Pädagogik

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Zunächst stellt sich die Frage, ob und inwieweit Bildung als Resultat oder als Prozess zu betrachten ist. Sofern sie als Resultat betrachtet werden soll, vereinfacht sich das Klärungsproblem vordergründig, denn dann kann von einem messbaren Zeitpunkt ausgegangen werden, an dem sich das Resultat der Bildungsaktivitäten zeigen muss. Ein derartiges Bildungsverständnis wird durch die Praxis zertifizierter Bildungswege und Abschlüsse getragen. Es basiert auf einem Kanon zu erwerbenden Wissens, der institutionell vertreten und weitgehend verdichtet über Unterricht und Ausbildung Bildung im Sinne von messbarem Wissen und Fertigkeiten vermitteln soll. In diesem Verständnis ist Bildung ein Instrument der Selektion, das einer sehr hohen normativen Aufladung unterliegt, weil über standardisierte Prozesse innerhalb der Bildungsinstitutionen gesellschaftliche Reproduktion und soziale Differenzierung transportiert werden und sich mit kultureller Hegemonie Macht konstituiert.

Bildungsprozess

In der deutschen Sprache wird aber auch zwischen Erziehung und Bildung differenziert, um in Abgrenzung zum Erziehungsbegriff den lebenslangen Prozess der menschlichen Selbstwerdung innerhalb der Gemeinschaft zu markieren. Dieser Bildungsprozess kann unabhängig vom erreichten Grad an Wissen und Fertigkeiten betrachtet werden. Er beschreibt die aktive Auseinandersetzung mit den Bedingungen des menschlichen Lebens, ist nicht grundsätzlich an den Erwerb von Zertifikaten und Abschlüssen gebunden, sondern basiert auf der Aktivierung der menschlichen Reflexionsfähigkeit, die nicht zwangsläufig des institutionalisierten Kontextes von Bildungsinstitutionen bedarf.

Selbstbestimmung

Die so betrachtete Selbsttätigkeit des Menschen geht zwar davon aus, dass auch dafür erzieherische Unterstützung nötig ist, aber betont den Anteil der Selbstbestimmung und des subjektiven Prozesses, die jeglichem Lernen inne sind. Ein Bildungsprozess ist demnach ein selbsttätiger Fortgang, in welchem das Subjekt sich letztlich nur selbst bilden kann und dafür auf seine Erziehungs- und Sozialisationserfahrungen zurückgreift:

„Ich selber werde mit dem Maße Subjekt meiner eigenen Biografie, wie es mir gelingt, die Entwicklungsmöglichkeiten der jeweiligen Erziehungsräume auszufüllen und sie dann qualitativ umzugestalten, wenn sie mich in meiner Weiterentwicklung einschränken, weil sie meine Abhängigkeit verfestigen, wobei die Richtung der Überschreitung immer bewusster an den Bildungshorizonten ausgerichtet werden kann.“ (Braun 2006, 57)

biografische Widerfahrnisse

Bildung ist somit immer mit Aktivität verbunden, aber auch mit Verläufen, Zäsuren und Übergängen innerhalb des Prozesses verknüpft und insofern als ein „Weg“ aufzufassen, auf dem Individuen versuchen zu verstehen, „wer sie sind“ (Mollenhauer 1998, 490). Diese Entwicklung kann von biografischen Widerfahrnissen beeinträchtigt und auf günstige Bedingungen an „biografischen Knotenpunkten“ oder der konstruktiven Bearbeitung von kritischen Lebensereignissen angewiesen sein (Spies 2000).

Mündigkeit

Der Prozess des Mündigwerdens, im Sinne der Emanzipation des Subjekts, bedarf dafür der persönlichen Freiheit und ist zugleich voraussetzungsvoll: Er umschließt Wissen ebenso wie Können, bezieht sich auf Momente der Ermutigung und Unterstützung sowie Maßstäbe der Einschätzung, die in bildungstheoretischen und bildungsphilosophischen Diskursen immer wieder neu zu bestimmen versucht werden.

Subjektbildung, Erziehungssysteme

Stets ist es der selbstaktive, nicht beobachtbare Prozess der Subjektbildung, die auch, aber nicht nur, durch pädagogisches Handeln gestaltet werden soll und „verantwortete Bildungsräume“ (Girmes 2008) benötigt, in deren Settings sich die Dimensionen von Bildung wiederfinden. Lenzen (1999) dimensioniert den Bildungsbegriff dreifach: Er unterscheidet zwischen individuellem „Bestand“, individuellem „Vermögen“ und individuellem „Prozess“ und führt diese Dimensionen auf „Aktivitäten bildender Institutionen“ zurück, die die „Höherbildung der Menschheit“ verfolgen – womit er an Flitner anschließt, der für den Bildungsprozess Erziehende und Erziehungssysteme voraussetzt (Flitner 1950/1974, 135), in deren Setting Wissen, Können und Haltungen durch Erziehung vermittelt werden sollen. Im angloamerikanischen Kontext ist für das Prozessverständnis von Bildung gar kein eigener Terminus vorhanden. Sie wird als absichtsvolle Erziehung und Lernen durch Unterrichtung unter dem Begriff Education subsummiert.

Bildungsauftrag

Auch die im Prozessverständnis des Bildungsbegriffs enthaltene Verknüpfung von Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftskritischem Lernprozess geht davon aus, dass zwar im Zuge dieses Prozesses Rollen, Perspektiven und Positionen innerhalb gesellschaftlicher Verhältnisse sukzessive selbst bestimmt werden können – und die Anleitung, derer sie bedürfen, kontinuierlich an Umfang abnimmt. Wenn wir nun von einem institutionellen Bildungsauftrag von Schule und Jugendhilfe ausgehen wollen, kann dessen Gestaltung nur dadurch erfüllt werden, dass die Bildung des Selbsts ermöglicht wird und sich auf dessen Eingebundenheit in Gesellschaft bezieht. Aber: Über institutionell vermittelte Bildungsinhalte werden Normen im Sinne ökonomischer und ideologischer Zielsetzungen reproduziert und in Form von Qualifikationsnachweisen soziale Differenzen fortgeschrieben.

Individualität

Ein subjektiver Bildungsprozess beinhaltet also das Entstehen und die Veränderung von Bewusstsein, indem die rationale Erschließung von Welt mit der bewussten Weiterentwicklung der Persönlichkeit, im Sinne einer gemeinschaftsfähigen und eigenständigen Persönlichkeit, antizipiert wird. Der Bildungsbegriff beschreibt in diesem Sinne auch das Recht des Einzelnen, sich eigenständig mit seiner Umwelt zu beschäftigen und sich deren Inhalte zu eigen zu machen. Der oder die Einzelne kann also durchaus zu anderen Schlüssen kommen als seine oder ihre soziale Umgebung. Bildung ermöglicht somit Individualität und erhöht damit letztlich auch die Möglichkeit von Innovation innerhalb der Gesellschaft, da Menschen sich aufgrund eigener Erkenntnis und Erfahrungen anders verhalten können, als Regeln oder Normen es vorschreiben. Pädagogisches Handeln, das zur Stützung von individuellen Bildungsprozessen beitragen will, muss sich also auch mit den „im Sozialisationsprozess auftretenden Kränkungen, Einschränkungen, Selbstunterdrückungsmechanismen, Selbstunterwerfungen als gesellschaftliche Behinderung unserer emanzipativen Selbstwerdung“ (Bernhard 1997, 67) auseinandersetzen und dabei auch die eigenen Entwicklungs- und Bedingungskontexte reflektieren.

2.1.5 Sozialisation

soziale Platzierung

Wenn Aspekte der Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter und deren Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen Bedingungen der sozialen Platzierung in Abgrenzung zu den Bedingungen von Erziehung und Bildung betrachtet werden, sprechen wir von Sozialisation.

Lebensbedingungen

In diesem Begriff kommen Analysen der auf Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung sozialisatorisch einwirkenden gesellschaftlich-normativen Lebensbedingungen des Individuums zusammen, „denn das Aufwachsen [und Leben in, d. A.] der Gesellschaft produziert unablässig Erfahrungen, die von Heranwachsenden persönlichkeitswirksam verarbeitet werden“ (Tillmann 2004, 467).

Umweltbedingungen

Für die Einschätzung pädagogischer Beziehungen und pädagogischer Handlungen benötigen wir also Zugänge zu Sozialisationsfragen, mit deren Hilfe wir die aktive Auseinandersetzung und das Hineinwachsen von Individuen in die Gesellschaft thematisieren können. Solche Sozialisationsanalysen betrachten die gesellschaftlichen Positionierungen des Individuums. Sie nehmen sowohl innerpsychische Prozesse, also die Frage, wie ein Individuum bestimmte konkrete Umweltbedingungen zu psychischen Formationen verarbeitet, sowie die dem Individuum gegenüberstehenden gesellschaftlichen Umweltbedingungen in den Blick und beschreiben die „Kausalbeziehungen zwischen Mensch und Umwelt“ (Veith 1996).

soziale Ordnung

Im Zentrum der Sozialisationstheorien steht das Verhältnis von sozialer Ordnung und individueller Freiheit, das als „Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt“ (Geulen/Hurrelmann 1980, 51) verstanden wird. Die Rekonstruktion dieses Prozesses zeichnet nach, wie sich ein Individuum zum gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt entwickelt.

Interaktion

Dabei kommt nach Geulen zum Tragen, dass Sozialisation – in Abgrenzung und Anschluss zum Lernen – als „die Entstehung und Bildung der Persönlichkeit aufgrund ihrer Interaktion mit einer spezifischen materiellen, kulturellen und sozialen Umwelt“ ist (Geulen 1994, 101). Spezifische Umweltbedingungen und deren Interaktionskontexte haben demnach Gestaltungsmacht über die subjektiven Vorgänge der Aneignung, Verarbeitung, Bewältigung und Gestaltung von (Lebens-)Realität durch die Individuen.

Jeglicher Sozialisationsprozess wird im Verlauf einer individuellen Biografie von den jeweiligen (temporären) Sozialisationsbedingungen beeinflusst, die sich aus der finanziellen Situation (z. B. Armut, Wohlstand), den geografischen Gegebenheiten (z. B. ländlicher Lebensraum, Kleinstadt, Großstadt) und seiner Infrastruktur an Zugangsmöglichkeiten der Lebensgestaltung (z. B. Arbeitsmarkt, Kindertagesbetreuung, Kulturangebote, Freizeitmöglichkeiten) zusammensetzen und Teil der jeweils aktuellen Lebenswelt des Individuums sind.

 

Sozialisationsbedingungen

Für das Aufwachsen und die Identitätsentwicklung von Heranwachsenden haben Sozialisationsbedingungen und -instanzen eine besondere Bedeutung, da sie als Ausgangslage wesentlich darüber bestimmen, wie eine Person sich ihre Umwelt aneignet, eine Ich-Identität bildet bzw. Umweltbedingungen innerpsychisch verarbeitet. Umwelteinflüsse bestimmen den Persönlichkeits- und Identitätsbildungsprozess über die aktive Auseinandersetzung des Individuums mit seiner gegebenen Umwelt: „Vorschnelle Behauptungen, dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale angeboren seien, sollte man daher stets mit Skepsis begegnen.“ (Geulen 1994, 101)

Strukturen

Für den pädagogischen Prozess ist nun die Frage nach strukturbedingten Barrieren und Widerständen, die einer die individuelle Autonomie fördernden Sozialisation entgegenstehen, virulent: Bildungszugänge und -voraussetzungen einer Person werden wesentlich von deren Realitätsverarbeitung und Bewältigungsstrategien bestimmt. Um pädagogisch tätig werden zu können, müssen diese als Teil der Sozialisation erachtet werden und bedürfen der Reflexion.

Hurrelmann (2002) bezeichnet dies als die produktive Realitätsverarbeitung, die durch einen lebenslangen, dynamischen Prozess der aktiven Auseinandersetzung und Aneignung bestimmt ist.

Sozialisationsvoraussetzung

Neuere sozialisationstheoretische Ansätze zeigen, dass die Zusammenschau der Gesellschaftsebene (deren ökonomische, technologische, politische, soziale und kulturelle Struktur), der Kontextbedingungen von Individuen (unmittelbare soziale und räumliche Umgebung, soziale Netzwerke und Peers, soziale Organisationen, organisierte Sozialisationsinstanzen) sowie der Individualebene (einschließlich der physisch-psychischen Grundstruktur des Individuums) es ermöglichen, Sozialisationsvoraussetzungen und -bedingungen systematisch zu erfassen und differenzierte Aussagen zu deren Einfluss auf Autonomie, Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung und Mündigkeit zu treffen (Abels 2006; Grundmann 2006).

Sozialisationstheorien

Die Tradition der historischen Entwicklung von Sozialisationstheorien reicht von Durkheims (1858–1917) Beschreibungen der Mechanismen zur Integration von Individuen in Gesellschaft über Watson (1878–1958) und seinen lerntheoretischen Ansatz, den psychoanalytischen Ansatz von Freud (1856–1939), die entwicklungstheoretische Perspektive von Piaget (1896–1980), die strukturtheoretischen Arbeiten von Parsons (1902–1979), die interaktionistischen Theorien von Mead (1863–1931) bis zu den Tätigkeitstheorien von Leontjew (1903–1979) (Faulstich-Wieland 2000). Jeder dieser Ansätze wurde im Laufe der Zeit aufgegriffen und weiterentwickelt, so dass die Sozialisationstheorien der Gegenwart auf lerntheoretische Nachfolgearbeiten u. a. von Holzkamp (1927–1995), auf die psychoanalytischen Arbeiten von Erikson (1902–1994), die Entwicklungstheorie von Kohlberg (1927–1987) oder Giligan (1936–), den strukturanalytischen Überlegungen von Luhmann (1927–1998) und den interaktionistischen Theorien von Goffman (1922–1982) oder Habermas (1929-) aufbauen und die jeweiligen Perspektiven betonen.

Lebensführung

Zwischenzeitlich sind weitere theoretische Konzepte hinzugekommen: So fasst Faulstich-Wieland (2000) unter dem Begriff der „Lebensführung als Sozialisationskonzept“ die jüngeren Entwicklungen zusammen, die sich vor allem damit auseinandersetzen, „in welcher Weise individuelle und gesellschaftliche Entwicklungen miteinander zu tun haben“. Sie suchen nach Ansätzen, um „die Spannung zwischen Subjekt und Gesellschaft aus dem Blickwinkel der alltäglichen Lebenspraxis des Subjekts“ (Faulstich-Wieland 2000, 157) zu analysieren. Durch die Untersuchung der Beziehungen zwischen Individuum und Struktur können z. B. dank der differenzierten Weiterentwicklung der vorangegangenen Sozialisationstheorien etwa durch Bourdieu (1930–2002) vorhandene, aber unbewusste Regeln offengelegt werden, durch welche sowohl die gesellschaftliche Struktur als auch die individuellen Lebensformen hervorgebracht werden.

Habitus

So geht Bourdieus Sozialisationstheorie über andere Sozialisationskonzepte hinaus, weil er mit seinem Habitusbegriff den Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft überwindet: Familiale und schulische Habitusformen sowie deren mögliche Übereinstimmungen oder Differenzen sind entscheidend für Bildungserfolge bzw. -resultate, womit auch die Annahmen über „neutrale“ Leistungskriterien von Bildungseinrichtungen ad absurdum geführt werden (Becker/Lauterbach 2010; Grundmann et al. 2010; Paulus/Blossfeld 2007).

Milieu

Unter der Perspektive der Lebensführung in biografischen Situationen entwickeln Individuen innerhalb ihres sozialen Feldes (Milieu) eine durch den Alltag beeinflusste Lebenspraxis. Sie erwerben also Strategien, die eng mit ihrem jeweiligen Lebenskontext verknüpft sind.

Lebenspraxis

Diese gesellschaftliche Positionierung findet u. a. im sozialökologischen Modell von Bronfenbrenner Berücksichtigung und kann durch das Konzept des sozialen, kulturellen und symbolischen Kapitalerwerbs im sozialen Raum, wie Bourdieu es vorgelegt hat, ergänzt werden (Faulstich-Wieland 2000).

soziale Ungleichheit

Damit lassen sich Sozialisationsprozesse sowohl von der sozialen Position als auch aus der Perspektive der Lebensstile hinsichtlich sozialer Ungleichheiten beleuchten. Die konkreten, sozialen und historischen Situationen werden zum Ausgangspunkt der Analyse und können beispielsweise für die Untersuchung von Geschlechterverhältnissen hilfreich sein.

Moderne Sozialisationskonzepte erachten Sozialisation also nicht mehr als Internalisierung von Kultur (Vergesellschaftung, vollständige Verinnerlichung von Werten und Normen), wie es Durkheim und Parson taten oder das von Mead auf Wechselseitigkeit beruhende Modell der sozialisatorischen Interaktion.

Ko-Konstruktion

Im 21. Jahrhundert zentrale Begrifflichkeiten in der Sozialisationsforschung, wie die Beschreibung von Kindern als „kompetente Akteure“, „Ko-Konstrukteure“ bzw. „Ko-Produzenten“ verweisen ebenfalls darauf, dass sozialisationstheoretische Fragen der biografischen Sozialisation an Bedeutung gewinnen.

biografische Bedingungen

Indem Böhnisch unterstreicht, dass „das biografische Gewordensein in der individuellen Erfahrung des Lebenslaufs mit zunehmendem Lebensalter zur entscheidenden Bezugsdimension für die Bewältigungsarbeit“ wird (Böhnisch 2005, 38), betont er die Bedeutung biografischer Aspekte für den Sozialisationsprozess. Die differenzierte Analyse von Sozialisationsbedingungen und deren Konsequenzen für die individuelle Entwicklung ist neben der Reflexion des eigenen pädagogischen Handlungsanspruchs unabdingbare Voraussetzung, um Erziehungsabsichten und -wirkungen reflektieren und Bildungsprozesse angemessen unterstützen zu können. Als Ausgangslage für die Gestaltung von pädagogisch fundierten Lernarrangements benötigen wir ebenfalls dezidierte Kenntnisse der Sozialisationsbedingungen unserer AdressatInnen.

2.1.6 Lernen

Wenn wir pädagogisches Handeln als Unterstützung bei der Suche nach dem eigenen Weg betrachten, auf dem Individuen in erzieherischer Absicht Hilfestellung zum Erwerb der für die lebensgeschichtlich eingebetteten Bildungsprozesse nötigen Fähigkeiten und Fertigkeiten erhalten, dann stellt sich die Frage, welche Rolle Lernen in diesem Zusammenhang spielen kann und wie es in Sozialisationskontexte eingebunden ist. Sowohl Erziehung als auch Sozialisation sind Begrifflichkeiten, mit deren Hilfe Prozesse des Aufwachsens, der Identitätsbildung und des Erwerbs von Fähigkeiten und Fertigkeiten beschrieben werden.

Fertigkeiten, Fähigkeiten

Während Erziehung und Sozialisation aber in erster Linie auf den Bildungsprozess abzielen, fokussiert Lernen den Zuwachs an Können, Wissen, Einsichten und Haltungen (Vogel 2008), die das Individuum benötigt, um in seiner sozialen Umwelt bestehen zu können. Damit ist gemeint, dass es Fertigkeiten und Fähigkeiten erwirbt, die dabei behilflich sind, an sozialen Zusammenhängen der Lebenswelt teilzuhaben (z. B. Kommunikations- und Kulturtechniken, handwerkliche Techniken, berufliche Qualifikationen, musische Ausdrucksmöglichkeiten, motorische Fähigkeiten oder abstraktes Denken).

Deutungswissen

Lernen beinhaltet aber auch den Erwerb von Deutungswissen und Verhaltensstrategien für Begegnungen im sozialen Nahraum oder zur Organisation von Alltagsabläufen. Den Bausteinen dieser (unvollständigen) Reihe ist gemeinsam, dass sie sämtlich mit physisch mehr oder weniger messbaren organischen Abläufen verbunden sind, die Lernen zum Gegenstand von Neurowissenschaften, Medizin und Psychologie machen.

Lernprozesse

Beim Versuch, Lernen als Begriff in seiner Vielschichtigkeit zu erfassen und zugleich das Vergessen und den Verlust von Fähigkeiten auszugrenzen, kommt Treml (2004) zu folgender Definition:

„Lernen ist eine Form flexibler Anpassung lebender Systeme an ihre wechselnden Umweltbedingungen durch Veränderung ihrer Möglichkeiten, sich zu verhalten. Die Anpassung von Lebewesen an ihre Umweltbedingungen ereignet sich in Form individueller Erfahrungen, der Speicherung erfolgreicher Anpassungen und der Fähigkeit, das gespeicherte Können bei Bedarf wieder in Verhalten umsetzen zu können.“ (Treml 2004, 292)

In dieser Definition finden sowohl jene, das Individuum bereichernde, als auch jene, das Individuum langfristig schädigende Lernprozesse Aufnahme.

Lernertrag

In einem an positivem Lernertrag ausgerichteten Verständnis heißt Lernen demnach, die eigene kognitive Struktur zu erweitern, indem neues mit bereits bestehendem Wissen verknüpft und bestehendes Wissen verändert wird. Dabei werden idealiter die Verbindungen zwischen einzelnen Wissenseinheiten vor allem dann gestärkt, wenn Zweifel zugelassen und ihnen systematisch nachgegangen werden kann. Das in solchen Lernprozessen entstehende mentale Ungleichgewicht, welches beispielsweise durch Input oder Irritation hergestellt wird, führt im besten Fall zum Drang, dieses Ungleichgewicht aufzulösen und das „innere Gleichgewicht“ wieder herzustellen. Lernen erfolgt also, nachdem eine Aktivierung des Individuums zu Nachdenken und Lösungssuche geführt hat.

Lebensprobleme

Die Anreize zum Lernen werden sowohl im Kontext der Lebenswelt des Individuums als auch gezielt durch institutionell organisierten Unterricht gegeben. Diese Anreize bedürfen gewisser Voraussetzungen, die in einzelnen Biografien ganz unterschiedlich ausgeprägt sein können: So kann beispielsweise die Aufmerksamkeit durch dringende Lebensprobleme reduziert sein und der Intellekt aufgrund seiner Abhängigkeit von Fördermöglichkeiten und -strukturen im Alltag (Laucht et al. 2000) beeinträchtigt werden. Auch biografische Aufschichtungen, wie beispielsweise Bindungsstörungen, Gewalterfahrungen, Vernachlässigung, Trennungs- oder Verlusterfahrungen, können zu Lernbarrieren werden (Leonhardt 2005).

Segregation

Aber auch das Missverhältnis zwischen einer primär an Mittelschichtnormen und Segregation orientierten Schullandschaft und der heterogenen Vielfalt der lebensweltlichen Bedingungen des Aufwachsens von Kindern können Lernwiderstände zur Folge haben und Lernprozesse insgesamt nachhaltig beeinträchtigen.

 

Lernwiderstände

Die pädagogische Auseinandersetzung mit Lernen ist stets auch mit der Variationsbreite der Lernwiderstände verbunden. Wenn beispielsweise sozialpädagogische Programme zur Reintegration von SchulverweigerInnen oder SchulabbrecherInnen pädagogisch-therapeutische Ansätze zur Linderung von Schulängsten oder rehabilitative Konzepte in sonderpädagogischer Expertise zum Ziel haben, Lernmotivationen wieder herzustellen und Lernlust zu wecken, ist es hilfreich, Lerntheorien oder Analyseinstrumente zur konzeptionellen und evaluativen Beurteilung von Lernsettings zur Verfügung zu haben.

Aneignung

Hinsichtlich der Einschätzung von Lernwiderständen hat Holzkamp (1995) ein Analysemodell vorgelegt, das zwischen defensivem und expansivem Lernen unterscheidet und Widerstände oder Blockaden im systemischen Verständnis betrachtet. Hierfür ist es unabdingbar, die Lernenden auf der Handlungsebene zu verstehen und nicht auf der Verhaltensebene zu beschreiben. Als Grundlage eines solchen subjektwissenschaftlichen Zugangs zu Lernprozessen bietet das Holzkampsche Lernverständnis Anschluss an das zuvor skizzierte Bildungsverständnis, da Lernen als voraussetzungsvoller aktiver Aneignungsprozess verstanden werden kann, bei dem das Individuum mit seinen Lebensinteressen im Zentrum steht und seine sozialen und gesellschaftlichen Bezüge gleichfalls Berücksichtigung finden können.

Lernsetting

Bei Lernschwierigkeiten stehen demnach nicht passive Abhängigkeitsverhältnisse („Wenn-Dann-Struktur“) in Frage, sondern die Gründe, „ob und warum eine Person ein Handlungsproblem lernend bewältigen will. Die Bedeutsamkeit des Lerngegenstandes im Kontext der Lernsituation der Person rückt damit in den Blick“ (Grell 2006, 23) und verweist sowohl auf die Sozialisationsbedingungen wie auch das pädagogische Handeln, das das Lernsetting bestimmt. Während reformpädagogische Ansätze, wie z. B. jene der Montessori- oder der Waldorfpädagogik, erfolgreich eine lange Tradition der Orientierung an Ressourcen betonender, individueller Lernförderung aufbauen konnten, nähert sich das staatliche Schulsystem nur langsam, z. T. recht widersprüchlich und insgesamt eher punktuell als systematisch einem systemischen Lernverständnis und dessen institutionellen Bedingungen an. Künftig sollen im Rahmen der Umsetzungspraxis des Inklusionsparadigmas strukturelle Veränderungen der Konzeption und Organisation von institutionalisierten Lernsettings vorgenommen werden. In multiprofessionellen Teams und kooperativen regionalen Zusammenhängen könnte Lernen dann sowohl in schulischen als auch in vorschulischen und außerschulischen Bereichen gefördert werden.

Reproduktion von Ungleichheit

Grundmann et al. (2004) haben am Beispiel des komplett am Inklusionsparadigma ausgerichteten isländischen Bildungssystems eine Analyse der Bedeutung lebensweltlicher und schulischer Faktoren bei der Reproduktion von Bildungsungleichheit vorgelegt. Unter anderem belegen sie, dass manche Segregationseffekte nicht vom Schulsystem zu verantworten sind.

formelles Lernen

Die Unterscheidung nach formellem, non-formellem und informellem Lernen, wie sie seit 2001 von der Europäischen Kommission getroffen wird, ermöglicht einen erweiterten Blick auf den Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule. Formelles bzw. formales Lernen kann mit Overwien (2004) als Lernen, welches „üblicherweise in einer Bildungs- und Ausbildungseinrichtung stattfindet, (in Bezug auf Lernziele, Lernzeit und Lernförderung) strukturiert ist und zur Zertifizierung führt“, beschrieben werden. „Formales Lernen ist aus Sicht des Lernenden zielgerichtet.“ (Overwien 2004, 55f.)

nicht-formelles Lernen

Nicht-formelles Lernen wird in der Regel nicht zertifiziert, kann aber dennoch als systematisch (in Bezug auf Lernziele, Lerndauer und Lernmittel) und zielgerichtet skizziert werden (Overwien 2004).

informelles Lernen

Informelles Lernen findet hingegen im Alltag statt, zum Beispiel am Arbeitsplatz, im Familienkreis oder in der Freizeit. Es ist nicht strukturiert und führt nicht zur Zertifizierung: „Informelles Lernen kann zielgerichtet sein, ist jedoch in den meisten Fällen nichtintentional (oder inzidentell/beiläufig).“ (Overwien 2004, 55f.)

Overwien weist darauf hin, dass es keine klaren Grenzen zwischen dem „formellen“, „non-formellen“ und „informellen“ Lernen gibt. Vielmehr werden diese Lernvariationen von Overwien als Kontinuum aufgefasst, dessen extreme Endpunkte zwar noch relativ klar definiert werden, aber dazwischen immer nur ein „Mehr oder Weniger“ an Strukturierung und Formalisierung beinhalten können. Also kann informelles Lernen letztlich überall – und selbstverständlich auch im Kontext Schule – stattfinden.

Lernräume

Traditionell regt die Kinder- und Jugendhilfe Bildung durch nicht-formale und informelle (Lern-)Angebote an. Ersteres vor allem durch von der formellen (schulischen) Struktur und Atmosphäre oft bewusst abgegrenzte Lernräume. Letzteres, indem sie intentional gewollte und gestaltete Erfahrungsräume zur Verfügung stellt, die vom Alltag der meisten Kinder und Jugendlichen abweichende Erfahrungen provozieren sollen und sich dennoch auf deren Lebenswelt beziehen.

Handlungs-kompetenzerwerb

Während die Unterrichts- und Lehr-Lernforschung „Prozesse der Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten sowie Prozesse der Identitätsentwicklung von Subjekten und der Individuation speziell in Kontexten schulischer Bildung methodisch-systematisch“ (Lüders/Rauin 2004, 691) untersucht, hat sozialpädagogische Forschung in diesem Zusammenhang ihren Schwerpunkt in der Analyse des Erwerbs von Handlungskompetenzen in sozialen Kontexten, wie z. B. zu non-formalen und informellen Lernprozessen in der Jugendarbeit (Baumbast et al. 2014). Sie fragt also nach den sozialen Lernprozessen in sozialen Kontexten und Institutionen der Sozialen Arbeit.

Lernkontexte

Die Förderung von Lernprozessen bedarf der Analyse von biografisch, institutionell und strukturell bedingten Lernausgangssituationen und der Gestaltung von Lernkontexten, die die Verwobenheit von formellem, nicht-formellem und informellem Lernen und Fragen der dialogisch angelegten, gezielt geplanten und organisierten Unterrichtung berücksichtigen. Lernprozesse sind also immer voraussetzungsvoll in die Lebenswelt und das Umfeld des/der Lernenden eingebunden und ohne Wechselwirkungen zum Makro-, Meso- und Mikrosystem eines Individuums und seines Exosystems (Bronfenbrenner 1996) nicht hinreichend zu reflektieren. Lernen ist eine hochkomplexe und nicht beobachtbare Tätigkeit des Individuums, das sowohl Lernimpulse von außen benötigt, als auch den Wunsch nach Zuwachs an Zugriffsmöglichkeiten auf die Welt entwickeln können muss.

2.1.7 Lebenswelt

Erfahrungsraum

Der sozialpädagogische Diskurs erörtert die Lebenswelt als alltägliche Erfahrung des Menschen innerhalb einer gesellschaftlichen Situation. Lebenswelt ist demnach der menschliche Erfahrungsraum, der in Regelungen von Zeit, Raum und von Beziehungen als eine Gemengelage von Ressourcen und Problemen strukturiert ist.

Ressourcen

Nach diesem Verständnis ist es sozialpädagogische Aufgabe, beispielsweise der Schulsozialarbeit, die Schule als kind- und jugendgemäßen Lebensort zu sehen (Braun/Wetzel 2006), an der Reorganisation gegebener Lebensverhältnisse von Individuen mitzuwirken und dazu beizutragen, dass „Ressourcen so stabilisier[t]“ werden, „dass Menschen sich in ihnen arrangieren, ja vielleicht Möglichkeiten finden, Geborgenheit, Kreativität, Sinn und Selbstbestimmung zu erfahren“ (Thiersch 2012, 23).

Individualisierung

Mit dem Konzept der Lebenswelt kann die Suche von Individuen nach biografischer Handlungsfähigkeit innerhalb der Sozialisationsbedingungen differenziert erfasst werden. Die diesen Prozessen inhärente aktive Auseinandersetzung des Individuums mit der materiellen und sozialdinglichen Umwelt (Böhnisch/Schröer 2013) kann interpretiert und passgenaue Unterstützungsangebote können bestimmt werden. Die theoretische Fundierung des Lebensweltkonzepts schließt an die Arbeiten des Soziologen Ulrich Beck an, die den Prozess der gesellschaftlichen Individualisierung (Beck 1986) beschreiben.

Biografie

Das sozialpädagogische Lebensweltverständnis geht des Weiteren von individualisierten lebensweltlichen Bildungsprozessen aus, die aus lebensweltlichen Befindlichkeiten und Betroffenheiten resultieren und in Abhängigkeit zu den in der jeweiligen Lebenswelt vorhandenen Ressourcen und subjektiven Aneignungsweisen stehen. Damit greift der Lebensweltbegriff das Modell von Beck auf, das vom Ende industriegesellschaftlicher Lebensformen ausgeht und Individuen in der Pflicht sieht, ihre Biografien selbst herzustellen und zu inszenieren. Das der vormodernen Industriegesellschaft als Orientierung dienende Ideal einer sogenannten Normalbiografie wird in der Moderne von der individuellen Biografie mit ihren Wahl- und Konstruktionsmöglichkeiten abgelöst. Jede Biografie ist damit „eine unter anderen“, da biografische Brüche (z. B. Scheidung, Patchworkfamilie, Arbeitsplatzwechsel, Umzüge, Berufswechsel, Wechsel von Zeiten der Erwerbsarbeit mit denen von Qualifizierung bzw. Arbeitslosigkeit) nicht mehr die Ausnahme sind, sondern als selbstverständliche Aspekte einer Biografie erachtet werden.