heimatlos

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DPG Tagungsband 2016

Herausgeber: Ingo Focke, Gerhard Salzmann

unter Mitarbeit von: Annegret Dieterle, Inge Gmelin und Thomas Wesle

Inhalt

1. Editorial – Ingo Focke

2. Prolog – Annegret Dieterle, Friedemann Schmoll, Jürgen Keim

3. Frühe Entwicklungen

a. Zuhause, Heimatlosigkeit und Nirgends-Sein in der frühen Kindheit – Joshua Durban

b. „Man hat das Gefängnis … immer noch sehr geliebt“ – Christoph Frühwein

c. Die Urheimat vor der Geburt als Tiefendimension von Heimat – Ludwig Janus

d. Liebe ist Heimweh – Peter Messe

4. Ersatzheimaten

a. Von der Unvermeidlichkeit des Heimatverlustes und der Fähigkeit, neue Heimaten zu schaffen – Mario Erdheim

b. „Beheimatungsversuche“ im Ghetto Theresienstadt (1942-1944) Die Tagebücher von Egon Redlich – Eva Gaal (†) und Sigmund Mang

c. Freud und das Vaterland im Ersten Weltkrieg – Frank Dirkopf

d. Heimat? – Los! – Karla Hoven-Buchholz

e. Die Heimat(losigkeit in) der Psychoanalyse – Michael Pavlović

5. Flüchtlingsschicksale

a. Exil und Heimatlosigkeit im Schatten extremer Traumatisierung – Sverre Varvin

b. Risse in Beziehungen – Psychoanalytische Psychotherapie mit Migranten der zweiten Generation – Alexander Frohn

c. Heimatverlust und seine psychosozialen Spätfolgen bei Flüchtlingen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten am Beispiel der schlesischen Spätaussiedler – Norbert Mierswa

6. Psychoanalyse und Fremdheit

a. Heimat ist kein Ort – Anna Leszczynska-Koenen

b. Wieviel Fremdheit braucht eine Psychoanalyse? Psychoanalytisches Verstehen zwischen kultureller Nähe und Distanz – Paola Francesca Acquarone

c. Die Heimatlosigkeit des Psychoanalytikers in der Begegnung mit dem Fremden – Astrid Kloth, Annette Wieder

d. Braucht Heimat einen Ort? Menschen auf der Suche nach Heimat in der Fremde – Hermann Hilpert

e. „Seelische Wahrheit als Heimat“ – Die Verschränkung von äußeren und inneren Räumen in Louise Bourgeois’ Werk – Bettina Hahm

7. Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

Impressum

Editorial

Un-heimlich bestürzt und fassungslos-verstört in Anbetracht der näher rückenden Kriege und des Terrors suchten die Teilnehmer der Jahrestagung 2016 der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in Stuttgart in Vorträgen, Seminaren und Arbeitsgruppen nach einem Zugang, um sich mit den Ursachen und Folgen von Vertreibung, Entwurzelung, Verlust von Vertrauen und von Geborgenheit auseinander zu setzen und fragten sich mit Jean Améry: „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“ Viele Millionen Menschen sind heimatlos und auf der Flucht. In unserem Land werden wir an Zerstörungen, Leid und Vertreibungen erinnert, die von Deutschland ausgingen, und wir denken an den Zusammenbruch 1945, in dessen Gefolge Millionen Vertriebene eine neue Heimat suchten. Diese historischen Erfahrungen sind in vielen Familien als psychisches Erbe eingeschrieben, werden wieder lebendig und äußern sich nicht selten in entstellter Form. Inzwischen haben Flüchtlingsbewegungen auch Mitteleuropa erreicht und schaffen in Deutschland eine ganz neue Situation. Der Empfang ist sehr unterschiedlich. Mitgefühl und eine große, 2015 sogar überschwängliche Hilfsbereitschaft zeigen Sicherheit und Einfühlungsvermögen der hier Ansässigen, aber den Flüchtlingen schlagen auch Ablehnung und Feindseligkeit entgegen. Auf eine allen innewohnende Repräsentanz des Fremden werden einerseits Wünsche und Hoffnungen projiziert, ebenso aber auch alles, was im eigenen Inneren unakzeptabel ist und Angst macht. Flüchtlinge bringen ihre Gewalt- und Todeserfahrungen mit, werden als „Boten des Unglücks“ (B. Brecht) bekämpft, aber auch als Mutige beneidet. Dabei sind Vertreibung, Flucht, Exil und Auswanderung Teil der Geschichte der Menschheit, und „heimatlos“ zu sein ist eine anthropologische Grundkonstante. „Heimatlos“ muss nicht nur mit Verlust, Trauer, Schmerz, Trennung, Traumatisierung und Verunsicherung verknüpft sein. (Die) Heimat-los zu sein, wird mit Hoffnungen auf einen Neuanfang, auf Entwicklung und auf die Verwirklichung der eigenen Träume verbunden.

Für die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft – wieder beheimatet in der IPV – ist die Beschäftigung mit Heimatlosigkeit in besonderem Maße belastet und die Begrifflichkeit selbst umstritten. Viele Psychoanalytiker mussten vor der Verfolgung durch die Nazis ins Exil fliehen. Die Psychoanalyse wurde aus Deutschland verbannt, kam selbst ins Exil und fand in anderen Sprachen eine neue Heimat.

„Heimat“ hat einen spezifisch deutschen Assoziations-Kontext, der durch eine romantische Verklärung im 19. Jahrhundert, den Missbrauch in Nazideutschland und die Heimatvertriebenenverbände genährt wurde. Wir stoßen einerseits auf ein sentimentales Bild von Herkunft, welches deutliche Zeichen einer nachträglichen Zuschreibung trägt und in sich rückwärtsgewandt ist, wie in der Vorstellung von einer „guten Zeit“, die es nie gegeben hat. Andererseits finden wir eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Vertrautheit und Sicherheit, die auch in die Zukunft gerichtet wird. Vertrauen in sich selbst und das Leben muss sich bei jedem einzelnen Menschen erst entwickeln, in enger Verbundenheit und in völliger Abhängigkeit von einem Anderen. Diese Entwicklung ist störanfällig. Viele Menschen begegnen in sich selbst einem Gefühl von Fremdheit, Verlorenheit und Angst, bleiben zeitlebens auf der Suche nach Sicherheit und Geborgenheit, geben sich auf oder ziehen sich zurück, z. B. in eine Sucht, oder sie verlieren ganz den Bezug zu ihrer Welt, wie in einer Psychose, in autistischen Zuständen oder einer schweren Depression. In der Zusammenstellung der folgenden Arbeiten geht es also nicht nur um den Verlust einer „äußeren Heimat“, sondern auch um die Entwicklung des Sicherheitsgefühls, die Regulierung des seelischen Gleichgewichts, die Folgen schwerer Traumatisierungen und Defizite und um ihren Niederschlag in den menschlichen Beziehungen. So spannte sich der thematische Bogen dieser Zusammenstellung psychoanalytischer Arbeiten weit und berührt empirische Kulturwissenschaft, Begriffsgeschichte, Entwicklungspsychologie, Identitätsfragen, Geschlechtszugehörigkeit, transgenerationelle Weitergaben, interkulturelle Verständigungen, das Schicksal von Flucht, Vertreibung, Exil und Migration über Generationen hinweg und die Suche nach Heimat in der Fremde.

Die Teilnehmer der Tagung, die von Donnerstagabend bis Sonntagmittag währte, besannen sich immer wieder und fragten sich, wo sind wir gerade, aus welcher Perspektive schauen wir auf dieses Thema, auf dieses Gefühl, auf diese Geschichte. Sie fragten sich, bewegen wir uns in Bildern und Kategorien einer inneren Welt, in sozialen, kulturellen oder politischen Vorstellungen oder im familiären Kontext und in der Entwicklungspsychologie jedes einzelnen Kindes. Und immer konnten sie feststellen, wie die Prinzipien der Nachträglichkeit und der Rationalisierung am Werke sind und wie die eigene Geschichte in der Gegenwart nachwirkt. Auf diese Weise erlebten die Teilnehmer der Tagung selbst in einem eigenen Prozess der Selbsterfahrung, wie aus Fremdheit und Verlorenheit etwas Gemeinsames und Verbindenden entstehen kann.

Im Begriff Heimat verdichten sich intensive ambivalente Empfindungen. Sie verweisen auf ein grundlegendes menschliches Problem, sich aufgehoben, geborgen und zugehörig fühlen zu können, und sich doch losreißen zu wollen, um sich dann auf die Suche nach dem Verlorenen zu begeben. Bei einer Sehnsucht nach einem vergangenen Gefühl wissen wir nicht, ob wir es je erlebt haben. Entwicklung und innere Arbeit verlaufen entlang beider Zeitachsen, wie es einmal war und wie es gewesen sein könnte. Nachträglich und rückwärtsgewandt entsteht dann eine „Heimat“ mit intensiv besetzten Bildern, Gerüchen, Szenen und Gefühlen aus der Kindheit als Verdichtung von Verlust und Sehnsucht.

 

Alle aus der älteren Generation werden sich erinnern, wie sie nach dem 2. Weltkrieg in einem zerstörten Land aufwuchsen, selbst Flüchtlinge waren oder sie als neue Nachbarn bekamen, die oft nur verschämt über die verlorene Heimat sprachen und sie am Leben zu halten suchten. Dann entstanden verklärende Bilder, der Schmerz über das Verlorene war nicht ohne Selbstmitleid. Ein Mitfühlen und die Übernahme von Verantwortung für das Entsetzen, welches von Deutschland aus in die Welt gebracht worden ist, sollten sich erst viel später entwickeln.

Wenn Psychoanalytiker wie alle anderen überwältigt sind von den rasanten Veränderungen, müssen auch sie sich erst einmal orientieren. Wie entwickelt sich eigentlich ein Gefühl des Beheimatetseins, was heißt es, sich zu Hause zu fühlen? Wie kommt es zur Ausbildung eines fundamentalen Sicherheitsgefühls, zur Entwicklung einer Beziehung zu einem guten inneren Objekt? Wie ist es überhaupt möglich, dass wir uns auf dieser Welt heimisch fühlen können – angesichts der entsetzlichen traumatischen Erfahrungen, die eine Beheimatung in der Welt und im eigenen Körper zerstören können? Wie gestaltet sich die Entwicklung, von Kindern, die wenig Hilfe bekommen, um sich ausreichend sicher zu fühlen, oder die mehr Hilfe benötigen als andere? Wir haben es dann mit besonders schwierigen Behandlungen zu tun, die einen Analytiker mit unerträglichen Affekten in Berührung bringen.

Wir freuen uns, dem Leser eine Auswahl der Vorträge zu diesen Themen präsentieren zu können. Die Herausgeber haben sie vier Themen zugeordnet.

Diesen voran stellen wir einen überarbeiteten Prolog, mit dem die Tagung in Stuttgart eröffnet wurde. In einer gemeinsamen Reflektion des empirischen Kulturwissenschaftlers Friedemann Schmoll mit den Psychoanalytikern Annegret Dieterle und Jürgen Keim soll versucht werden, sich dem Thema „heimatlos“ zu nähern. In einem ersten Schritt werden aus nicht-psychoanalytischer Sicht Fragen an den Begriff „Heimat“, seine Geschichte und seinen Bedeutungswandel gestellt. Es gilt den Blick zu weiten über den Assoziationshof hinaus, der „Heimat“ seit seiner Verwendung im nationalsozialistischen Deutschland bis heute begleitet. In seiner langen Geschichte changierte seine Bedeutung zwischen Humanisierungsversprechen und Ausgrenzungspraktiken. Heimat lässt sich in Bezug auf Raum, Zeit, Entwicklung, Ursprung und sozialer Zugehörigkeit verorten, bewahrt aber doch seine Vielschichtigkeit und bleibt in sich widersprüchlich. In einer ersten assoziativen Annäherung werden grundlegende psychoanalytische Begriffe ausgeführt und Schwierigkeiten benannt, nicht nur von Heimatlosigkeit, sondern über „heimatlos“ zu sprechen. Daraus resultieren Fragen nach dem Heimweh und was dieses in unfreiwilliger Fremde anrichten kann. Ihnen wird erneut aus historischer Perspektive nachgegangen. Schließlich erfahren die Überlegungen eine Bündelung und erste systematische Erörterung, um zu der Einsicht zu gelangen: Die Ankunft in einem neuen, fremden Land bedürfen zur Herstellung biographischer Kontinuität des resonanten Anderen, der Empathie und Anerkennung.

In „Frühe Entwicklungen“ findet der Leser Arbeiten zum Sicherheitsgefühl, seiner Entstehung und seinen fundamentalen Störungen. Zum Teil ausdrücklich, zum Teil indirekt beziehen sich die Autoren auf ein Zitat von Freud, der in Das Unheimliche meinte, dass es ein Heimweh gebe nach der „alten Heimat des Menschenkindes, zur Örtlichkeit, in der jeder einmal und zuerst geweilt hat“ (Freud 1919, S. 259). Es geht um frühe Zustände und Phantasien: vorgeburtlich, geburtlich und um die ersten Monate des Menschenkindes. Die Autoren legen ihr Augenmerk auf die Frage, ob man den Heimatbegriff mit frühen Erfahrungen in Verbindung bringen und für psychoanalytisches Verständnis fruchtbar machen kann. Die Existenz im Mutterleib wird oft idealisierend und verklärend als ein verlorenes Paradies symbolisiert, in den nachfolgenden Arbeiten hingegen werden Spuren der Erfahrungen von Anfang an in einen spannungserfüllten Kontext gebracht. Joshua Durban bringt den Leser in Zuhause, Heimatlosigkeit und Nirgends-Sein in der frühen Kindheit mit psychischen Zuständen in Kontakt, die noch jenseits einer Heimaterfahrung und ihres Verlustes liegen. Das Leiden an einem Zustand der völligen Ortlosigkeit zeigt er in der gleichzeitigen Behandlung von einem Vater und seinem autistischen Sohn auf. Die Psychoanalyse und der Psychoanalytiker bekommen im Grenzbereich fundamentaler Ängste, Verwirrung und namenlosen Schreckens die Aufgabe, selbst erst einmal dabei helfen zu müssen, einen Raum zu schaffen, in dem sich Sicherheit, Aufgehoben-Sein und Vertrauen entwickeln können. Dieser therapeutische Weg führt den Behandler in unerträgliche innere Zustände und kann Modifikationen der Behandlungstechnik nötig machen. Durban führt aus, wie sich ein Gefühl, in der Welt beheimatet zu sein, erst allmählich entwickelt. Es ist eingebettet in eine psychisch-körperliche Gesamterfahrung, die die Mutter einschließt, in die Internalisierung einer Erfahrung von sich selbst im Innenraum der Mutter und in die Erfahrungen der ödipalen Situation, die mit Verlust, Trauer und Sehnsucht einhergehen. Wie in dieser verstörenden kasuistischen Schilderung nacherlebbar, können wir es in einer Behandlung mit inneren Zuständen zu tun bekommen, die als inneres Niemandsland (Nowhereness) bezeichnet werden. Christoph Frühwein untersucht in „Man hat das Gefängnis … immer noch sehr geliebt“ – Innere Heimat: Zusammenfall des ‚potenziellen Raums‘ und Rückzug ins ‚Klaustrum‘ anhand einer ausführlichen Vignette den inneren Zustand eines Analysepatienten und beschreibt dessen einerseits schreckliche, andererseits Schutz bietende „innere Heimat“. Dabei nutzt er die Konzepte eines Übergangsraums wie bei D. Winnicott und T. Ogden und des Klaustrums nach D. Meltzer und ermöglicht es so, die Zusammenhänge zwischen äußerer Beheimatung und dem Erleben von Beheimatet-Sein besser zu verstehen. Ludwig Janus möchte die Leser in Die Urheimat vor der Geburt als Tiefendimension von Heimat darauf aufmerksam machen, dass seit der Auseinandersetzung von Rank und Freud über die Bedeutung der realen Geburt für die weitere psychische Entwicklung eine nicht verarbeitete Spaltung die psychoanalytische Theoriebildung durchziehe. Er geht davon aus, dass sich hinter unbewussten Fantasien reale vorgeburtliche und geburtliche Erfahrungen verbergen können, die es gilt aufzuspüren und ernst zu nehmen. Dieser Blickwinkel eröffne praktische Hilfestellungen in den Berufsfeldern, die sich mit dem Anfang des Lebens befassen, wie die Geburtshilfe, die Geburtsvorbereitung und die Schreiambulanzen. Darüber hinaus zeigt Janus die Relevanz der Pränatalen Psychologe für alle Psychotherapien auf. Peter Messer entwickelt in Liebe ist Heimweh anhand von neun Thesen, dass der regressive Kontakt zu unserer Urheimat wie auch der Verlust derselben in einer Pendelbewegung notwendig für psychische Entwicklung sind. Als Prototyp für diese Entwicklung wählt er die „Liebe als sehnsuchtsvolle Suche nach tiefer Verbindung und Vereinigung“. Dabei spannt er seine Untersuchung weit – von Sloterdijk über Platon zu den Befunden der Pränatalen Psychologie, den Ultraschalluntersuchungen von A. Piontelli bis hin zu Chasseguet-Smirgels Beschäftigung mit Sexualität.

Unter der Überschrift „Ersatzheimaten“ findet der Leser Arbeiten von Autoren, die sich damit befassen, wie neue Heimaten die vertrauten ersetzen und dem Versuch dienen, neue Lösungen für den elementaren Wechsel zwischen Geborgenheit und ihrem Verlust zu erkunden. Mario Erdheim beschreibt in Die Unvermeidlichkeit der Heimatlosigkeit und die Fähigkeit, neue Heimaten zu schaffen die Dichotomie, wie Heimat und wie auch Familie einem fremd werden müssen, um sich Neuem öffnen zu können. In der psychosexuellen Entwicklung spielt ihre Zweizeitigkeit eine zentrale Rolle. In der Adoleszenz als zweite Chance werden die frühen Erfahrungen aufgemischt und fügen sich neu zusammen. Erdheim plädiert für Verständnis und Anerkennung der vielfältigen Jugendkulturen als einem Experimentierfeld, in dem neue Ideen und Verhaltensweisen ausprobiert werden und nach „neuen Heimaten“ gesucht werden kann. Sigmund Mang und Eva Gaal† widmen sich in „Beheimatungsversuche“ im Ghetto Theresienstadt (1942-1944). Die Tagebücher von Egon Redlich dem Thema, wie Anerkennung und Abwehr der Realität in der Schwebe gehalten werden, um unter den Bedingungen des Verlustes von Menschlichkeit überhaupt einen kohärenten inneren Raum aufrechtzuerhalten oder zu schaffen. Die Autoren sind bemüht, wie Bergen et al., den Verfolgten und den Opfern zuzuhören und damit ihre Bewältigung angesichts eigener Ohnmacht zu Wort kommen zu lassen. Frank Dirkopf führt den Leser in Freud und das Vaterland im Ersten Weltkrieg in die Zeitspanne in S. Freuds Leben, als der erste Weltkrieg ausbrach. Er untersucht, im Rückgriff auf seine Promotionsarbeit, die Entwicklungsschritte Freuds von einer anfänglichen, nur wenige Tage währenden patriotischen Begeisterung zur Auseinandersetzung mit Enttäuschung, Verlust und Rückzug, in dem die jüdische Loge B’nai B’rith eine wichtige haltgebende Rolle spielte. Bekanntlich erschien schon ein Jahr später Zeitgemäßes über Krieg und Tod (Freud, 1915). Karla Hoven-Buchholz untersucht die Entwicklung des Heimatbegriffs und seinen Missbrauchs in Heimat? -Los! im geschichtlichen Kontext, in seiner Verwurzelung in der Romantik und in seinen politischen Verwendungen. Sie beschreibt seine rückwärtsgewandte Dimension, woraus folgen kann, wie wichtig es für die Entwicklung sein kann, sich von der „Heimat“ los machen zu können. Michael Pavlović wendet sich in Die Heimat(losigkeit in) der Psychoanalyse der Geschichte der psychoanalytischen Institutionen zu. Er konstatiert den Verlust der Psychoanalyse durch Emigration, Vertreibung und Verbot nach 1933. Wie wurde die 1945 wiedergegründete DPG mit den Verlusten fertig, in welchen Schritten gestaltete sich das Bemühen der deutschen Psychoanalytiker, der Psychoanalyse wieder einen Platz in diesem Land zu schaffen? Er beschreibt die Beheimatungsversuche der deutschen Psychoanalytiker selbst in ihren eigenen Institutionen, ihre Ängste, Bewältigungsschritte und ihr Scheitern.

Die folgenden drei Arbeiten beschäftigen sich mit den heutigen Flüchtlingsschicksalen. Sverre Varvin berichtet in Exil und Heimatlosigkeit im Schatten extremer Traumatisierung von seinen jahrzehntelangen Erfahrungen in der Arbeit mit Flüchtlingen und Migranten in Norwegen. Ein inneres Heimatgefühl repräsentiert eine komplexe Struktur aus Objektbeziehungserfahrungen im individuellen, familiären und soziokulturellen Kontext. Eine erzwungene Migration oder Flucht ist mit einem Verlust verbunden, ebenso bedeutsam ist jedoch das Schicksal, wie in der neuen Umgebung eine „Heimat“ aufgebaut werden kann. Welche Faktoren begünstigen, welche stören diese Entwicklung oder verhindern sie gar? Alexander Frohn untersucht in Risse in Beziehungen – Psychoanalytische Psychotherapie mit Migranten der zweiten Generation, wie sich in der psychoanalytischen Behandlung einer jungen Türkin das Migrationsschicksal der Eltern in der nächsten Generation abbildet und wie es bewältigt wird. Eine wichtige Rolle spielen bei den „Kofferkindern“ nicht nur Konflikte, die sich aus der Identitätssuche ergeben, sondern auch die vielen Trennungserfahrungen, die mit dem häufigen unfreiwilligen Wechsel der Bezugspersonen einhergehen. Norbert Mierswa schreibt über Heimatverlust und seine psychosozialen Spätfolgen bei Flüchtlingen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten am Beispiel der schlesischen Spätaussiedler. Unter dem Eindruck eigener Erfahrungen erläutert er, wie Gefühle von Inferiorität, Randständigkeit, Identitätsunsicherheiten und Scham hinter einer äußeren Fassade mit einer großen Leistungsfähigkeit im Beruf verborgen bleiben können. In einer inneren Abkapselung finden Loyalitätskonflikte, traumatische Erfahrungen und Bilder aus der Vergangenheit erst in Krisen und in psychosomatischen Symptomen einen Ausdruck, der sie potentiell der erneuten Bearbeitung zugänglich machen kann.

Im abschließenden Abschnitt findet der Leser Arbeiten, die die Herausgeber unter Psychoanalyse und Fremdheit zusammengefasst haben. Sie beschäftigen sich mit Auseinandersetzung und Bearbeitung eines in den Mittelpunkt der psychischen Welt gehörenden Konzepts, der Fremdheit im Unterschied zum Eigenen, eine Unterscheidung, die oft nur scheinbar gelingt. Anna Leszczynska-Koenen beschreibt in Heimat ist kein Ort in einem ersten Teil die Entwicklung des Antisemitismus im Österreich der dreißiger Jahre und die Entwicklung einer Volksgemeinschaft als einen Prozess der Homogenisierung, der zu einer kulturellen Verarmung führte und die drohende Ausschließung des fremd werdenden Eigenen schon früh ankündigte. Die heutige Migration kann zu einer defensiven Erstarrung sich abschottender Gemeinschaften führen, die es unmöglich macht, sich mit den Herausforderungen und Spannungen eines beschleunigten Wandels und einer schnell fortschreitenden Globalisierung auseinanderzusetzen, die die Voraussetzungen für die heutigen Migrationsbewegungen geschaffen haben. D. Winnicotts Konzept eines Übergangsraums ist hilfreich, um einen Bereich erfassen zu können, der mit der Trennung von Selbst und Objekt seinen Anfang nimmt und Abgrenzungen und Öffnungen verstehen hilft. Paola Francesca Acquarone fragt in Wieviel Fremdheit braucht eine Psychoanalyse? Psychoanalytisches Verstehen zwischen kultureller Nähe und Distanz was passiert, wenn sich das analytische Paar- in Abgrenzung zur normalen landestypischen Situation - durch eine besondere, phantasierte oder reale kulturelle und biographische Nähe auszeichnet. Anhand von zwei Kasuistiken und weiteren Erfahrungen kommt sie zum Schluss, dass für den Umgang mit einer solchen ausschließenden Nähe die eigene selbstanalytische Fähigkeit vor einer besonderen Herausforderung steht. Astrid Kloth und Annette Wieder gehen in ihrer Arbeit Die Heimatlosigkeit des Psychoanalytikers in der Begegnung mit dem Fremden der Frage nach, wie in der westlichen kulturellen Tradition verankerte Psychoanalytikerinnen mit kulturell Fremden arbeiten. Sie setzen sich dabei mit zwei Fragen auseinander: Inwieweit sind auch unsere psychoanalytischen Konzepte selbst kulturbedingt, und gestalten sich die psychoanalytischen Beziehungen zwischen „Fremden“ anders? Diese Fragen diskutieren sie an Hand zweier Behandlungserfahrungen. Hermann Hilpert schreibt unter dem Titel Braucht Heimat einen Ort? Menschen auf der Suche nach Heimat in der Fremde über seine Erfahrungen mit sogenannten „freiwilligen Migranten“, wenn für diese die Migration den Versuch beinhaltet, innere Konflikte lösen zu wollen, indem sie aus innerer Heimatlosigkeit eine ‚Adoptivheimat’ suchen. Die schwierigen psychischen Probleme, die sich daraus ergeben können, werden ebenso diskutiert, wie die kreative, emanzipatorische Bedeutung der Migration. Bettina Hahm untersucht anhand lebenslanger Aufzeichnungen und anhand der künstlerischen Arbeit von Louise Bourgeois Stationen der Suche nach äußerer und innerer Beheimatung. Diese lebenslange Suche geht zurück auf ihre Stellung in der Ursprungsfamilie, auf ihre Rolle als Ehefrau und Mutter in der New Yorker Fremde und behandelt den Verlust ihrer Heimat Paris, die sie zunächst froh war, verlassen zu können. In ihrer existentiellen Suche fand die Künstlerin Unterstützung und Halt in einer jahrzehntelangen Psychoanalyse. Die Arbeit hat den Titel „Seelische Wahrheit als Heimat“ – Die Verschränkung von äußeren und inneren Räumen im Werk von Louise Bourgeois.

 

Annegret Dieterle

Ingo Focke

Inge Gmelin

Gerhard Salzmann

Thomas Wesle