreichend Möglichkeiten, für seine große Familie zu sorgen. An einen Beruf der Mutter kann sie sich nicht erinnern, ihre Mutter ist Hausfrau, so wie fast alle Mütter damals in Deutschland.

 

An einem Tag im Hochsommer sind die Kinder der Familie gemeinsam zum Baden, als gegen Abend dunkle Wolken aufziehen. Die Kinder jedoch wollen sich den Spaß von dem heranziehenden Gewitter nicht verderben lassen. Das geht solange gut, bis auf einmal etwas Unvorhergesehenes geschieht: Mit lautem Gebrüll und mit geschwungener Peitsche prescht jemand auf einem Pferd ins Wasser und treibt die dort noch badenden und juchzenden Kinder heraus: Der Vater ist sich seiner Verantwortung bewusst und kümmert sich um seine Kinder – so wie man sich offensichtlich damals um seine Kinder kümmert.

Später dann, beim Abendessen, wiederholt sich das, was alle in der Familie kennen: Die große Familie steht um den Tisch herum, nur der Vater sitzt an der Stirnseite und lässt sich das von der Mutter vorbereitete Mahl schmecken. Erst danach, als der Vater bereits satt ist, bekommt die restliche Familie die Gelegenheit, ihren Hunger zu stillen, darf sich setzen, um dann das aufzuessen, was der Vater von der Mahlzeit übriggelassen hat – eine Form der Hierarchie, die uns heute befremdlich erscheint. Und doch, es war damals so, eine andere Zeit, die sich viele heute nicht mehr vorstellen können.

Viel später dann, mit dreizehn Jahren, wird Gertrud in eine andere Familie geschickt, um dort „in Stellung“ zu gehen, das heißt, als Dienstmädchen zu arbeiten. Mit den Eltern wird nicht diskutiert, wie man sich mit dreizehn Jahren so allein in einer fremden Familie fühlt, ob die Arbeit zu schwer oder ob zehn Stunden Arbeit am Tag für ein dreizehnjähriges Mädchen zu viel sein könnten. Es war damals so und gehorsam fügen sich die Mädchen, die es zu dieser Zeit nicht anders kennen. So nebenbei lernen die jungen Frauen dann bei ihrer Arbeit, wie man einen Haushalt führt, kocht und auch Kinder betreut, denn an all’ das werden sie jetzt und in den kommenden Jahren mehr und mehr herangeführt.

Aber trotz allem hat Gertrud Glück, denn sie kommt zu einer Familie mit nur fünf Kindern, auf die sie aufpassen muss. Selbst noch fast ein Kind, fällt es ihr nicht schwer, mit den Kindern ihrer Arbeitgeber herumzutollen und diese zu beschäftigen. Jedoch, wenn es um erzieherische Maßnahmen geht, dann kann sie sich natürlich oft in ihrem jungen Alter nicht durchsetzen. „Du hast mir gar nichts zu sagen, du bist doof!“, das ist so manches Mal die Aussage der Jungen, die bei weitem nicht darauf aus sind, ihrem Kindermädchen zu gehorchen. Und so leidet Gertrud auch so manches Mal unter den Provokationen der Kinder, die sie zu beaufsichtigen hat. Bei den Mädchen ist es weitaus weniger schwierig, denn diese sind sanfter, angepasster, so dass Gertrud oft hört: „Es macht so viel Spaß, mit dir zu spielen, schön, dass du bei uns bist!“ Solche Rückmeldungen tun dem jungen Kindermädchen natürlich gut.

Jedoch, immer, wenn sie bei Festtagen im Haushalt mithelfen muss, Gäste bewirten oder auch in der Küche mitarbeiten soll, dann holt sie sich oft die Schelte ihres Hausherrn ab: „Wie kann man nur so tollpatschig sein! Kannst du denn nicht besser aufpassen?“ Mit dem Herrn des Hauses ist der Umgang schwierig, denn dieser hat einfach kein Verständnis dafür, dass das junge Hausmädchen noch viel lernen muss. Jedoch auch hier wächst Gertrud mit der Aufgabe und arbeitet sich mehr und mehr in ihr Aufgabengebiet ein.

An ein freies Wochenende ist zu dieser Zeit nicht zu denken. Lediglich am Sonntagvormittag ist eine Stunde Zeit für den Kirchgang und am Nachmittag gibt es alle zwei Wochen drei Stunden Freizeit. Im Abstand von mehreren Wochen oder zu Festtagen besteht manchmal die Möglichkeit, nach Hause zur Familie zu fahren, um dort einen Besuch abzustatten. Auch wenn die Familie manchmal nur zwanzig Kilometer entfernt wohnt, ist es eine „Weltreise“, dorthin zu gelangen. Oft müssen die jungen Mädchen auch laufen, um ihre Familie zu sehen, denn nicht immer besteht die Möglichkeit, sich mit einer Pferdekutsche von Zuhause abholen zu lassen.

Später dann, im heiratsfähigen Alter, mit sechzehn oder siebzehn Jahren, bemühen sich die Eltern, für ihre Tochter die passende Partie zu finden: Im Freundes- und manchmal auch Verwandtenkreis suchen sie nach einem passenden Ehemann für ihre Tochter Gertrud. Nur im Ausnahmefall finden sich Eheleute in ihrer Freizeit zusammen, denn so viel freie Zeit gibt es zu dieser Zeit nicht, so dass die gemeinsamen Freizeitaktivitäten sehr eingeschränkt sind. Ein Kennenlernen ist nur beim sonntäglichen Kirchgang oder bei wenigen Festen im Jahr, bei denen auch getanzt wird, möglich. Und schließlich, im Alter von sechzehn Jahren, als Gertrud zu einer hübschen, jungen Frau mit blauen Augen und einer kräftigen Figur herangewachsen ist, lernt sie beim Besuch durch ihren Bruder Heinz, der beim Militär ist, eines Tages Friedrich kennen. Friedrich ist zu dieser Zeit auch beim Militär in Zarrentin, ist ein Kamerad von Heinz und teilt sich damals mit diesem ein Zimmer.

Friedrich kommt nicht aus dem Umfeld von Berlin, vielmehr ist er in Darry bei Lütjenburg aufgewachsen, ist das zweitälteste Kind von vierzehn Kindern, die von der Mutter allein großgezogen werden. Der Vater von Friedrich ist jung an „Schwindsucht“, der Lungenkrankheit Tuberkulose, gestorben. Die Familie ist arm, sehr arm, und die Mutter hat Mühe, ihre Kinder zu ernähren. Dafür geht sie mit einer Kiepe, einem aus Weidenruten geflochtenen Korb, auf dem Rücken zu den Jahrmärkten, um dort selbst gebackene Salzbrezeln zu verkaufen. Da das jedoch zum Leben und Überleben nicht ausreicht, hilft die Mutter beim Bauern, wäscht anderer Leute Wäsche, obwohl sie damit ihre Kinder zu Hause sich selbst überlassen muss. Demnach ist es dort wie in den meisten Familien: Die älteren Kinder müssen auf die jüngeren Geschwister aufpassen und diese versorgen. Und sie müssen auch beim Bauern arbeiten, Zeitung austragen und jeden kleinen Auftrag annehmen, der hilft, die Familie zu ernähren. Es wird nicht darüber diskutiert, ob man dazu Lust hat, nein, es geht vielmehr um das Überleben, um essen und trinken. So ist es kein Wunder, dass Friedrich mit dreizehn Jahren immer noch ausschließlich Holzpantinen, also einfache Schuhe aus Holz, kennt, obwohl er im Sommer und im Winter damit weit zur Schule laufen muss. Feste Schuhe sind zu dieser Zeit für arme Kinder ein unbezahlbarer Luxus. Aber die Menschen lernen bei dieser Art zu leben sehr früh, was es heißt, Verantwortung zu tragen.

Als der 1. Weltkrieg 1914 ausbricht, hat Friedrich mit seinen fünfzehn Jahren gerade die Schule beendet und muss nach einer kurzen militärischen Grundausbildung sofort an die Front. Die Westoffensive ist sein Ziel, wo er mit seiner Kompanie in den Gräben vor Verdun lange Zeit lagert und schließlich an der Schlacht beteiligt ist. Obwohl er noch ein sehr junger Mann ist, muss er das Grauen des Krieges über sich ergehen lassen und schließlich ist er froh und erleichtert, als er nach längerem Lazarettaufenthalt wegen einer Kopfverletzung und einem Durchschuss am Bein schließlich wieder fast gesund in seine Heimat zurückkehren kann.

Dort ist für ihn der Krieg dann zu Ende, er hat als einer der älteren Söhne seine allein erziehende Mutter in Darry bei Lütjenburg zu unterstützen. Nach Kriegsende bleibt er dann beim Militär, wo er wiederum in Zarrentin stationiert ist. Dort verpflichtet er sich für zwölf Jahre zum Berufsheer. In dieser Zeit wird er erwachsen und hat viele Kontakte, die ihm wichtig sind. Auch trifft er seinen Freund Heinz wieder. Heinz Paschke ist bereits in jungen Jahren ein vierschrötiger Mann, groß, blond und kräftig, und wenn er lacht, dann bebt alles um ihn herum. Friedrich mag dessen lebenslustige Art und verbringt viel Zeit mit seinem Freund.

So kommt es, wie es kommen muss, dass Heinz’ Schwester Gertrud eines Tages zu Besuch kommt und somit auch Friedrich wiedertrifft. Und es dauert nicht lange, da kommt Gertrud des Öfteren zu Besuch, da sie offensichtlich an dem großen und schlanken Friedrich mit den blauen Augen Gefallen gefunden hat. Auf dem Stadtfest dann, als Gertrud wieder einmal zu Besuch ist, gehen sie zu dritt zum Tanzen und Friedrich und Gertrud verbringen nicht nur den ganzen Abend, sondern auch die Nacht zusammen. Heinz sieht diese Freundschaft mit Skepsis, denn er will seinen Freund nicht verlieren, falls dessen Freundschaft mit seiner Schwester in die Brüche geht.

Und schließlich, auf einmal und fast unerwartet, ist Gertrud schwanger von Friedrich, obwohl sie nicht verheiratet sind. Zu der damaligen Zeit mit den völlig anderen Moralvorstellungen ist das mit der Katastrophe eines Weltunterganges vergleichbar. Es folgen bittere Worte zwischen dem Liebespaar, Friedrich ist sich nicht sicher und will eher die Freundschaft beenden, als Vater zu werden. Jedoch allein mit Reden ist dieses Problem nicht zu lösen und schon muss etwas geschehen: Als Bruder der werdenden Mutter knöpft sich Heinz seinen besten Freund vor und redet Klartext. Und so kommt es, wie es kommen muss, es wird geheiratet.

Für eine große Hochzeit hat das junge Paar kein Geld, und demnach wird im kleinen Rahmen mit Freunden und in der Familie gefeiert. Gertrud ist also nun nicht mehr in Stellung bei Ihrer Arbeitgeberfamilie, ab sofort ist sie Hausfrau und führt Friedrich den Haushalt, während dieser weiterhin beim Militär sein Geld verdient. Inzwischen jedoch ist seine dortige Tätigkeit durchaus nicht mehr kriegerisch, vom Krieg hat er die Nase voll. Und so hat er andere Neigungen bei sich entdeckt: Er führt beim Regiment den Musikzug als Tambourmajor an. Auch wenn er dafür keine Ausbildung hat, lernt er schnell, ist musikalisch. Das bringt ihm nicht nur ein großes Ansehen ein, sondern auch mehr Geld und macht ihm zudem noch viel Freude.

Es ist also eine glückliche Zeit, diese Zeit der ersten Ehemonate. Und schließlich, nach sieben Monaten erblickt – für jeden, der rechnen kann, zu früh – Ursula das Licht der Welt. Die Geburt ist schwierig, findet zu Hause statt, nur mit der Unterstützung einer Hebamme. Das Kind ist sehr groß und die Mutter sehr klein und somit ist es klar, dass diese Geburt mit Komplikationen behaftet ist. Und doch, nach einigen Monaten, sind auch diese Strapazen vergessen und Ursula wächst zu einem entzückenden kleinen Mädchen heran, welches von allen bewundert wird, und sie selbst ist sich ihrer Rolle als einziges kleines Kind im großen Verwandtenkreis mit vielen Onkel und Tanten, die sie alle vergöttern und beschenken, voll bewusst.

Der Vater, der zuerst keiner werden wollte, ist jedoch nicht zu bremsen, so vernarrt ist er in dieses kleine Mädchen. Ungeniert schiebt er seine Tochter, im Kinderwagen sitzend, vor der Kaserne die Straße auf und ab. Das ist für die damalige Zeit, in der Kinder Frauensache sind, eine Seltenheit und der Vorgang als solcher entlockt so manchem Soldaten ein befremdliches Grinsen und so manche spöttische Bemerkung. Aber Friedrich lässt sich nicht beirren und liebt seine Tochter abgöttisch und zeigt das auch jedem, der es sehen will, und auch anderen, die es vielleicht nicht sehen wollen.

Diese Jahre sind glückliche Jahre, in denen Friedrich Arbeit hat, die seine Familie ernährt, und Gertrud Zeit hat, sich mit ihrem Kind zu beschäftigen. Als Hausfrau und Mutter fühlt sich Gertrud zu dieser Zeit glücklich und zufrieden, auch wenn ihr Mann so manches Mal spät nach Hause kommt, weil er mit seinen Kameraden einen über den Durst getrunken hat.

Wenige Jahre später werden Friedrich und Heinz mit ihrem Regiment versetzt, um in Berlin weiterhin ihren Dienst zu tun. Die große Stadt ist aufregend und neu, und es findet sich eine schöne Wohnung in der Nähe des Tiergartens. Fein angezogen, im weißen Kleidchen, geht Gertrud nun mit ihrer Tochter häufig im Tiergarten spazieren, freut sich an ihrem kleinen Mädchen und passt auf, dass beim Spielen das weiße Kleidchen nicht schmutzig wird. Das Wäschewaschen ist zu der damaligen Zeit viel problematischer als heute, von Waschmaschinen hat man zu dieser Zeit noch nichts gehört.

Und so vergehen die Jahre, Ursula wächst heran und ist schließlich etwa elf Jahre alt, als Ihr Vater die Zeit des Dienstes beim Heer beendet hat. Ursprünglich soll er eine stattliche Abfindungssumme erhalten, aber leider hat er eine große Dummheit gemacht: Er hat einem Freund, den er gut kennt, auf dessen Drängen fast die gesamte Summe geliehen. Und nun ist der Freund auf einmal verschwunden und somit das ganze Geld, welches eigentlich der Start in eine neue Berufslaufbahn hätte sein sollen. So ziehen dunkle Wolken am Ehehimmel auf, denn auf einmal verliert die Familie dadurch ihre Existenzgrundlage.

 

Mit großer Verzweiflung muss die schöne Wohnung verlassen werden, und die Familie zieht in den dritten Hinterhof nach Wedding, einem Stadtteil von Berlin. Von nun an kann Ursula nicht mehr im schönen Tiergarten spielen, ihre Umgebung verwandelt sich von einem Tag auf den anderen in eine dunkelgraue Steinwüste. Auch ist es nicht möglich, von der Mutter zehn Pfennig für den Schwimmbadbesuch zu bekommen, bittere Armut hat die Familie erfasst, die zehn Pfennig werden für den Einkauf von Milch benötigt. So vergehen die Monate, bis der Vater schließlich wieder eine Arbeit findet, zwar nicht mehr so gut bezahlt, aber Arbeit. Fortan fährt er mit der Pferdekutsche durch Berlin, um für eine Brauerei die Bierfässer auszufahren. Das ist zwar eine körperlich sehr schwere Arbeit, aber auf dem Bock sitzt er zusammen mit seinem Kollegen Willi, mit dem ihm die Arbeit Spaß macht.

Trotz allem, Ursula hat liebe Eltern, die sich gut um sie kümmern, die sich mit ihrer Tochter gut verstehen. Vor allem der Vater vergöttert seine Tochter und versucht liebevoll alles für sie zu tun. Die Mutter dagegen ist strenger, verständlich, muss sie doch den Alltag zusammen mit ihrer Tochter meistern, während ihr Mann bei der Arbeit ist.

Und wieder vergehen die Monate und schließlich kommt eine weitere Lebenswende: Am Stadtrand von Berlin, in Malchow, wird eine neue Siedlung, die Kleingartenanlage Märchenland, erbaut. Hier kann man günstige Kredite bekommen und kann auch das fehlende Eigengeld als Arbeitsleistung einbringen. Nach einem Jahr Bauzeit zieht die Familie in ein Halbhaus mit großem Garten im Lichtelfenstieg ein. Zwar ist das Geld immer noch sehr knapp, aber Vieles lässt sich mit dem Anbau von Kartoffeln und Gemüse wieder wettmachen. Die Familie hält Enten und Gänse, Hühner und Kaninchen bereichern den Speisezettel. So folgen wenige, ruhige Jahre, in denen die Familie im Aufbau begriffen ist. Die Familie hält zusammen und hat zwar viel Arbeit, fühlt sich aber glücklich mit ihren Zukunftsplänen und Träumen. Und schließlich liegt das Material schon bereit, mit dem endlich das Dachgeschoss des eigenen Hauses ausgebaut werden soll. Jedoch wird es dazu nicht mehr kommen.

Bald findet Ursula eine Freundin in der Schule, Irmchen aus Weißensee, mit der sie viel Zeit verbringt. Sie besuchen sich gegenseitig, bleiben an vielen Wochenenden zusammen bei ihren Familien, gehen im Sommer baden und machen im Winter Schneeballschlachten. Ab und zu ist auch ein Kinobesuch möglich, wenn das Geld denn reicht. Und so lernt Ursula eines Tages auch den Cousin von Irmchen kennen, Alfred, einen dunkelhaarigen, schlanken Jungen, zwei Jahre älter, der mit seiner dünnen, schlaksigen Figur und seinen grünen Augen und lachenden Grübchen ihr Interesse weckt. Wenn es etwas auszuprobieren gibt, dann ist Alfred zweifelsfrei immer mit dabei. Und so treffen sie sich nicht nur einmal, sondern mehrfach im Laufe der unbeschwerten Jahre des Heranwachsens.

Jedoch ist das offensichtlich die Ruhe vor dem Sturm gewesen, denn es folgen nun Zeiten, in denen Gertrud morgens mit Friedrich zu dessen Arbeit geht, um den Tageslohn sofort an sich zu nehmen. In dieser Zeit, als das Brot eine Billion Reichsmark kostet, kann man morgens noch ein Brot für den Tagesverdienst kaufen, aber abends wäre das mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr möglich gewesen. Also, es gibt Sorgen auf der ganzen Linie, der Blick in eine ungewisse Zukunft.

Immer wieder ist im Straßenbild zu sehen, dass lange Menschenschlangen darauf warten, als Arbeitslose ihre staatliche Unterstützung, das sogenannte Stempelgeld, abzuholen. An heißen Sommertagen fallen diese Menschen wie die Fliegen um, wenn sie stundenlang warten müssen, um das Nötigste zum Überleben zu bekommen. Also, für die heranwachsende Ursula eine beängstigende Situation, auch weil die Eltern ihr immer öfter mit sorgenvoller Miene begegnen. Es ist eine völlig andere Zeit, kaum jemand hat damals ein Konto bei der Bank.

Zugleich fängt die Politik an, immer mehr eine zentrale Rolle im Leben der Menschen einzunehmen. Durch die Wirtschaftskrise und die Hyperinflation aufgrund der harschen Vorgaben der Friedensverträge von Versailles nach dem 1. Weltkrieg radikalisiert sich die Gesellschaft und macht sich verwundbar für Agitation von der extremen Linken und Rechten. Eine neue Bewegung, die Nationalsozialisten, erlangt immer mehr politischen Einfluss. Die Gruppierung ist ab 1930 als politische Kraft nicht mehr zu ignorieren und prägt den politischen Diskurs in völkisch-nationalistischer Weise.

Die Nachrichten im Radio sorgen täglich für Gesprächsstoff, für hitzige Debatten, für Meinungsverschiedenheiten untereinander. Sogar mit seinem Arbeitskollegen und Freund Willi kann Friedrich nicht einer Meinung sein. Die politischen Meinungen spalten aber nicht nur Freunde, sondern auch ganze Familien, der Riss mit der Frage dafür oder dagegen verändert Vieles. In dieser Zeit gibt es nur schwarz oder weiß, Grautöne sind nicht mehr zugelassen. Und dann wird Adolf Hitler am 30.1.1933 durch die Bestimmung von Hindenburg zum Kanzler ernannt. Hindenburg hatte zuvor am 24.3.1933 mit dem Ermächtigungsgesetz seine 2/3 Macht des Reichstages auf Hitler übertragen.

In den folgenden Jahren wird der politische Drill immer größer, wer nicht dafür ist, der ist dagegen und hat somit Sanktionen auszuhalten. Spätestens seit der Reichspogromnacht ist jedem, der politisch interessiert ist und Augen hat, klar, dass etwas Besonderes passiert. Es wird getuschelt, es wird aber weggesehen, es sei denn, man kommt bei politischen Auseinandersetzungen oder Verfolgungen von Juden, Sinti, Roma, Oppositionellen, Homosexuellen, Kranken usw. direkt dazu. Jedoch haben die Menschen alle Angst, Angst davor, sich so in die Öffentlichkeit zu stellen, dass sie selbst ins Visier der Mächtigen geraten könnten. Die Menschen sind eben in der Masse feige.

In dieser Zeit wächst Ursula heran, und als der zweite Weltkrieg ausbricht, da ist sie gerade vierzehn Jahre alt. Das Leben ändert sich sehr schnell für alle: Vater Friedrich muss wiederum Soldat werden und Mutter und Tochter müssen alleine zurechtkommen. Ursula besucht inzwischen die weiterführende Handelsschule, was sie immer mehr ins Zentrum von Berlin bringt. Dort verabredet sie sich so manches Mal am Abend, um mit ihrer Freundin Irmchen ins Theater oder ins Kino zu gehen.

Aber auch zum BDM – Bund Deutscher Mädel – muss Ursula wie alle jungen Mädchen gehen, denn es gibt eine gesetzlich geregelte Pflichtmitgliedschaft. Die politische Erziehung erfolgt dort unter anderem auch in der Richtung, dass gesagt wird: „Auch die deutsche Frau hat ihr Schlachtfeld: Mit jedem Kinde, das sie der Nation zur Welt bringt, kämpft sie ihren Kampf für die Nation“.1

Schließlich kann Ursula eines Tages am Alexanderplatz sogar einen riesigen Aufmarsch der NSDAP und die Ansprache vom „Führer“, Adolf Hitler, erleben. Das ist eine Situation, die sie genauso wie andere junge Menschen ihrer Generation begeistert. Auf diese Art sind die ersten Kriegsjahre in Berlin weniger dramatisch. Nur Friedrich, der Vater der Familie, wird von seinen Frauen – Ehefrau und Tochter – auf das Heftigste vermisst. Besonders dann, wenn lange Zeit keine Feldpost zu Hause eintrifft, ist die Angst groß, es hätte etwas passiert sein können. Warten auf Nachricht, warten auf ein Lebenszeichen, das ist Alltag in jener Zeit.

Um auch im Winter überleben zu können, müssen Kohlen herangeschafft werden. Da jedoch der Mann im Hause fehlt, hat Gertrud die Idee, einen Schlitten anzuschaffen, um damit die Kohlen transportieren zu können. Nun ist Ursula voller Freude über diesen Schlitten, hat sie doch noch nie in ihrem Leben einen solchen besessen. Und so kommt es, wie es kommen muss: Ursula findet eine andere Verwendungsmöglichkeit für diesen Schlitten und saust damit lauthals juchzend den Hügel in der Nähe ihres Hauses herunter. Damit jedoch erntet sie viel Tadel von ihrer Mutter, die nicht verstehen kann, dass „so ein großes Frauenzimmer“ wie ein Kleinkind mit dem Schlitten spielt. Also verbietet die Mutter ihrer vierzehnjährigen Tochter kurzerhand, mit dem Schlitten zu fahren. Dieser ist nur zweckgebunden zu benutzen, seine Daseinsberechtigung gilt den Kohlen.

Dann kommt Weihnachten 1940, als seit längerer Zeit kein Brief vom Vater eingetroffen ist. Am Heiligabend sitzen Ursula und ihre Mutter zusammen in ihrem Wohnzimmer, aber beiden ist nicht nach Feiern zumute. Draußen ist es bitterkalt, und als es endlich dunkel wird, ist Bescherung: Es gibt ein Paar selbst gestrickte Fausthandschuhe für Ursula – das ist alles an diesem unglücklichen Weihnachten. Zu dieser Zeit ist Ursula gerade fünfzehn Jahre alt. Als dann wenig später nach dem kärglichen Mahl auch noch Bubi, der hübsche blaue Wellensittich, tot von seiner Stange im Käfig herunterfällt, sind sich beide, Mutter und Tochter, einig, dass dieses Weihnachtsfest das Traurigste ist, welches beide bisher erlebt haben.

Und trotzdem vergeht die Zeit, und endlich, nach weiteren vier Wochen des Wartens kommt ein Lebenszeichen vom Vater: Ein Paket aus Frankreich wird abgeliefert! Ungeduldig wird dieses von den beiden Frauen geöffnet und herausfallen zwei Paar schönster französischer Schuhe und ein langer Brief aus dem Feldlazarett, in dem sich der Vater zu dieser Zeit wegen einer kleineren Verletzung befindet. Leider gibt es jedoch diese Schuhe nur in Größe 40, das ist das Größte, was der Vater hat auftreiben können. Da Ursula jedoch größere Füße hat, ist es klar, dass sie sich trotzdem in diese schönen, neuen Schuhe zwängt. Wer weiß damals schon, dass das der Anfang von lebenslangen Fußproblemen sein sollte, denn wer in jungen Jahren ständig zu kleine Schuhe trägt, der bekommt Verwachsungen an seinen Zehen.