Buch lesen: «Techno der Jaguare»
Die aus Georgien stammende und auf Deutsch schreibende Autorin Nino Haratischwili wurde für ihren Roman Mein sanfter Zwilling (FVA 2011) als »neue Heldin der deutschsprachigen Literatur« gefeiert und erhielt 2011 den Preis der Hotlist für den besten Roman unabhängiger Verlage. Und Tamta Melaschwili gelang in diesem Jahr mit Abzählen (Unionsverlag) ein außergewöhnliches und vielbeachtetes Debüt. Nicht nur die sprachliche Kraft und der Erfolg der beiden Autorinnen zeigen, dass Georgien ein Land ist, das literarisch im Aufbruch begriffen ist. In den letzten Jahren hat sich dort eine lebendige und vielstimmige Literatur herausgebildet, die vor allem von jungen Autorinnen bestimmt wird. Mit Lakonie, Scharfsinn und ungeheurer Erzählfreude porträtieren sie Leben und gesellschaftliche Umbrüche in ihrem Land.
Sechs wunderbare Prosatexte sind zu entdecken und ein Einakter. Sieben georgische Autorinnen, die von den Fallstricken bei der Suche nach modernen weiblichen Lebensentwürfen, von der Selbstbehauptung im Exil und nicht zuletzt von der magischen Kraft des geschriebenen Worts berichten.
www.frankfurter-verlagsanstalt.de
Manana Tandaschwili und Jost Gippert (Hrsg.)
Techno
der
Jaguare
Neue Erzählerinnen aus Georgien
Inhaltsverzeichnis
Anna Kordzaia-Samadaschwili: Das historische Gedächtnis
Maka Mikeladze: Eine mit Buch und ihre erlesene Leserschaft
Ekaterine Togonidze: Der andere W-E-G
Eka Tchilawa: In den neun Hütten
Tamta Melaschwili: Killer’s Job
Nestan (Nene) Kwinikadze: Techno der Jaguare
Nino Haratischwili: Die zweite Frau
ANNA KORDZAIA-SAMADASCHWILI
DAS HISTORISCHE GEDÄCHTNIS
Anna Kordzaia-Samadaschwili, geboren 1968 in Tbilissi, ist Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin und arbeitet seit 2009 als Professorin an der Ilia Universität Tbilissi. Ihr literarisches Werk wurde mehrfach ausgezeichnet. Für Das historische Gedächtnis erhielt sie 2003 den nationalen Literaturpreis »Saba« für das beste Debüt des Jahres. 2005 bekam sie die Bestseller-Auszeichnung der Zeitung Parnassus für das Buch Ich, Margarita. 2012 verbrachte sie als Gast des Literarischen Colloquiums Berlin einen Monat in Deutschland.
Nach dem Studium der Slawistik und Sinologie arbeitete sie als Journalistin und Radiomoderatorin für verschiedene Medien. Als Vertreterin der in der sowjetischen Zeit geborenen Frauengeneration, die bereits damals für Menschenrechte und insbesondere Frauenrechte gekämpft hat, thematisiert sie seit Jahren in der Presse verschiedenste Frauenproblematiken. Ihr persönliches und soziales Engagement übte sie in unterschiedlichen Organisationen und Institutionen aus. Unter anderem war sie von 1997 bis 2002 beim Parlament Georgiens in der Forschungsabteilung für Menschenrechte und religiöse Minderheiten tätig. Im Jahr 2000 arbeitete sie in der Kulturabteilung des Goethe-Instituts in Tbilissi. Sie übersetzte bislang neun Titel ins Georgische, darunter Rave und Jeff Koons von Rainald Goetz und Frau und Körper von Elfriede Jelinek. Für ihre Übersetzung von Jelineks Die Liebhaberinnen erhielt sie 1999 die Auszeichnung des Goethe-Instituts Tbilissi.
ANNA KORDZAIA-SAMADASCHWILI
DAS HISTORISCHE GEDÄCHTNIS
Meine Heldin war eine recht gebildete Frau. Ihre Einstellung zur Liebe bezeichnete sie als nietzscheanisch, obschon sie wusste, dass Nietzsche das, was sie zu zitieren pflegte, über die Musik geschrieben hatte. Sie ließ ihre Finger knacken – mag sein, dass das als unhöflich gilt, aber es ging doch nicht an, dass eine Frau mit dem Image einer ein bisschen durchgeknallten Intellektuellen auf solche Kleinigkeiten geachtet hätte –, sie ließ also des Öfteren ihre recht kräftigen Finger knacken und erklärte dabei: »Die Liebe ist das wahre Leben. Wenn du liebst, lebst du. Die Liebe ist allumfassend. Sie sollte nie vorbei sein. Sie geht aber vorbei, und genau das ist das Problem: Wie kann man weiterleben, wenn die Liebe vorbei ist?«
Diese weise Frage warf sie nur auf, weil sie hübsch klang, denn meine tapfere Heldin ließ sich ihr Leben nicht durch Kummer und Leid vermiesen. »Basta und vorbei, wo ist das Problem? Das eine ist vorüber, und etwas anderes wird beginnen, unbedingt!« Derlei Reden beherrschte sie gut. Sie war nicht nur klug, sie war auch erfahren, und überhaupt war sie, wie ich ja schon sagte, eine tapfere Frau.
Eine erbärmliche Stadt war das, die geradezu Brechreiz erregte mit ihrer imperialen Vergangenheit. Das Klima – feucht; das Essen – widerlich; die Menschen – hässlich; was soll ich noch alles aufzählen. Die Sonne schien nie, ich bekam sie jedenfalls nicht zu sehen. Vor meinem Fenster bot sich ein großartiger Blick: Dächer, Dächer, viele nasse Dächer, Katzen … An der Hotelrezeption bestand ich auf ein Raucherzimmer, in dem ich die Fenster öffnen könnte. Ich musste einen Vertrag unterschreiben, dass ich, N. N., als Dolmetscherin hierher, in dieses Kaff, geraten, nicht aus dem Fenster springen würde, genauer nicht aus diesem Fenster. Und gerade wegen dieses wunderlichen Vertrags drängte sich mir abends immer wieder der perfide Gedanke auf: Soll ich doch springen? Auch wenn ich das auf keinen Fall vorhatte – ich war ja aus geschäftlichen Gründen hier, um Kohle zu machen, mich kostenlos im Solarium zu bräunen, auszuschlafen, mich aufzuhübschen, und überhaupt, um zur Vernunft zu kommen.
Das mit dem Aufhübschen war meinerseits völlig idiotisch, weil jenen Mann, von dem ich mir erhoffte, er würde mich doch noch ohne endgültiges seelisches Verderben und Aids auskommen lassen, mein Aussehen überhaupt nicht kümmerte; ich glaube sogar, er nahm nicht einmal wahr, ob ich blond oder dunkelhäutig war. Tatsächlich hatte ich keine Ahnung, was ihn mit mir verband, schließlich wusste ich nicht einmal, ob ihn mit mir überhaupt irgendetwas verband. Nur dass er eine Zeit lang mit mir zusammen gewesen und ich verliebt, sehr verliebt gewesen war und dass mich seine abstoßende Vergangenheit, seine schöne Ehefrau, seine höflichen Kinder und seine völlig inakzeptable politische Gesinnung damals ganz und gar nicht interessiert hatten. Darüber mache ich mir erst Gedanken, dachte ich manchmal, wenn sich in der Stadt Barrikaden auftürmen. Dann werde ich versuchen, dir den Kopf einzuschlagen, bevor du mich zu Fall bringst. Erst dann … Was in aller Welt mich mit diesem Mann verband, war wirklich eine gute Frage. Karmische Schulden vielleicht.
Über solchen Unsinn dachte ich abends nach, wenn die vom Dialog der Kulturen erschöpften Seminarmitglieder schliefen. Ich setzte mich in die Hotelbar und hörte mir die Beichte eines heimatvertriebenen Kellners an. Mal plante er, sich wegen der Rente für einen Juden auszugeben, mal wollte er nach Afrika, um hungernde Kinder zu retten. Ich lobte die Globalisierung, derentwegen man sogar hier ordentliche Getränke bekam, ging dann wieder auf mein suizidales Zimmer und stieg in mein riesiges Bett. Natürlich allein – ich war doch verliebt!
Der Beginn der Liebesgeschichte
Für diesen Mann hatte ich von Anfang an eine Schwäche gehabt, auch als ich ihn noch gar nicht richtig kannte und allenfalls beiläufig grüßte. Wenn er sich in meine Nähe setzte, benahm ich mich völlig unmöglich, und deshalb hielt ich mich von ihm fern, so gut es eben ging. Ein sonderbares Gesicht hatte er – wieso hatte? hat! –, und ich wünschte mir ständig, einmal mit der Hand darüberzustreichen. Ich stellte mir vor, seine Haut müsse glühend heiß sein – das ist natürlich Unsinn, aber ich habe es wirklich einmal geträumt: dass ich sein Gesicht mit meiner Hand berührte, und es war glühend heiß. Weiter reichte meine Phantasie nicht, wie sollte sie auch? Ich sagte ja, dass ich nicht weiter kam, es blieb beim Grüßen.
Einmal – da hätte ich schon darauf kommen müssen, dass der Mann nicht ganz normal war – bin ich auf einer dämlichen Versammlung über ihn gestolpert. Ich hatte eine fürchterliche Laune, war völlig verheult und wusste genau, dass ich scheußlich aussah. Ich schimpfte auf das übelste in mein Handy hinein und schluchzte Tatjana, meine Großmutter, an: »Wie konnte er nur, dieses Arschloch!« Pechvogel, der ich bin, hat dieser Mann meinen großartigen Auftritt natürlich voll mitbekommen. Ich weiß nicht, ob ich ihm leidgetan habe oder was ihn sonst dazu bewogen hat, jedenfalls fragte er mich, ob ich eine Zigarette wolle. Den Teufel wollte ich, aber was blieb mir anderes übrig, als dankend anzunehmen … Danach sagte er: »Ruf mich an, wenn du auf der Arbeit bist.« Was er wollte, begriff ich nicht, aber ich rief an, und er sagte: »Warte, ich komme vorbei.« Ich wartete recht lange, und er kam nicht. So war’s.
Dann habe ich ihn in einem Café getroffen, und er sagte: »Wie schön, dass ich dich sehe! Ich muss nur mal kurz hinaus und komme dann wieder, wartest du so lange?« Ich sagte »Ja« und wartete, aber er kam nicht zurück.
Ach ja, wieder ein anderes Mal sagte er: »Ich habe ein Geschenk für dich, einen Ficus, willst du ihn haben?« Ich sagte: »Unbedingt!« »Morgen früh bringe ich ihn dir vorbei«, sagte er, aber er hat weder seinen Ficus vorbeigebracht, noch ist er selbst gekommen.
Dementsprechend hatte ich, als er sagte, »Ich komme heute Nacht vorbei«, es nicht einmal für nötig gehalten, Tatjana zu warnen: dass ich verliebt sei, dass der Mann mich besuchen wolle und ich nichts von ihr hören wolle. Meine arme Großmutter und ich legten uns schlafen wie immer, und um vier Uhr nachts stand er vor der Tür. Da wäre es an der Zeit gewesen, ihm zu sagen, dass er sich verpissen solle, aber ich bin ja ein Waschlappen, ich wollte unbedingt wissen, wie er ist, und mir das gönnen, was Gott mir sandte. Warum auch nicht, ich hatte ja weder vor, seine Frau zu werden, noch wollte ich von ihm Kinder kriegen. Nur dass ich mir, idiotisch wie ich war, wünschte, ich wäre noch Jungfrau und dieser Mann mein erster und einziger Mann.
Tatjana nuschelte nur: »Pass auf, dieser Mann ist ein Fremder, ein Feind.« Die arme alte Frau, ich beschimpfte sie dafür als Marxistin, unter uns aber nannten wir den Mann fortan den »Klassenfeind«. Ja, Tatjana hatte recht: Ich war verrückt nach einem Klassenfeind. Ich war nach allem verrückt: seinem Körper, seiner Stimme, seinem Geruch. Was für wunderliche Dinge er mir sagte! Einmal raunte er mir zu: »Eine Kollegin von mir hat eine kleine Statue, sehr hübsch, die sieht dir ähnlich, ich will sie mir geben lassen.« Ich weiß doch, dass ich nicht schön bin: meine Haare, die vielleicht noch jemandem gefallen könnten, sind gefärbt, die Zähne sind nicht meine eigenen, meine Arme sind sommersprossig, und meine Brust existiert einfach nicht. Und doch schmeichelten mir seine Worte so sehr, dass ich fürchtete, jeden Moment niederknien und seine Beine umschlingen zu müssen.
Dann wieder einmal sagte er: »Ich komme am Abend vorbei, lass uns essen gehen«, und natürlich kam er auch diesmal nicht. So war’s. Ich aber blieb verliebt. Nachts wünschte ich erst Tatjana eine gute Nacht, dann meinem Geliebten, der vermutlich neben seiner Frau lag oder bei einer anderen, was weiß ich, trotzdem sagte ich: »Gute Nacht, mein Liebster!« Solange ich Tatjana noch hatte, sagte ich es nur still für mich, später rief ich es laut, da gab es ja niemanden mehr, der mich hörte.
***
Verliebt war auch die kleine Christina, der einzige Mensch, der mit mir ins Schwimmbad und ins Solarium ging. Ein witziges Mädchen, klitzeklein, überall an ihr glitzerten Piercings. Im Dampfbad legte sie sich auf die untere Liege, sie sagte, sie halte die Hitze nicht aus, und erzählte und erzählte von ihrer dämlichen Liebe, dabei war sie mit einem Ohr draußen, hatte das Telefon direkt vor die Tür gelegt. Nicht auszumalen, wenn der Mann angerufen hätte, und Christina hätte ihn nicht gehört! Dieses Telefon machte mich wahnsinnig: »Schalte doch endlich dieses Teufelsding aus!«
Dabei rief der Mann andauernd an, um zu sagen: »Ich liebe dich, ich vermisse dich.« Ich beging den Fehler, ihr nahezulegen: »Er kann dich doch hier besuchen, das wäre doch am besten.« Christina fand es vernünftig und schlug ihm vor: »Mein Liebster, komm doch hierher.« Und der Liebste sagte: »Meine liebe Christina, verlangst du da nicht zu viel von mir?« In dieser Nacht saßen wir lange zu zweit in der Bar, und am Morgen konnte ich kaum noch die Zunge bewegen. Christina erschien gar nicht erst zum Seminar.
Dafür eilte sie am Nachmittag zum Schwimmbad, um mir die freudige Nachricht zu übermitteln, neue Gäste seien angekommen, unter ihnen allerdings nur ein einziger Mann. »Aber was für ein Mann! Breite Schultern und schwarze Augen. Ein toller Typ! Aus Asien.« Offenbar kannte Christina die asiatischen Männer nicht.
Ich aber kannte sie gut und erzählte ihr lang und breit Geschichten über zerstörte Dörfer, ermordete Kinder, niedergebrannte Klöster, vergewaltigte Frauen. Christina fand das alles furchtbar interessant.
»Glaubst du, der hier kann auch so was?«
Natürlich! Schon sehr bald konnte ich mich davon überzeugen. Wilde bleiben nun mal Wilde. Seine Augen funkelten gefährlich, und er beäugte mich schamlos. Abgesehen davon war dieser Mann gar nicht übel anzusehen. Im Gegenteil, er sah sogar gut aus. Ich war ein bisschen aufgeregt.
Dann aber musste ich wieder an meine armen Vorfahren denken, und ich begab mich an das andere Ende des Tisches.
Et voilà: Er setzte sich zu mir. Ich war ein wenig verwundert, aber es schmeichelte mir auch. Dann wurde mir klar, dass da etwas im Busche war: Ich gab mein Vorhaben, Spaghetti zu essen, auf – ich sehe unmöglich aus, wenn ich Spaghetti esse – und bestellte stattdessen Reis. Ich benahm mich absolut dämlich, na ja, so ist es halt, den Buckligen kann nur das Grab begradigen. Die Spaghetti bestellte er.
Mein Reis war das Schlimmste, was ich je gegessen hatte, er war nicht durch und völlig versalzen. Ich war genervt. Er sah mir zu und sagte: »Meine Spaghetti sind lecker, möchtest du?« Ich sagte, mein Reis sei so widerlich, dass ich gar nichts mehr wolle. Dieser Halunke lachte mich nur an. Offenbar hatte er die Spaghetti für mich schon bestellt, so schnell standen sie vor mir.
Ich hätte nichts trinken sollen. Ich weiß doch, dass ich völlig den Kopf verliere, wenn ich trinke, dass ich in diesem Zustand einen Affen für Laurence Olivier halten und mich sogar mit einem Wilden einlassen würde. Ich versuchte, mich auf meinen Teller zu konzentrieren, sagte dann aber doch: »Ich kann übrigens auch gut Spaghetti kochen.« Was für eine Bemerkung, welcher Teufel muss mich da geritten haben … Er lachte mir wieder zu – was für gesunde Zähne manche Leute haben! Da hast du deine Rassentheorie … – und sagte: »Das glaube ich dir, ganz bestimmt machst du auch andere Dinge gut.« Natürlich verstand ich das falsch und wurde zum ersten Mal seit zwanzig Jahren rot.
»Hat er dir gefallen?«, fragte mich Christina. – »Ein richtiger Macho, oder?«
Ach Gott, meine arme Christina, du hast doch keine Ahnung, was für ein Alptraum ein echter Macho sein kann! Ich versoff die Hälfte meines Honorars in Form von Whiskey, während ich fernsah – »Wer ist besser, Britney Spears oder Christina Aguilera?« Vom Fenster her drangen Kälte, Dunkelheit und Nässe herein, hier war alles außer dem Whiskey einfach nur schlecht. Eines habe ich dennoch geschafft, ich habe Christina gesagt: »Wenn ich von diesen Dingen etwas verstehe, und das ist wohl das Einzige, wovon ich wirklich etwas verstehe, dann lohnt es sich, mit diesem Mann etwas anzufangen! Von einem Mann, der hinter den neun Bergen sitzt, kannst du nichts erwarten, also spielt der hier auch keine Rolle. Und überhaupt, wenn irgendein Mann etwas taugen würde, dann würdest du, Christina, hier nicht alleine sitzen, und ich hätte es vielleicht auch nicht nötig gehabt, zum Geldverdienen in diesen Tuberkuloseherd zu kommen. Also solltest du, meine liebe Christina, auf alle Fälle versuchen, ihn zu bekommen, was Besseres kann dir nicht passieren. Ich werde es auch versuchen.« Mann, war ich betrunken.
Ich beschloss, meinen Tagesplan umzukrempeln. Nach dem Seminar zog ich den Mantel an, den zu ihrer Zeit die in Taschkent umgekommene Großmutter meiner verlorengegangenen Freundin getragen hatte, setzte eine Budjonowka auf, polierte sorgfältig meine Schnürstiefel, die ich von jenem Geld gekauft hatte, das mein Geliebter mir einmal aus Gründen, die mir schleierhaft sind, geschenkt hatte – das mit dem Stiefelpolieren war eine dämliche Idee, danach musste ich, damit sie sauber blieben, ständig den Pfützen ausweichen und wie ein Betrunkener im Zickzack durch die schon um sieben Uhr ausgestorbene Stadt laufen. Die Bewohner dieser Stadt saßen wahrscheinlich vor der Glotze oder korrigierten die Hausaufgaben ihrer Kinder. Wie ich sie hasste! Ich suchte eine Bar, und jeder, den ich danach fragte, verwies auf mein Hotel.
Schließlich fand ich doch noch eine proletarische Gaststube, mit einem stolzen Namen: das griechische Restaurant Dionysos. Ich nahm mir vor, falls dort das Rauchen verboten sein sollte, den Spiegel anzuspucken und meine Suppe in das Aquarium hineinzugießen – aber sie hatten Glück.
Meine Stiefel sind trotzdem schmutzig geworden, aber egal. Während man mir ein Bier einschenkte, dachte ich, mein Liebster, was für tolle Schnürstiefel hast du mir da geschenkt! Dann brachte man das Bier, und ich schwöre, genau da kreuzte dieser Wilde auf, ließ seine Zähne blitzen und setzte sich einfach, ohne zu fragen, zu mir. Er fragte, ob wir etwas Stärkeres trinken sollen, und dann: »Ich lade dich ein. Schön, dass du da bist.«
Es stellte sich heraus, dass ich die Wilde, die Menschenfresserin war, und nicht er, der Professor. Er hatte einmal in einem Orchester Cello gespielt, ich dagegen hatte die siebenjährige Musikschule nur dank der Lehrerin in Musiktheorie abschließen können, die eine Freundin meiner Großmutter war. Der Asiat übersetzte Heidegger, ich dagegen die blöden Seminare der Nichtregierungsorganisationen. Er war der reizendste Mann, der mich je angesprochen hatte, und ich traute mich nicht mehr, meine Beine zu zeigen – im Sommer hatte ich mich zum letzten Mal begutachtet und erfreut festgestellt, dass ich nur noch Geist war und nicht mehr Körper.
Ob es am Alkohol lag oder an dem Mann, weiß ich nicht. Als wir ins Freie traten, dachte ich, diese Stadt ist doch nicht so schlimm. Sogar die feuchte Luft mochte ich auf einmal.
»Hey, schau«, sagte er plötzlich, »ich habe die gleichen Schnürstiefel an wie du.«
»Doc Martens.« Es traf mich hart, mir fiel mein Geliebter ein und wie sehr ich mich auf diese Stiefel gefreut hatte, wie stolz ich sie ihm gezeigt hatte. Ich glaube, er hat sie gar nicht so toll gefunden, und überhaupt, glaube ich, steht er auf eine ganz andere Art von Frauen, auf Frauen, die ganz anders herumlaufen, er hat es sich nur nicht anmerken lassen. Wahrscheinlich hat er meine neuen Schuhe nicht einmal richtig angeschaut. Und ich habe alles getan, um ihm zu gefallen!
»Deine sind nur einen Tick anders in der Farbe«, erwiderte ich. »Aber es ist zu dunkel, um das richtig zu erkennen.«
»Meine sind blau.«
»Meine auch.« Und so stand ich da, in der verdunkelten Straße einer Stadt, der nur noch der frühere Ruhm geblieben war, mit einem andersgläubigen, fremden Mann, starrte auf meine Schuhe und war sehr glücklich dabei.
Was ich in dieser Nacht träumte, in diesem Bett so groß wie das Feld von Didgori, kann man nicht mehr erotisch nennen, es war harte Pornographie. Durch das Wechselbad meiner Gefühle völlig verwirrt stürzte ich einen dreifachen Whiskey hinunter – diesem Hotel brachte ich richtig Gewinn! Ich genierte mich, in den Speisesaal zu gehen und ihm über den Weg zu laufen. Dann aber dachte ich, vielleicht hat er auch feuchte Träume gehabt. Nicht dass ich davon etwas gehabt hätte, es hätte mich aber gefreut. Egal, wovon er geträumt hatte – er strahlte mich einfach an, und ich schaute weg. Und dennoch, ist das nicht toll? Du stehst am Morgen auf und freust dich auf den Tag, und abends, vor dem Einschlafen, denkst du daran, was am Tag so passiert ist, und schläfst vergnügt ein. Nur eins verdarb mir die Laune, wenn auch nur ein wenig, und das, obwohl ich ein großes Mädchen bin und mich nicht von Gewissensbissen plagen lasse: mein Geliebter. Ich bin nun mal so verkopft.
Dieser bedauernswerte Typ besuchte Christina doch, er kam aus unerfindlichen Gründen zum Seminar und blinzelte wie ein Uhu. Nur für zwei Tage sei er gekommen, aber immerhin. Ein Mann war das nicht, wie sich herausstellte, eher ein Junge, mager, mit Hängeschultern, etwas unbeholfen und ziemlich verschüchtert – schwer zu sagen, was in den Köpfen mancher Frauen vorgeht. Hätte ich das gewusst, ich hätte Christina keine so wilden Ratschläge erteilt. Ich war ehrlich besorgt, wie sollte dieser verweichlichte Europäer solche Strapazen überstehen …Und mein Geliebter? Verdammt! Ich gab mir sehr viel Mühe, etwas Negatives über ihn zu denken, zum Beispiel, warum er nicht anrief – aber wo hätte er anrufen sollen? Also entschloss ich mich, mir diese Augenblicksaffäre zu gönnen. Aber ohne jegliche Körperlichkeit! Klar! Warum hätte ich einen dahergelaufenen Muslim auch beglücken sollen? »Oh«, meldete sich eine verderbte innere Stimme in mir. »Was denn?«, erwiderte ich. – »Ist das etwa nicht erlaubt?« Die Stimme verstummte, wenn auch nur vorübergehend, bis zum Abend, und als mein Kizilbasch beim Fischessen ein völlig unmögliches Thema anschnitt, brach es mir das Herz, weil sie sich auf einmal wieder meldete und erklärte: »Du bist ja eifersüchtig! Oh weh, du Elende!«
Man brachte uns Fisch und Weißwein – den mag ich überhaupt nicht, aber egal. Ich presste mit Erfolg eine Zitrone über den Fisch, also ohne einen Tropfen ins Gesicht zu bekommen, und auf einmal fing er an, einfach so:
»Nachdem meine Frau weg war« – oh nein! –, »habe ich beschlossen, eine Fischsuppe zu kochen und …«
»Warum ausgerechnet eine Fischsuppe?« – Irgendetwas musste ich ja erwidern.
»Sie kochte eine ausgezeichnete Fischsuppe, und ich dachte, dass ich das auch hinkriegen würde. Ich kaufte Fisch, zwei verschiedene Sorten, so viel wusste ich noch, dann überlegte ich: Was kann ein Finne beim Fischen alles dabeihaben? Fisch, wenn es hochkommt, Kartoffeln, eine Zwiebel vielleicht …«
»Warum ein Finne?«
»Meine Frau war Finnin.«
Na bravo!
»Ich habe also eine Fischsuppe gekocht, und sie war durchaus schmackhaft, aber gerade in diesem Augenblick rief meine Frau an und erkundigte sich nach irgendetwas, und ich fragte sie: ›Was passt eigentlich zu Fisch?‹ Sie sagte: ›Zitrone.‹ Ich nahm eine Zitrone, schnitt sie durch und warf sie in den Topf – die Suppe schmeckte ekelhaft. Überleg mal, wieso sollte ein finnischer Fischer auch ausgerechnet eine Zitrone dabeihaben?«
Der Scharfsinn eines Mannes ist schon etwas ganz Besonderes.
»Wo hast du deine Finnin denn aufgetrieben?«
»Sie studierte an der Uni. Danach blieb sie zwei Jahre bei mir.«
»Und dann hat sie dich verlassen und ist nach Finnland zurückgekehrt?«
»Ja. Sie hat weder mich noch Asien ertragen können.«
Der Fisch schmeckte hervorragend, von dieser Kaschemme hätte ich das eigentlich nicht erwartet. Wir schwiegen lange, hundert armenische Mädchen kamen zur Welt. Dieser gemeine Kerl sah mich einfach nur an und lächelte. Wann wollte er eigentlich dazu kommen, etwas zu essen? Keine Ahnung. Zum Glück war der Fisch schon entgrätet, sonst wäre mir mit Sicherheit alles im Hals stecken geblieben.
»Ich habe sie sehr geliebt. Als ich sie kennenlernte, trug sie eine selbstgestrickte bunte Hose, weit, schlabberig und formlos …«
Und war sehr süß, oder? Mann oh Mann, dachte ich, kram bloß kein Foto von ihr heraus, sonst ticke ich noch aus.
»Ich hoffe, du willst mir kein Foto zeigen«, sagte ich. Er lachte sich schlapp: »Das war gut!« Er lachte weiter.
»Ja, der Fisch ist gut«, murmelte ich. Er keuchte nur noch.
»Du bist ein nettes Mädchen.«
Das hättest du besser nicht gesagt!
»Weiß ich, du bist auch in Ordnung.«
Er sagte, er habe über Frauen aus meinem Land schon viel gehört, aber bis jetzt noch keine gesehen.
Ich sagte: »Bestimmt war mindestens eine deiner Großmütter eine Georgierin.«
»Nein«, lachte er. »Es ist viel wahrscheinlicher, dass dein Opa mein Landsmann war.«
Das fand ich gar nicht witzig, und da ich ohnehin gereizt war, sagte ich, dass ich schlafen wolle und wir deswegen bald aufbrechen müssten. Ich fürchte, ich habe ihm den Abend vermasselt.
»Bist du sicher, dass du schlafen gehen musst?«, fragte er.
Und ich sagte: »Dringend!« Vielleicht werde ich einst für diese abgeschmackten Lügen bestraft, aber es ist ja nun wirklich genug, dass sie meine Urgroßmütter geschändet haben, diese Schweine.
In der Nacht griff ich wieder nach dem Whiskey, man hatte sowohl die Bar als auch meinen Kühlschrank fleißig aufgefüllt, damit ich nicht nur alles ausgeben musste, was ich bei mir hatte, sondern mich sogar noch verschuldete – und ich gab mir noch den Rest: Ich inspizierte meinen Körper im Spiegel und entdeckte dabei natürlich nichts Gutes, nur einen frischen Streifen an der Hüfte. Ich begreife nicht, was meine Haut dazu bringt, zu reißen … Ich hätte doch mit diesem ehrlichen Mann schlafen sollen, warum diese Anwandlungen wegen der finnischen Exfrau und der nationalen Feindschaft? … Nationale Feindschaften und Klassenkampf! Mein Gott, ich Elende.
Die Fortsetzung der Liebesgeschichte
Der Klassenfeind erschien aus heiterem Himmel, als Tatjana nicht mehr da war und ich niemandem mehr zu erklären brauchte, dass ich nun mal so drauf war und nichts dagegen tun konnte, dass ich diesen Mann unbedingt haben wollte, obwohl er ein Fremder, ein Feind war. Ach, Tatjana … Der Mann erinnerte sich natürlich nicht mehr an sie, erkundigte sich nicht einmal nach ihr und war mitten in der Nacht nur deswegen aufgekreuzt, weil er mir den Ficus übergeben wollte. Nach einem halben Jahr. So treibt man mich zum Wahnsinn.
Danach begann etwas, was Tatjana »trübe Schizophrenie« nannte, also ein undurchschaubares, warmherziges, zugleich asexuelles und für mich völlig inakzeptables Verhältnis, begleitet von: »Ich rufe dich heute Abend an oder komme vorbei.« Und natürlich rief er weder an, noch kam er vorbei, und falls er auf einmal doch kam, zelebrierte er das regelrecht, und ich war zu allem bereit, ich Idiotin, Idiotin!
Dafür unterhielten wir uns mehr als bei unseren früheren Treffen, wir sprachen viel, und ich erzählte ihm so manches, sogar über Tatjana. Er führte mich immer wieder nett aus, brachte mich dann nach Hause, und ich schlief vergnügt ein: »Schlaf gut, mein Liebster!«
Einmal wollte ich in meine Heimatstadt reisen. Geradezu rührend, wie sich mein Geliebter von mir verabschiedete! Zum Schluss schenkte er mir sogar Geld. Ich war baff. So etwas bin ich nicht gewohnt. Im Gegenteil, sogar Tatjana war es gelungen, auf meine Kosten zu leben, obwohl ich ganz genau wusste, dass sie etwas bunkerte. Als ich mich aufregte, sagte sie, das Geld sei für ihren Sarg, sie trieb mich bis zur Weißglut, und dann musste doch ich ihre Beerdigung bezahlen, ihre sagenhaften Dollars habe ich bis heute nicht gefunden. Ich muss mal die Kissen auftrennen.
Das mit dem Geld war wirklich übel, aber dann habe ich mir davon die Schnürstiefel geleistet, die ich zuvor zehn Jahre lang nur angestiert und nicht gekauft hatte, weil solche teuren Schuhe meiner ganz und gar unflexiblen politischen Gesinnung radikal widersprachen. Richtig toll waren sie, die Schnürstiefel, die ich mir gekauft hatte! Und dazu habe ich auch gleich noch erfunden, dass mein Geliebter sie mir geschenkt hätte – im Prinzip stimmt das ja sogar.
Ich beschloss, ihm auch etwas zu schenken, etwas Tolles, aber was? Nach langem Grübeln fragte ich meinen in jener Stadt lebenden Ex, den ich zehn Jahre lang nicht gesehen hatte, was ich einem so großzügigen, mutigen, reichen, erfolgreichen und mir äußerst wohlgesonnenen Mann schenken sollte, mit dem mich einmal etwas Gemeinsames und jetzt nur noch eine einseitige Liebe verband und dem ich gerne eine Freude machen würde.
»Musik«, sagte er, ohne nachzudenken.
»Musik, ja! Bregović! Klar, er mag doch Bregović!«
Mein Ex sah mich zweifelnd an und sagte: »Bei allem, was du mir erzählt hast, wird er sich über dein hinterwäldlerisches Zeug wohl kaum freuen.«
Ich war verärgert, erwiderte: »Hältst du ihn vielleicht für einen beschissenen Bourgeois?«
Er sagte: »Was sonst, ist er etwa ein Revoluzzer?«
Kurz gesagt, an diesem Abend haben wir alles ausgepackt, jeden Streit, jede Verspätung von ihm, all die in meinen Augen dreckigen Frauen, mit denen er ein Verhältnis gehabt hatte … Ich bin eben eine Hysterikerin.
Jedenfalls kam Bregović gut an. Er freute sich sehr darüber.
Er meinte: »Meine Frau wird total darauf abfahren.« Dann begleitete er mich nach Hause und rannte mit der Platte vergnügt zu seiner Gattin.
In dieser Nacht zerfloss ich in Tränen.
***
Ich muss wohl einen Psychotherapeuten konsultieren. Ich komme einfach nicht darauf, was solche Männer an mir finden. Tatjana wunderte sich auch immer: »Was diese Männer nur von dir wollen?«, sie wurde nicht müde, mir zu erzählen, wie ich aussah und wie ich war. Ich regte mich auf: »Warum bereitest du mir Komplexe?« Ich weiß ja selbst, dass da irgendwas nicht stimmt. Wenn ihr meinen Geliebten gesehen hättet! Auch jetzt, während des Seminars, wunderte ich mich ganz ehrlich, wenn ich den Asiaten ansah – er hielt seinen Vortrag, ich übersetzte und sah in der Fensterscheibe unsere Spiegelbilder –, wow, was für ein Mann! Dafür bin ich eine sehr gute Dolmetscherin.
In der Pause fragte er mich, ob ich ausgeschlafen hätte. Giftzahn!
»Ja«, sagte ich.
»Schön«, erwiderte er.
Bah!
Während die anderen Kaffee tranken, ging ich hinaus und rief aus der Telefonzelle meinen Geliebten an, um ihm zu sagen, dass ich morgen käme. Welche Freude … Aber er ging nicht ran. Wozu hat dieser Kerl überhaupt ein Handy?