Buch lesen: «Schiffbruch», Seite 4

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Lena schaute vom Bildschirm auf. Sie hatte diesen erschütternden Inhalt in verschiedenen Zeitungen gelesen. Auch immer wieder die Aufforderung der Polizei, die Person, die am fraglichen Abend kurz vor Mitternacht am Steg in der «Schwanenbucht» von einem privaten Motorboot abgesetzt worden sei, solle sich melden.

Lena wollte ihren Laptop zuklappen, überlegte es sich anders und suchte nach dem Interview mit ihrem Vater während der Wahlparty. Sie schaute sich den einminütigen Clip mehrmals an. Dann packte sie ihre Sachen und verliess das Haus.

Das ganze Gebiet um die «Schwanenbucht» war abgesperrt, auch das Strandbad war geschlossen. Zugänglich war lediglich der Bootssteg, näher kam man an die Unfallstelle nicht heran. Lena bemerkte zuerst zwei Taucher, die im Wasser herumsuchten, dann ein Polizeiboot, das die kleine Bucht vom See her absicherte. Trotz dieser düsteren Hinweise wirkte die Bucht friedlich – fast idyllisch. Lena setzte sich auf den Steg, neben sich die Tasche mit ihrer Ausrüstung.

Möwen, die gierig glaubten, sie hätte wohl Futter dabei, flatterten und kreischten über ihr. Um die lauten Vogelgeräusche auszublenden, setzte sich Lena nach einer Weile die Kopfhörer auf. Diese Art der Abkapselung nahm der Situation vor ihren Augen das Zeitliche, sie wurde zu einem Bild, in das sie lange und bewegungslos hineinschaute.

Hier war es passiert, überlegte Lena. Hier war vor wenigen Tagen etwas geschehen, was das Leben von mindestens drei Menschen für immer veränderte. Ein gesunder junger Mann wurde innert Sekunden schwer verletzt, vielleicht für sein ganzes Leben zum Invaliden gemacht. Am Ufer eine ebenso junge Frau, die von nun an jeder Idylle misstraute, die für immer traumatisiert war. Sicher hatten die zwei gemeinsame Pläne gehabt. Eine Wohnung, berufliche Perspektiven, Gedanken an eine Familie.

Plötzlich das losbrausende Schiff. War es das ihres Vaters? Die «Aurora» – einladend, elegant, ihr Familienschiff? Ja, hätte es sein können. Es hätte innert Sekunden zum Rowdy werden können, der für einen Wimpernschlag in seinem Bootsleben nichts als Unheil anrichtet. Gesteuert von einem Mann, der ihr Vater sein könnte. Ihr Vater, dessen Überzeugung es war, korrekt zu sein, der glaubte, das Leben sei planbar, wenn man es nur richtig anpackte. Und jetzt? War er der feige Täter?

Sie dachte an das Interview, das sie soeben am Computer mehrmals angeschaut hatte: « … die gleiche Verantwortung. Und wer alkoholisiert ein Auto oder ein Schiff fährt, wird dieser Verantwortung nicht gerecht.» Was sollte dann dieses eigenartige Manöver im Schilf, der kaum erklärbare Crash im Bootshaus?

Lena legte den Kopfhörer zur Seite, zog das T-Shirt über den Kopf, die Shorts aus. Sie liess sich in einer sanften, ruhigen Bewegung vom Steg gleiten, bis Körper und Kopf vollkommen im Wasser verschwanden. Sie tauchte unter, so lange, wie sie es aushielt – holte Luft, um wieder unterzutauchen, und überliess sich so dem schmeichelnden Wasser und seiner Stille.


Umgeben zu sein von seinen Leuten gab Patrick insbesondere in diesen Tagen ein angenehmes Gefühl. Er schätzte seine Mitarbeiter, was die korrekte Bezeichnung war, weil heute lediglich Männer in der Arbeitsgruppe «Na3b» zusammensassen. Er hatte zu allen ein professionelles Verhältnis. Kollegial hätte er es nicht genannt. Ihm war eine respektvolle Abgrenzung wichtig und er war überzeugt, dass dies allen Mitarbeitenden – also auch den zwei Frauen im Team – angenehm war. Die fehlten heute – Priska Rüttimann vom Gewässerschutz und Danica Milic, die Archäologin.

Die militante Milic, so nannte er sie gegenüber Susanna Renner, versuchte mit allen Mitteln, das Projekt «Na3b», was die interne Bezeichnung für den geplanten Autobahnzubringer war, zu vereiteln. Und dies wegen ein paar Holzpflöcken, die scheinbar auf eine ehemalige Pfahlbauersiedlung hinwiesen. Diese Archäologen hatten ihn im Verlauf seiner Tätigkeit als Regierungsrat, und somit als Direktor für Hoch- und Tiefbau, schon einige Male unendlich viel Geduld und noch mehr Geld gekostet.

Sein Handy kündigte unangenehm laut eine SMS an. Patrick entschuldigte sich bei der Runde – er hasste Handy-Unterbrüche während Sitzungen. Es war Susanna Renner, die er damit beauftragt hatte, den Spitalbesuch von offizieller Seite her zu organisieren:

«Kennst du den Patienten persönlich? Habe keinen Namen.»

«Stimmt», ärgerte sich Patrick. Wieso hatte er sich das nicht überlegt? In den Medien wurde der Verunfallte stets mit «M. H.» bezeichnet. Aber so konnte er das Susanna nicht mitteilen.

«Geht um offiziellen Besuch bei Verletztem vom Motorbootunfall», tippte er. «Nein, das war nicht gut.» Er löschte «Motorbootunfall» und schrieb stattdessen: «von der Schwanenbucht.» Die Message war weg und er bemerkte erst jetzt, dass die Gruppe um den Tisch offenbar seit Längerem auf eine Antwort von ihm wartete.

«Patrick?», fragte Mario Granziol, der kantonale Tiefbau-Ingenieur, «nochmals, ist dir eine Expertise eines ausserkantonalen Ingenieurbüros bekannt?»

«Absolut – doch, doch, Mario, hatten wir ja so besprochen …», reagierte Patrick zusammenhangslos.

Seine Gedanken waren sofort wieder beim Unfall: Mario? Genau, so hiess doch der Verletzte – irgendjemand hatte diesen Namen fallen lassen. Mario – nein, Marius.

Sollte er das so Susanna mitteilen? Er kam nicht weit mit seiner Überlegung, denn Susanna hatte bereits wieder geschrieben: «Weiss das Departement Höchli darüber Bescheid?» Jetzt verlor Patrick komplett die Fassung.

«Tut mir leid – ich muss da ganz schnell … fünf Minuten.» Patrick stand auf, liess alle Unterlagen liegen und verliess hastig das Sitzungszimmer.

«Höchli – was hat die mit der Sache zu tun? Hatten die doch was gequatscht an der Party – Lena und sie?» Während ihm dieser Gedanke durch den Kopf schoss, tippte er: «Warum Höchli?!!» Blitzschnell kam die Antwort: «Wegen Justiz- und Polizeidep. Hat sie dich delegiert?» Natürlich hatte sie recht, die Renner, sie hatte eh immer recht. Das Ganze war eine verdammt dumme, geradezu idiotisch blöde Idee von ihm. Warum sollte er diesen Verletzten besuchen – das weckte ja die kühnsten Vermutungen. «Delegiert??» Das fand er zudem eine Frechheit von der Renner.

Patrick bekam nie einen roten Kopf. Nicht beim Sport und nicht beim Schwindeln. Er hatte schon in der Schule, wenn wegen einer Bagatelle alle anderen mit roten Ohren und Wangen vor dem Lehrer standen, immer entspannt, geradezu bleich ausgesehen. Jetzt allerdings hatte er einen roten Kopf und zwar so, dass Therese Bisang, die Assistentin von Schlupp, dem Personalchef, ihn auf dem Weg zur Toilette besorgt fragte, ob ihm nicht gut sei. Patrick hatte keine Lust, etwas zu sagen, tat so, als wäre er am Telefon und verschwand im WC-Raum. Er schloss sich ein und setzte sich auf den Ring.

Verdammt gut hatte sie das wieder gemacht, die Renner. Sie überlegte sich mehr als die meisten im ganzen Departement – all diese Akademiker, Masterabgänger, MBAler usw. Kein Wunder, war sie unbeliebt, denn sie tat als Einzige genau das, was er bei anderen bemängelte: Sie dachte die Dinge zu Ende, die Renner. Was er Esel genau in diesem Fall, bei dem es um ihn, um seine Position, um seinen Ruf ging, nicht getan hatte. Diese Schlinge hatte er sich selber um den Hals gelegt und er musste sie selber wieder loswerden.

Er musste mit Renner reden – ihm würde etwas einfallen, was mehr als nur einigermassen glaubhaft seine Idee des Spitalbesuchs erklären würde. Zudem, ausser der Renner hatte niemand von seinem dummen Ansinnen erfahren. Patrick fühlte sich besser, stand auf, spülte. Man wusste ja nicht, ob jemand anderer ebenfalls auf der Toilette war. Aus dem gleichen Grund wusch er sich die Hände.

Dann marschierte er mit sicherem Schritt zurück ins Sitzungszimmer.

6
Dienstag

Bis vor einigen Jahren spielte Aline Klavier und das ziemlich gut. Das Bechstein-Klavier war eines der wenigen Möbel, welches schon vor dem Umbau des Hauses hier gestanden hatte. Sie übte oft, auch als das bungalowartige Haus, ursprünglich das Sommerhaus ihrer Eltern, noch leer stand. Sie erinnerte sich insbesondere an das eine Mal, als sie den Valse Opus 69 von Chopin spielte und plötzlich Ernst erblickte, der ihr zuhörte. Genau da hatte er gesessen, auf dem Kaminsims, mit einem Plan in der Hand.

Sie hatte ihn zu dieser Zeit als guten Freund von Patrick und als jetzigen Architekten für den Umbau des Hauses kennengelernt. Vor bald sechsundzwanzig Jahren.

Zwölf Jahre später geschah dieser furchtbare Unfall, bei dem sie beinahe zwei Finger verloren hätte und die Musik aus dem «Haus am See» verschwand. Sie war eine Sekunde abgelenkt gewesen, weil Tito, ihr damaliger Hund, sich anstellte, voller Übermut ins Kabel des Häckslers zu beissen. Bevor sie etwas spürte, spritzte das Blut. Dann, die Zeit schien für einen Moment einzufrieren, schlug sie ein grausamer Schmerz um.

Erst im Krankenwagen kam sie wieder zu Bewusstsein. Sie erinnerte sich an die kroatische Sanitäterin, die ihre gesunde Hand hielt – in der anderen in einem Plastiksack ihre zwei abgehackten Finger – und an das Schluchzen von Lena, die vorne im Auto neben dem Fahrer sass, der sie zu trösten versuchte.

Seit diesem Tag gab es keine Musik mehr im Haus. Patrick, der an sich wenig Beziehung zu Musik und annähernd keine zur klassischen Musik hatte, hörte als Einziges jeweils das Wiener Neujahrskonzert am Fernseher. Ohne hätte das neue Jahr für ihn noch nicht angefangen, scherzte er. Das Bechstein-Klavier rührte sie nie mehr an. Sie war froh, gelang die Operation überhaupt so gut, dass sie sämtliche Finger nicht nur behielt, sondern mit der Zeit wieder bewegen konnte.

«Ein Haus ohne Musik ist ein Haus ohne Seele», hatte ihr Vater jeweils gesagt. Und das traf ziemlich genau ihr Empfinden. Sie konnte sich nicht erklären, warum ihr dies nicht längst bewusst geworden war, warum sie das nicht geändert hatte. Sie erklärte es sich dadurch, dass vieles, was ihr wichtig war, in ihrem Leben keinen Platz haben durfte. Warum eigentlich nicht? Patrick schränkte sie nicht ein, im Gegenteil, er ermutigte sie, mehr ihr «Ding» zu machen. «Theater, Konzerte – wieso gehst du da nicht öfter hin?» Am Anfang ihrer Beziehung war er manchmal ins Theater mitgekommen, hatte sich aber meist über dieses «Regietheater» aufgeregt. Er wolle Schiller sehen, wenn Schiller angesagt sei und nicht die Verhunzung von Regisseur X, schimpfte er jeweils.

Aline wollte Lena ein anderes Zuhause bieten, als sie es selber als Kind erlebt hatte. Die Kulturbeflissenheit ihrer Eltern hatte sie als rücksichtslos empfunden. Fast jeden Abend, so kam es ihr vor, waren sie im Theater, im Konzert, an einem Vortrag, einer Vernissage, waren eingeladen, oder luden ein. Anfänglich behütet von einem fernsehschauenden Babysitter, bald schon ganz alleine, verbrachte Aline ihre Abende in ihrem Zimmer.

Hier verschwand sie in ihrer Fantasiewelt, dem grossen Kleiderschrank, wo in den verschiedenen Fächern und Schubladen ihre Puppen und Plüschtiere wohnten. Jedes Fach stand für ein anderes Land, jede Schublade für eine andere Stadt. Und die unzähligen Tiere und Puppen hatten alle ihre Namen, ihre Eigenarten und trieben als kleine Kobolde ihr Unwesen. Abend für Abend hatte Aline für Ordnung in dieser bunten Welt zu sorgen, bis es Zeit war und die Kastentüren zufielen. Vorher erkor sie jeweils eine Prinzessin oder einen Prinzen – das konnte auch ein Krokodil sein –, die dann für eine Nacht bei ihr im Bett schlafen durften.

Und nun – dachte Aline – tauchte Lena alleine in ihre Unterwasserwelt ab, oder hörte für sich Musik mit Kopfhörern. Dies trotz vieler gemeinsamer Abende mit Geschichten erzählen, zeichnen, lesen, basteln. Dass sie nie zusammen Musik hörten, empfand Aline als herben Verlust. Die Musik musste wieder einziehen, sagte sie sich.

In einem Möbel im Wohnzimmer verstaubten CDs und eine alte B&O-Anlage. Auch Schallplatten, einige noch von ihren Eltern, stapelten sich in Schränken. Die LPs waren seit Jahren nicht angerührt worden. Nach der Arbeit würde Aline bei Intersound vorbeigehen und sich wegen neuer Geräte beraten lassen.


Lena wäre jetzt gerne zu Sandra gefahren. Doch die war mit Beni noch für mehr als eine Woche in Kolumbien. So sehr sie sich diese Tage für sich allein gewünscht hatte, jetzt fehlten ihr gute Freunde. Nicht einfach Freunde, die hätte sie gehabt – sie wollte Vertraute, eben Sandra. «Noch nie hätte ich mir so sehr einen Bruder oder eine Schwester gewünscht», sagte sie sich. Warum wohl? War es, weil sie in ihrem Innersten spürte, dass sie alleine nicht die Kraft, auch nicht die Lebenserfahrung hatte, um dem zu begegnen, was sie glaubte, dass es ihr bevorstünde?

Sie ging zum kurzen Steg neben der leeren Bootshütte, nahm ein langes Kabel aus ihrer Tasche, steckte das Hydrofon an und versenkte es im seichten Wasser unmittelbar neben dem Schilf.

Sie zog sich die Kopfhörer über. Schliesslich beruhigte sich das Wasser und Lena legte sich auf das warme Holz. Um sie herum wurde es still. Es dauerte vielleicht fünf Minuten, bis sich ihr akustisch die Unterwasserwelt öffnete und sie darin verschwinden konnte.

Ihr schien, ganz Verschiedenes beschäftige und verunsichere sie gleichzeitig. Sicher, dieser Bootsunfall war schrecklich, doch warum fühlte sie sich geradezu unmittelbar betroffen? Ausser, dass sie im gleichen Alter war wie das junge Paar, hatte sie keine Beziehung zu den zweien und kannte sie nicht. Und nur weil sie spekulierte, dass ihr Vater möglicherweise der Schuldige am Unglück sein könnte … Es gab dreihundert Motorboote auf dem See, davon waren an die hundert Holzboote, es gab ebenso viele Motorbootfahrer und von denen waren an diesem heissen Sommerabend wohl dreissig unterwegs, davon zur fraglichen Zeit zwei Drittel mit Alkohol. Zudem war alles reine Vermutung. Wie konnte ihre scheinbare Sicherheit überhaupt entstehen, dass es a) ein Mann war und b) ein zumindest angetrunkener?

Entstehen so Fake News? Eigenartig auch, dass selbst ihr Vater sogleich auf die Frage der Reporterin einging. Wieso reagierte er nicht so, wie man ihn kannte – nämlich eloquent und schlagfertig – auf die Frage wegen der Promille-Grenze? Nein, er stieg ohne zu zögern, fast könnte man sagen, ohne zu überlegen, darauf ein, als ob er sicher gewusst hätte, dass die den Unfall verursachende Person ein angetrunkener Mann gewesen sein musste.

Warum? Weil er es eben doch war, der diesen jungen Mann überfahren und sich über das Wasser davongemacht hatte?

Sollte sie ihren Vater ansprechen?

Dafür fehlte gewissermassen die Basis – sie hatten keine gemeinsame Gesprächskultur, redeten kaum je miteinander und wenn, waren es gegenseitige Vorwürfe.

Sie konnte sich diese Entfremdung nicht erklären, weil sie auch nicht durch einen besonderen Anlass oder eine besondere Begebenheit ausgelöst worden war. Sie wuchs in ihr heran, ohne ihr, auch ohne sein Zutun. Zuerst spürte sie es körperlich, sie mochte immer weniger, wenn er sie umarmte, ihre Hand länger hielt. Sie lehnte diese Nähe ab und als er es nicht einsehen wollte, wurde sie grob. Das tat wiederum ihr weh. Denn sie verletzte ihn dadurch und sie wollte ihn nicht verletzen, weil er, objektiv gesehen, ihr nie was angetan hatte, in keiner Art. Sie war es, die ihn ablehnte, abwies. Erst darauf kam seine Reaktion, mit verbalen Sticheleien, die allerdings immer gröber wurden.

Nur, was war dann der Grund, dass sie ihn ablehnte? Warum konnte sie nicht anders, als ihn zurückzuweisen? Sie hatte gelesen, dass Kinder ihre Väter oft ablehnen, gar verachten, weil – meist in sehr früher Kindheit – etwas Einschneidendes geschehen war. Dieses «Etwas» verdrängen Kinder aus Selbstschutz oft so stark, dass es vergessen geht, aber im Unterbewusstsein abgespeichert bleibt. Meist drängt es sich in der Zeit des Erwachsenwerdens wieder an die Oberfläche und kann dann zu einem gestörten Vaterverhältnis führen. War es so etwas? Aber was?

Schlimmste Gedanken kamen in ihr hoch, die sie gleich wieder verscheuchte – niemals. Niemals hätte ihr Vater so was tun können. Nie! Das wusste sie. Dann also was?

War sie es? War sie einfach gestört – gefühlsmässig unfähig?

Sie fand sich selber eigenartig, auch weil sie sich noch nie wirklich in einen Mann verliebt hatte. Es gab ein paar Liebschaften, aber im Vergleich zu Sandra, die sich schon zweimal Hals über Kopf verliebt hatte, war ihr das bis anhin noch nie passiert. Auch Gabriel musste ihre strikte Ablehnung erleben, was ihn während ihrer Sizilienreise verletzt hatte – kein Wunder! Der ganze Knorz lag wohl an ihr – dachte sie traurig.

Nach fünf, vielleicht auch zehn Minuten wischte sie sich ihre Augen trocken und legte den Kopfhörer ab.

Von weit weg hörte sie einen Rasenmäher, von einem benachbarten Grundstück stieg eine Drohne auf.

Sie fühlte sich schwach und hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, der sie beide kannte – ihren Vater und sie. Ihre Mutter schloss sie aus, sie war beiden zu nahe. Mit einem Psychologen? Sandra ging alle zwei Wochen zu einem, aber sie wusste nicht einmal, wie der hiess, zudem hätte er ihren Vater wohl kaum gekannt, oder – noch blöder – nur als Politiker. Vielleicht mit Ernst? Ernst war das, was man einen Freund der Familie nennt. Seit sie sich erinnern konnte, gab es Ernst. Obwohl er selten zu Besuch kam, sein Dasein hatte etwas Selbstverständliches. Patrick sagte, Ernst sei der einzige Mensch in seinem Leben, der ihn nie enttäuscht habe – und das seit mehr als dreissig Jahren! Man liebte und schätzte ihn. Für seine Diskretion, seine in jeder Hinsicht angenehme Art, die Fähigkeit, kontrovers mit Anstand zu diskutieren und für seinen gescheiten Humor.

Obwohl Lena in ihrem Leben wenig mit Ernst geredet, ihm dafür oft zugehört hatte, war er ihr vertrauter, als zum Beispiel ihre Tante Brida, Patricks Schwester.

Lena packte ihre Sachen zusammen. Sie hatte sich entschlossen, mit Ernst zu sprechen.


Patrick fühlte sich schon fast so, als wäre es ein gewöhnlicher Wochentag. Die interne Sitzung ging störungsfrei über die Bühne, man war für die Kantonsratssitzung von übermorgen «munitioniert», wie Granziol es nannte. Schliesslich wusste man, wie heftig das Projekt nicht nur von der Ökopartei, sondern auch von den Linken abgelehnt wurde. Doch am meisten zu seinem wiedererlangten «Normalzustand» beigetragen hatte der kurze Besuch bei Susanna Renner. Um ihr Nachfragen sei er «enorm» – er verwendete diesen Ausdruck selten – dankbar. Dieser Unfall, schwafelte Patrick, beschäftige ihn derart, weil er ja selber oft auf dem See unterwegs sei (er vermied das Wort Motorboot), und ja, weil das alles unweit von seinem Haus …

«Ich weiss», unterbrach Susanna. Sie war keine gute Zuhörerin. Ärgerlich, dachte Patrick für einen Moment. Genau wegen dieser Art war sie so unbeliebt bei den anderen. Das war jetzt aber unwichtig, sagte er sich. Einzig wichtig war, dass sie schnell und ganz klar verstanden hatte, warum er, als Baudirektor, sich für einen Unfall, was ein zivilrechtlicher Fall war, nicht zu engagieren hatte und sie, in ihrer rechthaberischen Art, dies verhindert hatte. Patrick verliess ihr sprödes Büro mit dem Hinweis, dass ihr die etwas längeren Haare, weniger dunkel gefärbt, gut stünden.

Patrick hätte so was unter anderen Umständen nicht gesagt. Die Erleichterung machte ihn geschwätzig. Wie er am Abend früher als üblich nach Hause fuhr, fielen ihm zwei Sachen auf: Erstens, dass er es sich mit entsprechender Planung einrichten konnte, zumindest einmal unter der Woche etwas früher nach Hause zu gehen. Zweitens: dass er keinen heissen Nacken mehr hatte.

Gemeinsam hatten sie abgemacht, dass sie sich heute, und nicht wie Aline vorgeschlagen hatte am Mittwoch, «en famille» zum Nachtessen treffen würden. Patrick freute sich auf den Abend im «Haus am See». Es war mehr als Freude, es war sein Bedürfnis, in den vertrauten Räumen und bei Aline zu sein – vor allem bei ihr. Das war ein Gefühl, das er so jahrelang nicht mehr gehabt hatte und Patrick gestand sich ein, dass es eine Art von Schutzsuche sein musste – «zurück in die Höhle», sagte er halblaut und malte sich in seiner gelösten Stimmung ein Bild aus.

Bis zu diesem «Barrique-Abend» war er der Wolf gewesen, der stolz und mit der Überzeugung, dass ihm nichts zustossen könne, seine Streifzüge machte. Die Höhle, die gab es auf sicher. Er hatte andere Aufgaben, als sich um sie zu kümmern, er hatte Wichtigeres zu tun. Und genau in dem Moment, wo man ihn als «Leitwolf» bestätigt hatte, übersah er in seinem Hochmut einen Hinterhalt. Ein Schrotschuss in die Lenden haute ihn um und weidwund schlich er in die schützende Höhle zurück.

Der viel zu laute Klingelton seines Handys beendigte abrupt seine Ausschweifungen. Obwohl er schon seit zwei Jahren dieses Auto fuhr, hatte er noch nicht herausgefunden, wie man den Ton leiser stellen konnte. So ärgerte er sich bei fast jedem Anruf. Heute nicht, er war in gelöster Stimmung. Ernst war am anderen Ende der Leitung.

Er würde ihn gerne treffen, bald, sagte er.

«Bist Du in Schwierigkeiten?», fragte Patrick ironisch.

«So kann man das nicht sagen – möchte das aber nicht am Telefon besprechen. Hast du Zeit für einen Apéro?»

«Du meinst jetzt?», fragte Patrick.

«Gerne, ja. Für eine halbe Stunde.»

«Also – wie üblich ‹Cava-Bar›?»

«Nein», sagte Ernst entschieden. «Ich möchte, dass du zu mir kommst.»

Patrick war überrascht, aber dennoch einverstanden. Er musste kurz Aline informieren. Ihm war klar, dass er sie einmal mehr enttäuschen würde. Vermutlich hatte sie längst einen Crémant kühl gestellt, etwas Hummus und rohes Gemüse vorbereitet und alles mit Stil angerichtet. Andererseits hatte Ernst sehr bestimmt gewirkt – es war zweifellos etwas Wichtiges. Patrick vermutete, dass Ernst einmal mehr seinen juristischen Rat suchte. Die rechtlichen Stolperfallen bei Bauprojekten wurden mit jedem Jahr zahlreicher, genauso wie die Vorschriften und Regulierungen.


Aline bereitete zu Hause den Apéro vor, wie Patrick angenommen hatte. Sie dachte dabei mit einem Lächeln an das Gespräch mit dem sympathischen Berater bei «Intersound». Der junge Tamile sprach nicht nur den lokalen Dialekt akzentfrei, er schien ihr auch äusserst kompetent. Als sie nach einem CD-Spieler fragte, wollte er wissen, ob sie sehr viele wertvolle Aufnahmen habe, an denen sie hänge. Nun, sie habe viele Schallplatten, teils mit historischen Aufnahmen, aber ihre CD-Bibliothek sei bescheiden. Als sie ihm erklärte, dass sie einfach gerne Musik im Haus hören würde, empfahl er ihr fürs Erste eine Boombox, die sie an den Computer anschliessen könne. Sie wolle keine Disco zu Hause – wehrte sich Aline, «kein Bumbum». Der Tamile hatte ein umwerfendes Lachen, fand sie. Und nachdem er ihr die Sache erklärt und die Namen von drei Streaming-Diensten aufgeschrieben hatte – die seien besonders stark in klassischer Musik, ergänzte er –, verliess sie tatsächlich das Geschäft mit zwei Lautsprechern, deren sinniger Name «Ultimate Ears» überall auf der Packung prangte. Murali, so der Name des Beraters, empfahl ihr, die wertvollen LPs mal zu digitalisieren. «Aber vielleicht finden Sie die eh im Netz.»

Ihr Handy, es war noch immer auf lautlos gestellt, vibrierte und blinkte auf der Ablage in der Küche. Es war Patrick.

Sie war enttäuscht, dass er erst in einer guten Stunde da sein würde. «Lena kommt auch extra früher», sagte sie.

«Logisch – die hat auch Zeit» – sagte er nicht. Er unterdrückte diesen Kommentar und fand ihn selber blöd. Dafür erklärte er den Grund für sein verspätetes Auftauchen.

«Es hat nach ‹dringend› getönt.»

«Aber fürs Nachtessen bist du rechtzeitig!»

«Um halb acht bin ich bei euch – freue mich!», sagte Patrick gut gelaunt.

Wenig später kam Lena in die Küche. Als sie erfuhr, dass ihr Vater erst zum Nachtessen kommen würde, meinte sie:

«Erstaunt es dich? Pünktlichkeit ist ihm überall wichtig – nur nicht zu Hause.»

«Es geht um Ernst – offenbar hat er Probleme …»

«Was?»

Lena war verwirrt. Sie hatte Ernst vor zwei Stunden angerufen und mit ihm ein Gespräch vereinbart. Musste Ernst das erst mit ihrem Vater vorbesprechen? Sie nahm ein Glas aus dem Kasten und füllte es genervt mit Wasser.

«Ja – Ernst wollte ihn dringend sehen … so hat’s getönt. Ist immerhin sein engster Freund. Also.»

Lena sagte hastig, sie müsse sich was überziehen und verschwand in ihrem Zimmer.


Die Überbauung, die Bewohner nannten sie «Siedlung», lag in der kleinen Gemeinde, die eigentlich zur Stadt gehörte, aber eben doch eine eigene Gemeinde war, mit ihrer Verwaltung, eigenem Steuersatz, ihrer Primarschule usw. Dort hatte Ernst – zusammen mit zwei ETH-Kollegen – in den 90er-Jahren ein Wohnquartier geplant.

Es bot vergleichsweise günstige Wohnungen in verschiedenen Grössen, kleine Einfamilienhäuser und Gemeinschaftsräume an. Die Bauten waren energietechnisch zu jener Zeit wegweisend, auch die Architektur erweckte Aufsehen. Ernst hatte ursprünglich mit seiner Frau eines der Häuschen bewohnt, nach der Scheidung wechselte er in eine Dreizimmer-Wohnung mit grosszügiger Terrasse. Dort wohnte er – sparsam, aber geschmackvoll eingerichtet – seit über zwanzig Jahren. Seine Ex-Frau war noch immer im Häuschen – mittlerweile wohnte sie mit ihrer Freundin zusammen.

Ernst pflegte seit ein paar Jahren eine Beziehung mit einer Arbeitskollegin, sie hiess Verena, und Ernst und sie besuchten zusammen Museen, gingen ins Kino oder Theater. Auch kurze Reisen unternahmen sie manchmal gemeinsam. Und doch führte jeder für sich sein eigenes Leben.

Patrick traf bereits im Treppenhaus auf Ernst, der eine Flasche Weisswein in der Hand hielt.

«Ist der kalt genug?», witzelte Patrick.

«Genau richtig – naturgekühlt.»

«Grüner Veltliner, sozusagen …»

Sie setzten sich an den Tisch auf der Terrasse. Gegenüber waren Leute einer anderen Siedlung in ihren kleinen Gärten. Ein Mann mit Gummihandschuhen streute Schneckengift, andere wässerten Tomaten, ein fester Senior mit Strohhut imprägnierte Gartenmöbel und in einem provisorisch eingezäunten Stück Wiese mampften zwei Hasen. Während Ernst die Flasche öffnete – es war ein guter Tropfen aus dem Lavaux –, sagte er:

«Bin froh, hat das gleich geklappt. Danke.»

«Für meinen besten Freund habe ich immer Zeit», meinte Patrick. (Das klang nach Wahlkampf.)

«Probleme bei der Schulhauserweiterung?»

«Nein, Patrick. Es ist nichts Geschäftliches, was ich mit dir besprechen will.»

Ernst schenkte ein.

«Aber es fehlt dir nichts? Du bist gesund, hoffe ich.»

«Nichts dergleichen – alles gut.» Die beiden Freunde sassen in Landi-Stühlen.

«Prost.»

«Prost! Du, in höchstens vierzig Minuten muss ich gehen, Familienabend», erklärte Patrick die Situation.

«Wir brauchen nicht lange. Hör’ mal: Lena hat mich angerufen.»

Patrick stutzte. «Warum denn das?»

«Sie möchte mich treffen, morgen.»

Patrick war plötzlich unwohl. «Hat sie gesagt, warum?»

«Hat sie nicht. Sag’ mal – weiss sie, dass wir an diesem Abend zusammen unterwegs waren?»

«Du meinst, letzte Woche – am See, in der Veduta?»

«Ja – als du mich am Steg absetztest. Weiss sie das?»

Patrick nahm einen Schluck und schenkte sich nach. «Wieso soll sie das wissen – ich rapportiere doch nicht täglich …»

«Es ist wichtig, weil die Polizei nach dem Mann fahndet, der zu der Zeit am Bootssteg von einem Motorboot abgeladen wurde. Verstehst du?»

Jetzt war Patricks zwischenzeitlich gute Stimmung im Eimer und der heisse Nacken zurück.

Ernst sagte ruhig: «Das war ich. Muss ich mich melden?»

Patrick konnte nicht länger sitzen bleiben.

«Warum fragst du mich?»

Ernst schüttelte leicht den Kopf, nahm eine Zigarette aus dem Etui, zündete sie an: «Patrick.»

«Willst du sagen – ich war das?» Patricks Stimme klang heiser.

«Du warst der Fahrer des Motorboots, das mich abgeladen hat. Juristisch gesehen weiss ich nicht mehr als das. Aber dass ich der gesuchte Zeuge bin, könnte ich nicht bestreiten, falls mich jemand fragt.»

Patrick ging auf dem Balkon, der ihm jetzt plötzlich eng und kurz vorkam, auf und ab.

«Nein – aber es hat dich auch niemand gefragt. Oder doch?»

«Bis heute nicht – reg’ dich nicht auf… Aber eigentlich müsste ich mich melden. Das weisst du besser als ich. Wenn ich das aber nicht tue, muss ich unbedingt wissen, dass Lena von unserem Nachtessen nichts weiss.»

«Sicher weiss sie von unserem Essen, auch Aline weiss es. Nur weiss niemand, dass du deine Vespa beim Schiffssteg geparkt hattest und ich dich dort auf- und wieder abgeladen habe.»

Für eine Weile war es ruhig. Im Haus nebenan übte jemand Klavier.

«Hast du eine Ahnung, was sie von mir will?», fragte Ernst schliesslich.

«Nein, habe ich nicht. Deine Vespa ist nicht besonders auffällig, oder?»

«Ein E-Roller … gibt es mittlerweile mehrere, hellblau. Zudem hatte ich mein Handy mit dabei.»

«Und?», fragte Patrick.

«Im Extremfall können sie nachforschen, welche Handys zur fraglichen Zeit in diese Bucht einstrahlten.»

Gott sei Dank hatte er seines zu Hause liegen lassen …, schoss es Patrick durch den Kopf.

Wieder Schweigen. Patrick leerte sein Glas, stand auf: «Das ist einfach … Es ist einfach totaler Mist …»

«Ist es. Mal hören, was Lena will», sagte Ernst.

Patrick stützte sich auf dem Geländer auf und stierte vor sich hin. Dann schien er sich zu fangen.

«Gib mir bitte gleich Bescheid.»

Ernst nickte.

Beim Weggehen fragte Patrick:

«Was hast du eigentlich gesehen?»

«Du meinst …»

«Ja, vom Unfall.»

«Nichts – ich sass längst auf dem Töff, als es passierte.»

Irgendwann und irgendwie – so kam es Patrick vor – stand er mit seinem Auto vor der eigenen Garageneinfahrt und suchte nach der Fernbedienung. Dazwischen war er ins Auto gestiegen, drei Kilometer gefahren, geblitzt worden und hatte dreissig Mal das Gleiche gedacht.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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