Pädagogik

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1 Nachdenken über das pädagogische Handwerkszeug – Ein Fallbeispiel

Die Bedingungen der sich demografisch wandelnden Migrationsgesellschaft (Mecheril et al. 2010) verlangen nach Reformen innerhalb des Bildungs- und Hilfesystems. Dessen traditionelle Trennung zwischen schulischen Strukturen und den sich an Familienförderung und Hilfesystem orientierenden sozialpädagogischen Bildungsstrukturen erweist sich zunehmend als ineffektiv.

Ganz gleich, ob in Tageseinrichtungen für Kinder und Kindertagespflege, Schule, Kinderschutz, Jugendarbeit, Erziehungshilfe, im kooperativen Hilfesystem der Jugendsozial- und Jugendberufshilfe oder am Übergang in den Beruf, in der Phase der Familiengründung, im Zusammenhang mit inhaltlichen Interessen oder beruflichen Umorientierungen von Erwachsenen oder während des Ruhestandes: Sofern die Aktivitäten und Angebote institutionell strukturiert vorgehalten werden, kommen pädagogisch motivierte Anliegen und Strukturen zum Tragen. Sie setzen die entsprechende Fachlichkeit voraus und lassen sich in ihrem Anspruch von zwischenmenschlichem Alltagshandeln, „Nachbarschaftshilfe“ oder marktwirtschaftlich motivierten Interessen abgrenzen.

„Hinter“ den pädagogisch motivierten Anliegen stehen theoretische Setzungen, Überlegungen und Argumentationen, Ideen, Wünsche und auch Verunsicherungen, die sich auf fachliche Ansprüche, herrschende Diskurse, fachliche Überzeugungen und politische Anliegen, Traditionen und Veränderungsbewegungen beziehen und das pädagogische Handeln der Fachlichkeit bestimmen.

„Vor“ den Angeboten und Strukturen stehen allerdings Menschen, die als Kinder, Jugendliche oder Erwachsene im Erwerbsalter bzw. im Ruhestand so gefördert werden, dass sie den Anschluss an gesellschaftliche Gegebenheiten finden und ein möglichst selbstbestimmtes Leben im Einklang mit gesellschaftlichen Interessen führen können. Sie betreffen beispielsweise ein Kind, das entweder alleine oder gemeinsam, mit leiblichen oder sozialen Geschwistern, mit einem oder zwei leiblichen oder sozialen Elternteilen zusammenlebt. Vor diesem familiären Hintergrund, aber auch in Abhängigkeit zur Ausformung von dessen monetären oder soziokulturellen Kapitalressourcen und Erwerbsstrukturen, nimmt es eines von mehreren Formaten (Kindertagesstätte, Kindergarten, Tagesmutter) der regelmäßigen außerfamiliären Betreuung wahr und soll dort über einen bedingt variabel zu wählenden Zeitraum (vormittags, nachmittags, ganztags, stundenweise) und entlang einer breiten, auch trägerschaftlich (z. B. öffentliche bzw. freie Träger) bestimmten Konzeptvielfalt und/oder pädagogisch begründeten Theorien (z. B. reformpädagogischer Ansatz nach Montessori, Steiner, Situationsansatz, Reggiopädagogik, Waldpädagogik) hinsichtlich seiner sozialen, kognitiven und emotionalen Entwicklung gefördert werden. Ab dem Zeitpunkt der Schulpflicht mindert sich die Vielfalt der Formate und Konzepte erheblich, während sich die Erwartungen an das einzelne Kind vor allem auf dessen Leistungspotenzial konzentrieren. Von Beginn an sind die biografischen Möglichkeiten des Kindes mit jenen seines Umfeldes verknüpft. Die an das Kind gerichteten schulischen Leistungs- und Normerfüllungserwartungen werden von Unterstützungs-, Begleitungs- und Hilfestrukturen ergänzt.

Sowohl die schulischen Ansprüche als auch die flankierenden Möglichkeiten des Hilfesystems bauen auf dem fachlichen „Handwerkszeug“ des pädagogischen Handelns, auf dem Verständnis von Erziehung, Bildung, Sozialisation und Lebenswelt auf. Für die innerhalb der Systeme tätigen Fachkräfte gilt es, dieses Verständnis im Rahmen des eigenen Professionalisierungsprozesses zu erwerben und dessen Nutzung einzuüben. Mit anderen Worten: Es ist nötig, immer wieder (neu) über das eigene fachliche Verständnis der erziehungswissenschaftlichen Grundbegriffe nachzudenken und sich auch mit Bezug auf konkrete Einzelfälle immer wieder neu zu positionieren und das eigene Handeln zu reflektieren.

Für den Bereich der Erwachsenenbildung tritt die erzieherische Komponente des pädagogischen Handelns hinter den Anspruch, Bildungsprozesse anzuregen, zurück. Die AdressatInnen der pädagogischen Angebote gehören entweder zu den Erziehenden, deren Alltag und Unterstützungsbedarf auf ihrem eigenen Erzogen-Worden-Sein gründet, oder sie verfolgen als NutzerInnen der Erwachsenenbildung ausschließlich ein Bildungsinteresse im Kontakt mit der pädagogischen Fachlichkeit. Daher muss unseres Erachtens am Anfang dieser Einführung zunächst die Klärung der verwendeten Begrifflichkeiten stehen. Das ist ein erfahrungsgemäß mühsames Unterfangen des theoretischen Nach- und Durchdenkens, das mit zunehmender Erklärungsdichte seine Komplexität immer weiter offenbart.


Im Versuch, der antizipierten Abschreckung vorzubeugen, die beispielsweise die Komplexität des pädagogischen Handelns als grundbegriffliches Konstrukt in sich birgt, stellen wir den begrifflichen Erläuterungen ein Fallbeispiel voran. Es soll aus unterschiedlichen Perspektiven die Notwendigkeit der Reflexion pädagogischer Grundbegriffe und Maximen verdeutlichen.

Eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern zwischen fünf und sechzehn Jahren muss den Familienalltag im Rahmen der Mittel staatlicher Alimentation bewältigen, da sie aufgrund psychischer Erkrankung nicht in der Lage ist, einen Teil des Familieneinkommens selbst zu erwirtschaften. Die Familie lebt also unter Armutsbedingungen, die Kinder sind durch die damit verbundenen sozialen Ausgrenzungsprozesse in ihrer Entwicklung bedroht und müssen einem hohen sozialen Belastungsdruck standhalten. Erschwerend zur Armut kommt hinzu, dass die Mutter erst als Erwachsene nach Deutschland eingewandert ist und sich seit Jahren im Umgang mit Institutionen (Ämtern und Schulen) nur mit Hilfe der Tochter verständigen kann. So hat die nun sechzehnjährige Tochter im Verlauf ihrer Schullaufbahn viel Unterricht in der Schule versäumt und Einschränkungen in den Möglichkeiten ihrer Bildungsbiografie erfahren, weil sie einen großen Teil der Verantwortung für die Bewältigung der Familienorganisation auf sich nimmt. Der vierzehnjährige Sohn der Familie verweigert seit einem Jahr, zunächst durch unentschuldigte Krankheit, später aufgrund daraus resultierender Schwierigkeiten der Leistungserfüllung und problematischer Konstellationen innerhalb seiner Peer-Group, die Erfüllung der Schulpflicht ebenso wie die als Sanktionen damit verbundenen Ordnungsmaßnahmen. Er wird keinen Schulabschluss erreichen.

Das jüngste Kind der Familie wird halbtags im Kindergarten betreut und dort in seiner Entwicklung bestmöglich gefördert, damit es nach seiner Einschulung im nächsten Jahr dem Anfangsunterricht in der Grundschule gut folgen kann. Die Bildungsbiografien der Kinder dieser Familie werden zunächst vom pädagogischen Handeln des Kindergartens und der Schulen bestimmt. Da die beiden schulpflichtigen Kinder in erheblichem Maß dem Unterricht fernbleiben, richten KlassenlehrerInnen und Schulleitung (entsprechend des generellen Konzeptes dieser Schule in Fällen von gehäuften Fehlzeiten) ihr pädagogisches Handeln an sanktionierenden Maßnahmen aus, die ihre erzieherische Absicht allerdings verfehlen.

Da die Fachkräfte der Kindertageseinrichtung aus den Verhaltensweisen des jüngsten Kindes auf Vernachlässigung im häuslichen Umfeld schließen, schalten sie die Jugendhilfe ein. Diese prüft die Situation und stellt der Familie eine Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) zur Unterstützung der Alltagsorganisation und zum Abbau der Überforderungssituation, in der sich die Mutter befindet, zur Seite. Die SPFH wird nach einem halben Jahr durch eine Erziehungsbeistandschaft für den 14-jährigen ergänzt. Beide Maßnahmen der Erziehungshilfe werden aber – trotz Beteiligung am Hilfeplanverfahren – innerhalb der Familie als Eingriff und Bevormundung wahrgenommen und erreichen mit ihren pädagogischen Handlungen nicht das beabsichtigte Ziel. Nach der Erklärung der Mutter, keine Hilfe zu benötigen, und nach der Entkräftung des Misshandlungsverdachts zieht sich die Jugendhilfe aus der Familie zurück und begründet diesen Rückzug mit der mangelnden Mitwirkungsbereitschaft der Familienmitglieder.

Der Fall wirft eine Reihe von Fragen auf, für deren diskursive (klärende, nicht absolute) Beantwortung wir die Auseinandersetzung mit den pädagogischen Grundbegriffen und Maximen benötigen. Diese erweitern wir anschließend durch die Reflexionen aus intersektionaler Perspektive sowie nachfolgend aus der Sicht der institutionellen Struktur, um sie schließlich mit dem Blick auf die AdressatInnen abschließend zu modifizieren:

Woran wollen wir das pädagogische Handeln der VertreterInnen von Schule und Jugendhilfe messen?

Welchen Erziehungsbedarf können wir für die einzelnen Kinder dieser Familie formulieren?

Wie können wir den Verlauf der Bildungsbiografie der Jugendlichen beurteilen, ohne dabei ausdrücklich (bzw. in erster Linie) auf schulische Parameter zur Leistungsmessung zurückzugreifen?

Über welche Stärken, Potenziale und Ressourcen verfügen die Kinder, die Mutter und das Familiensystem? Wie ist ihre Vernetzung in die und mit der sozialen Umwelt?

Warum könnte der weitere Lernprozess des jüngsten Kindes gefährdet sein, wenn es demnächst in die Schule geht?

 

Welchen Stellenwert müssen wir den Sozialisationsbedingungen, unter denen die Kinder dieser Familie aufwachsen, zumessen?

Wie können wir die Lebenswelt dieser Familie angemessen rekonstruieren?

Welcher Unterstützungsangebote bedarf die Mutter seitens sozialpsychiatrischer Dienste und Lernangebote der Erwachsenenbildung (z. B. Deutschkurs)?

Welche Bedürfnisse dieser drei Kinder werden (nicht) hinreichend erfüllt?

Welche Möglichkeiten des Eingriffs in als problematisch eingeschätzte Entwicklungen bieten Konzepte des Lehrens, der Hilfe, der Begleitung und der Rehabilitation?

Welche fachlichen Kriterien müssen wir anlegen, um diesen Fall bzw. die vier darin enthaltenen Einzelfälle zu verstehen?

Welche absehbaren Gefahren für die einzelnen Familienmitglieder lassen sich durch Maßnahmen der Prävention mindern?

Welche Beratungsangebote können den einzelnen Familienmitgliedern helfen, ihre Situation möglichst selbstbestimmt verbessern zu können?

Warum müssen die pädagogischen Unterstützungsangebote und -maßnahmen für die einzelnen Familienmitglieder an deren Partizipation (aktiver Teilhabe) an Auswahl- und Entscheidungsprozessen ausgerichtet sein?

Welche Anforderungen stellt die Familienkonstellation und -situation an Konzepte, die der Integration dienen und Inklusion zum Ziel haben?

Warum ist es erforderlich, dass die mit der Situation der Familie und ihren einzelnen Familienmitgliedern befassten Institutionen und Fachkräfte in Kooperation und Vernetzung zusammenarbeiten?

Welche intersektionalen Differenzlinien sind in diesem Fall – auf welche Weise – miteinander verwoben?

Warum ist für das jüngste Kind die Transition von der Kita in die Grundschule mit einem biografischen Risiko der Gefährdung verbunden und warum drohen die beiden Jugendlichen am Übergang von der Schule in den Beruf zu scheitern?

Warum müssen wir die Handlungsfähigkeit der einzelnen Familienmitglieder für die Einschätzung ihrer Situation berücksichtigen?

Welche pädagogischen Handlungsfelder haben für die in dieser Familie zu bewältigenden Anforderungen eine Expertise entwickelt, und welche neuen Konzepte für solche und ähnliche Probleme werden derzeit entwickelt?

– Wo verorten wir die Familie und ihren Bedarf an pädagogischer Unterstützung innerhalb der Bildungslandschaft?

– Welche Möglichkeiten bieten die Familienbildung und die frühen Hilfen für den weiteren Verlauf der Bildungsbiografie des Kindergartenkindes?

– Welche Reichweite kann die Elementarbildung für die Bildungsbiografie des jüngsten Kindes haben?

– Welche Förderungen und Herausforderungen erwarten das jüngste Kind in der Grundschule?

– Welche Möglichkeiten hat die Sekundarstufe, um schulfernen Jugendlichen eine anschlussfähige Bildungsbiografie zu ermöglichen?

– Welche Hilfe kann die Schulsozialarbeit zur Sicherung der Anschlussfähigkeit der beiden Jugendlichen bieten?

– Welche Unterstützung können die Kinder dieser Familie in den Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit finden?

– Welche Chancen bietet die Jugendsozialarbeit für die Bewältigung des Risikos am Übergang von der Schule in den Beruf?

– Wie weit reich(t)en die Angebote der Hilfen zur Erziehung in diesem Fall und wie wurden die Maßnahmen im Hilfeplanverfahren gerechtfertigt?

– Gibt es begründete Anhaltspunkte, um Maßnahmen der Inobhutnahme zu durchdenken?

– Welche Funktion kann die Gemeinwesenarbeit im Hilfeszenario für diese Familie übernehmen? Welche Unterstützung kann der Mutter hinsichtlich ihrer Depressionen angeboten werden?

– Welchen Beitrag können die Angebote der Erwachsenenbildung für die Verbesserung der familiären Situation leisten?

Warum haben die Hilfeangebote und -maßnahmen die Familienmitglieder als AdressatInnen von Bildungs- und Hilfeangeboten nicht erfolgreich erreichen können?

Wie viel Hilfe und wie viel Kontrolle können in diesem Fall fachlich vertreten werden?

Diese exemplarischen Fragen geben zum einen die Gliederung dieses Buches wieder und gehören zum anderen ins Repertoire des pädagogischen „Handwerkszeugs“, mit dem wir fachliche Reflexionen im praktischen Kontext theoretisch klären können. Zwar können diese auch aus einem nicht fachlich reflektierten Alltagsverständnis von „Normalität“ heraus beantwortet werden, was aber eben keine fachliche Reflexion beinhaltet. Die fachliche Reflexion erfordert vielmehr die diskursive Auseinandersetzung mit den bereits durchdachten Positionen und empirischen Befunden, die unter den Bedingungen der praktischen Anforderungen die im Alltag handelnden Akteure von fachlich reflektierten unterscheidet.

2 Schlüsselbegriffe im pädagogischen Diskurs

2.1 Grundbegriffe in pädagogischer Tradition

2.1.1 Pädagogisches Handeln

Vor der pädagogischen Handlung steht die fachlich fundierte Einschätzung des künftigen Handelns, damit das Handeln als „pädagogisch“ bezeichnet werden kann. Es muss in Hinblick auf seine Wirkung mehrfach reflektiert werden: Innerhalb eines ausdifferenzierten Sinnzusammenhangs wird über Ziele, Bewertungskriterien und Einflussbedingungen sowie Konsequenzen nachgedacht, da man andernfalls nicht „weiß, was man tut“ – wenngleich das Handeln auch dann noch ein „Wagnis“ bleibt, da jede Strategie auch die Möglichkeit des Scheiterns beinhaltet (Hörster 1995, 38). Pädagogisches Handeln bleibt also stets von Ungewissheiten bestimmt, die sich aus sozialen, institutionellen und subjektbezogenen Bedingungen ergeben.

Die Sinnhaftigkeit einer pädagogischen Handlung muss demnach einerseits im Voraus antizipierbar sein, obwohl sie andererseits erst in der Rekonstruktion ihres Sinns tatsächlich geklärt werden kann. Um dieses Dilemma erfassen und diskutieren zu können, schlägt Helsper (1995) ein mehrperspektivisches Schema vor, mit dessen Hilfe er pädagogisches Handeln „als interaktiv-asymmetrisches Vermittlungsverhältnis in der Spannung von Fallverstehen und subsumtivem Regelwissen“ (Helsper 1995, 31) beschreibt.

Einzelfallbezug

Pädagogisches Handeln dient in diesem Verständnis sowohl der Allgemeinbildung einer „Person“ als auch ihrer Selbstbildung, hat zwischen kollektiven und individuellen Ansprüchen zu vermitteln, beinhaltet ebenso Erziehung wie Unterricht, ist abhängig von Sozialisationsbedingungen und muss Entwicklung berücksichtigen.

Wenngleich sich eine Reihe von methodischen Umsetzungen pädagogischen Handelns nennen lassen (z. B. Unterrichten, Beraten), so bestimmt doch die stets offene Zukunft (Helsper 1995) dessen, was die AdressatInnen pädagogischen Handelns für sich selbst aus dem ihnen Angebotenen schlussfolgern, annehmen oder umsetzen, seinen Ausgang.

Absichten

Die Wirkungen der Handlung sind demnach immer ins Ungewisse verlegt, weil nicht nur die nachhaltige Wirkung des Beabsichtigten, sondern auch die unbeabsichtigten Nebenwirkungen pädagogischen Handelns in die notwendige Reflexion seiner Umsetzungen einbezogen werden müssen.

Im Versuch, pädagogisches Handeln unabhängig vom jeweiligen Handlungsfeld zu definieren, ist, Giesecke (2007) zufolge, die Gemeinsamkeit jeglichen pädagogischen Handelns die über formalisierte und nicht formalisierte Lernanreize vermittelte Veränderungsabsicht von Menschen oder deren sozialen Bedingungen. Für die Klärung solcher Veränderungsabsichten benötigen die pädagogisch Handelnden Orientierungen, die sowohl der Auseinandersetzung mit dem individuellen Gegenüber und seiner biografischen Gewordenheit sowie seinen Bedürfnissen als auch der Beschäftigung mit gesellschaftlichen oder institutionellen Schieflagen und sozialen Ungleichgewichten gerecht werden können:

„Der Pädagogik wächst […] die Aufgabe zu, in sorgfältigen Beschreibungen von Lern- und Bildungsmilieus, von Situationen und biographischen Verläufen, von anthropologisch ermittelbaren Grenzen und Risiken das Normalitäts-Spiel der Kultur im Umgang der Generationen miteinander zuverlässig zu kommentieren und aufzuklären.“ (Mollenhauer 1996a, 34)

pädagogische Beziehung

Neben Absichten, Wirkungen und Konsequenzen muss auch die mit pädagogischem Handeln verbundene Beziehungsebene reflektiert werden. Dafür bedarf es orientierender Maßstäbe, an welchen die mit pädagogischem Handeln verbundenen kognitiven Prozesse, emotionalen Komponenten, sozialen Entwicklungen und individuellen Beziehungen der direkt Beteiligten sowie der auf administrativen Ebenen indirekt steuernden AkteurInnen gemessen werden können: Ein möglicher Maßstab für pädagogisches Handeln auf der Beziehungsebene kann beispielsweise der Umgang mit bzw. Ausdruck von Machtverhältnissen sein, ein anderer kann auf der Ebene der kognitiven Wissensvermittlung die Deskription der Lernergebnisse sein.

Verantwortung

Bindet man pädagogisches Handeln enger an Erziehung, so ist zu bedenken, dass man im pädagogischen Setting nicht nicht-erziehen, aber auch nicht zweifelsfrei steuern kann: Pädagogisches Handeln im Erziehungskontext ist immer zugleich intentionales „Versuchshandeln, das in der Absicht der Einwirkung auf andere Personen und in der Erwartung des Eintritts wahrscheinlicher Effekte vollzogen wird“ (Lüders 2001, 945). Pädagogisches Handeln muss demnach stets dem Prinzip der Verantwortbarkeit folgen und soll nur am Nutzen der AdressatInnen ausgerichtet sein (Schaarschuch 2010). Giesecke (2007) zufolge muss es aber immer auch unter dem Gesichtspunkt der sozialen Interaktion zur Ermöglichung von Lernen und in der Reflexion von deren Angemessenheit betrachtet werden.

Persönlichkeitsentwicklung

Wenn über pädagogisches Handeln innerhalb zur jeweiligen Zeit geltender Normen und gesellschaftlicher Bedingungen – also innerhalb der epochal entstandenen Umstände – Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützt werden (sollen), dann bilden – bezogen auf Kinder und Jugendliche – nicht nur Lernen, sondern auch Erziehung und Bildung die Hintergründe und Anlässe für pädagogisches Handeln. Die Bedingungen pädagogischen Handelns sind u. a. so, wie es Schleiermacher bereits 1826 mit seiner Frage nach Antrieben, Absichten und Überprüfungen der pädagogischen Einwirkung formuliert hat, zu reflektieren: „Was will eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren? Wie wird die Tätigkeit dem Zweck, das Resultat der Tätigkeit entsprechen?“ (Schleiermacher 1826/1983, 15)

 

Wie aber die pädagogische Handlung als „konstituierende Hilfe […] beim Erwerben und Fördern der Fähigkeiten, sich selbst zu bestimmen und selbst tätig zu werden“ (Bokelmann 1979, 128) im Einzelnen und im Konkreten aussieht, hängt immer vom Kontext der Handlung ab. Auf der Ebene der Grundbegriffsklärungen muss die Konkretisierung offen bleiben, weil sich die pädagogische Handlung auf ein konkretes Verhältnis zwischen jenen, die die „Fähigkeiten – wenn auch immer nur bedingt – schon erworben haben, und denjenigen, die sie erst erwerben müssen, ihrer nicht mehr gewiß sind oder sie wieder eingebüßt haben“ (Bokelmann 1979, 128) bezieht.

2.1.2 Erziehung

Erziehungsabsichten

Für die pädagogische Einwirkung des professionellen pädagogischen Handelns wird mit Bezug auf Kinder und Jugendliche (z. T. auch synonym) der Erziehungsbegriff verwendet (Ludwig 2000). Außerdem wird er alltagssprachlich für den intentionalen, (meist) elterlichen Umgang Erwachsener mit Kindern und Jugendlichen gebraucht. Als grund- und sozialrechtlich zu schützendes Gut ist Erziehung u. a. auch zur Prävention möglicher Gefährdungen der Persönlichkeitsentwicklung oder individuellen Schädigungen in institutionellen Kontexten verankert, deren Maxime auch im Widerspruch zum elterlichen Erziehungsverständnis stehen können.

Erziehungsauftrag

Das Grundgesetz hält den Erziehungsauftrag in Artikel 6 Abs. 2 des Grundgesetzes fest und verbindet ihn mit der Verpflichtung zur Sicherstellung von förderlichen Rahmenbedingungen durch die (staatliche) Gemeinschaft. In § 1 des Achten Sozialgesetzbuches (SGB VIII) wird diese Position bekräftigt:

„(1) Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ (§ 1 SGB VIII)

Die Verpflichtung zur Wahrung des Rechts auf Erziehung wird durch das SGB VIII in die Verantwortung der Jugendhilfe gelegt. Die hier berücksichtigte enge Verbindung zwischen Erziehung und deren mögliche Gefährdung durch Bedingungen innerhalb der Lebenswelt des Individuums, die seitens der Jugendhilfe gemildert werden können, weist darauf hin, dass Erziehung ein komplexes Unterfangen ist, das besondere Aufmerksamkeit verdient.

Gewaltverbot

Die UN-Kinderrechtscharta betont in Artikel 7 „das Recht auf eine Privatsphäre und eine gewaltfreie Erziehung im Sinne der Gleichberechtigung und des Friedens“ und verweist darauf, dass im Erziehungskontext durchaus auch Gefahren für Kinder liegen können, wenn Erwachsene ihr Erziehungsverständnis durch Formen körperlicher und seelischer Gewalt umzusetzen versuchen.

(Auch) Schule hat einen rechtlich fixierten Erziehungsauftrag, der über die Schulgesetzgebung der Länder transportiert wird, aber durchaus kontrovers zum elterlichen Erziehungsprimat stehen kann.

Anschlussfähigkeit

Als Grundbegriff beschreibt Erziehung eine „intentionale Tätigkeit, die sich darum bemüht, Fähigkeiten von Menschen zu entwickeln und in ihrer sozialen Anschlussfähigkeit zu fördern“ (Luhmann 2002, 15). Damit ist gemeint, dass Erziehung

„dasjenige Handeln [ist], in dem die Älteren (Erzieher) den Jüngeren (Edukanden) im Rahmen gewisser Lebensvorstellungen (Erziehungsnormen) und unter konkreten Umständen (Erziehungsbedingungen) sowie mit bestimmten Aufgaben (Erziehungsgehalten) und Maßnahmen (Erziehungsmethoden) in der Absicht einer Veränderung (Erziehungswirkungen) zur eigenen Lebensführung verhelfen, und zwar so, daß die Jüngeren das erzieherische Handeln der Älteren als notwendigen Beistand für ihr eigenes Dasein erfahren, kritisch beurteilen und selbst fortführen lernen“ (Bokelmann 1970, 185f.).

Erziehungsdialog

Wenngleich das Erziehungsverhältnis von den Erziehenden bestimmt wird, die wollen, dass sich die zu Erziehenden (Edukanden) „die Gehalte der Absichten der Erziehung in einem aktiven Prozess zu eigen machen“ (Vogel 2008, 120) sind die so Erzogenen für das Gelingen des Erziehungsprozesses mitverantwortlich. Erziehung ist also immer als dialogische Interaktion zu denken, deren mögliches Scheitern einkalkuliert werden muss (Vogel 2008). Vogel betont, dass es sich beim Erziehungsbegriff um ein „Denkmodell“ handelt, das auf „Annahmen über die prinzipielle Intentionalität und Reflexivität menschlichen Handelns“ zurückgeht, sich also an „selbst gewählten Sinnsetzungen“ (Vogel 2008, 120) orientiert und sich argumentativ mit Sinnsystemen auseinandersetzen kann.

Auch die Gesetzgebung geht von einer zweifelsfreien Erziehungsrelevanz aus und hält dies in der zuvor zitierten Generalklausel im § 1 des SGB VIII als Leitnorm fest, die ausnahmslos alle jungen Menschen in den Blick nimmt, ihre Eltern berücksichtigt und die Jugendhilfe in die Pflicht nimmt. Inwiefern sich hieraus aber ein subjektiver Rechtsanspruch auf Förderung bzw. Erziehung ergibt, ist umstritten. Vor allem der weite Erziehungsbegriff und der Respekt vor den Lebensentwürfen und Lebenslagen von Menschen sind hierfür entscheidend (Münder et al. 2009, 64f.).

Erziehungsbedarf

In die gesetzlichen und fachlichen Definitionsbestimmungen von Erziehung finden auch Annahmen von Kant (1803/1983) Aufnahme, der davon ausging, dass der Mensch nur durch Erziehung zum Menschen werden könne und dass man berücksichtigen müsse, dass der Mensch nur durch Menschen erzogen werden kann, die ebenfalls erzogen worden sind und die in der Lage sind, eigene Erfahrungen und Erkenntnisse weiterzugeben (Kant 1803/1983).

Erziehungshandeln

Mit seinen Überlegungen steht Kant am Anfang einer historischen Auseinandersetzung, in deren diskursivem Verlauf nachvollzogen werden kann, dass die Problematik der „Unsichtbarkeit von Erziehung“, die der „Perspektivität von Erziehungsvorstellungen“, ihre „Flüchtigkeit“ und die Diskrepanz zwischen „Erziehungssemantik“ und „Realität“ (Winkler 1995, 56f.) in ihrer Komplexität kaum fassbar sind. Die Interdependenzen dieser Bausteine sind aber zugleich die Herausforderung, sich professionell mit Fragen der Erziehung auseinanderzusetzen. Erziehungshandeln selbst bleibt demnach zumeist unsichtbar – abgesehen von tätlichen Gewalthandlungen, die unrechtmäßig in erzieherischer Absicht vorgenommen werden.

2.1.3 Erziehungspartnerschaft

pädagogische Professionalität

Die Abhängigkeit des Erziehungsverständnisses von epochalen Wandlungen zeigt sich u. a. in der Diskussion um „Erziehungspartnerschaft“ zwischen pädagogischen Institutionen und Eltern (Textor 2007). Ging Giesecke 1987 noch davon aus, dass sich pädagogisches LehrerInnenhandeln allein auf Lernen durch Unterrichten reduzieren lässt, wird pädagogische Professionalität der Gegenwart eng an ein Konstrukt von Erziehung im institutionellen Kontext gebunden. Sicher ist zwischen familialer und schulischer Erziehung zu differenzieren, aber mit der Idee (von) der Erziehungspartnerschaft wird versucht, die individuelle Seite von Erziehung in der Familie mit der universellen Seite der Erziehung durch schulische Interaktionen und Settings zu einer politischen Aufgabe der Zukunftssicherung und normativen Einigung zusammenzuführen.

pädagogische Ziele

Das Anliegen besteht darin, übergeordnete, institutionell und strukturell zu verantwortende Intentionen durch Kontrakte zu legitimieren und in den privaten Raum der Familie zu überantworten. Teil der Erziehungspartnerschaft sind auch pädagogische Lehrkräfte, die die angenommene moralische Einheitlichkeit pädagogischer Zielvorstellungen ebenso wie andere pädagogische Fachkräfte und Ehrenamtliche umsetzen sollen.

Erziehungspraktiken

Angesichts der Vielzahl von möglichen Erziehungsstilen und Erziehungsverständnissen braucht Schule eine Orientierungshilfe in der Ausrichtung ihrer Erziehungsmaximen, also der verallgemeinerbaren Grundsätze ihres Wollens und Handelns. Ausgangspunkt ist die alltägliche Normalität in ihrer gesamtmöglichen Vielfältigkeit. So kann in schulischer Erziehung letztlich nur die Orientierung an den Maßstäben demokratischen Handelns die Grundlage von Erziehungspraktiken sein. Damit fallen vernachlässigende und entwürdigende, permissive oder zurückweisende Erziehungsstile per se aus dem möglichen Repertoire heraus.

Insofern müsste die Idee der Erziehungspartnerschaft, die sich am autoritativen Erziehungsstil des demokratischen Verhandelns ausrichtet, auch demokratische Entwicklungen befördern helfen, das Schulklima verbessern und langfristig den autoritären Erziehungsstilen der sogenannten Schwarzen Pädagogik und ihren gewalt- bzw. machtbetonten Erziehungspraktiken das Wasser abgraben. Schulische Erziehung muss zur Reorganisation der Persönlichkeit der AdressatenInnen beitragen und ggf. undemokratische familiäre Erziehungserfahrungen ausgleichen können (Garz 2004).

Recht auf gewaltfreie Erziehung

Erziehung in diesem Verständnis würde sich um die emotionale Sicherung der zu Erziehenden im jeweils erfahrbaren Milieu kümmern und deren Lernprozesse befördern. Dafür wären Ermutigung und Grenzziehung seitens der pädagogischen BegleiterInnen unabdingbar und das Recht auf gewaltfreie Erziehung (§ 1631 BGB Abs. 2) garantiert.

Eine solche Erziehungspartnerschaft geht deutlich über das von Bönsch (2004) vorgelegte Modell hinaus, das Schule durch die Zusammenarbeit mit Jugendhilfe entlasten will, indem „sinnvolle […] Erziehungsauffassungen“ (Bönsch 2004) vermittelt und Lebenszusammenhänge zum besseren Verständnis von Verhaltensweisen der SchülerInnen rekonstruiert werden sollen. Schließlich ist keineswegs von einem Konsens über die Sinnhaftigkeit von Erziehungsvorstellungen auszugehen, sondern davon, dass sie kommunikativ erzeugte, normative Konstruktionen sind.

2.1.4 Bildung

Bildsamkeit

Neben pädagogischem Handeln und Erziehung ist Bildung der dritte Schlüsselbegriff, der keine genaue Trennschärfe zulässt, sondern mit den beiden vorangegangenen Begriffen verwoben ist. Schließlich zielt jedes pädagogische Handeln in erzieherischer Absicht auf die von Herbart (1776–1841) benannte Bildsamkeit von Menschen und meint die Fähigkeit zu lernen und sich zu bilden. Als geisteswissenschaftliches Deutungsmuster ebenso wie als erziehungswissenschaftlicher Grundbegriff wird Bildung vor allem im Kontext von Bildungstheorien dimensioniert und weiterentwickelt.