Bangkok Oneway

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Bangkok Oneway
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Bangkok Oneway

© 2016 Begedia Verlag

© 2013 Andreas Tietjen

Titelbild – Sabine Grollmus-Tietjen

Covergestaltung – Harald Giersche/Andreas Tietjen

Korrektur – Monika Paff

Lektorat und ebook-Bearbeitung – Harald Giersche

ISBN – 978-3-95777-066-0 (epub)

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Eins

Die Abendsonne tauchte die weite Flussebene in goldgelbes Flimmerlicht. Die Tageshitze wich der umhüllenden Wärme der dunklen Hälfte des Tagesverlaufs. Geräusche und Gerüche nahmen an Intensität zu, Mensch und Tier bereiteten sich auf die erholsamen Nachtstunden vor, die kraftspendende Rast für alle tagaktiven Lebewesen.

Der kleine Thon, jüngster Sohn des armen Bauernpaares Aran und Sittichai aus dem Dorf Yang Than im Distrikt Krok Phra, machte sich, wie jeden Abend um diese Zeit, auf den Weg zum Flussufer. Er begleitete seinen Freund Tao zu seinem täglichen Bad im seichten Wasser der Sandbank, die sich in der Biegung des Chao Phraya Flusses gebildet hatte. Tao war ein Wasserbüffel. Er war nicht nur Thons Freund, sondern auch treuer Begleiter und eines der wichtigsten Mitglieder der Familie. Der zwölfjährige Junge war mit dem starken Arbeitstier aufgewachsen. So lange, bis er im Alter von fünf Jahren täglich zur Schule ging, hatte er die meiste Zeit des Tages in seiner Nähe verbracht. Die beiden ungleichen Freunde verstanden sich wortlos und einer konnte sich auf den anderen verlassen. Den kleinen Abhang der Uferböschung pflegte Tao im Laufschritt zu nehmen. Erstens freute er sich auf das erfrischende Wasser und zweitens zog ihn sein stattliches Gewicht voran. An diesem Tag jedoch stemmte sich Tao mit aller Kraft gegen den unter seinen Hufen rutschenden Sand. Unten am Ufer angekommen, suchte er nervös den Rückweg, der ihm jedoch von Thon abgeschnitten wurde. Der Junge war überrascht und verwundert über das Verhalten des Büffels.

»Tao pai loei!«, rief er, »lauf schon, Tao!«

Doch das Tier reagierte ängstlich und unruhig, so als ob es eine Gefahr witterte.

»Was ist los, mein Grauer?«, fragte der Junge. »Wovor hast du Angst? Da ist doch gar nichts!«

Suchend ließ er seinen Blick über den Fluss schweifen.

»Siehst du? Gar nichts ist auf dem Wasser, nicht einmal eines dieser lärmenden Schnellboote.«

Tao drehte und wendete sich nervös, schließlich erklomm er die Uferböschung und lief fluchtartig in Richtung Zuhause.

»Dieser Sturkopf, was hat er nur?«, schimpfte Thon und blickte dem Dickhäuter hinterher. Er warf noch einen prüfenden Blick über den Fluss, bevor er sich aufmachte, dem Büffel zu folgen. Er schüttelte den Kopf – doch da, was war das? Zwischen dem Treibholz, das am oberen Ende der Sandbank angeschwemmt worden war, tauchte ein heller Fleck auf und ab. Es war wie ein Zuwinken. Was immer es war, es war klein, aber es stach intensiv aus seiner Umgebung hervor. Der Junge fixierte es mit seinen Blicken und beobachtete es eine Weile. Er verfolgte sein periodisches Auf- und Abtauchen. Neugierig ging er hinunter zur Sandbank. Er durchwatete das seichte Wasser und stampfte durch den feuchten Sand. Je näher er dem unbekannten Etwas kam, desto weniger konnte er etwas mit den Konturen anfangen. War es ein Tongefäß? Eine Schachtel oder Dose? Nein, jetzt sah es aus wie ein Tier. Vielleicht ein Kanister? Thon erschrak. Einen Meter nur von ihm entfernt ragte ein Fuß aus dem lehmigen Wasser des großen Flusses. Durch die Wellen eines vorbeiziehenden Frachtschiffes aufgetrieben, folgte ein zweiter Fuß, dann die schwachen Konturen eines menschlichen Körpers. Auf und ab, da und wieder verborgen im dunklen Nass. Der Junge erschauderte. Er konnte sich kaum lösen von dem furchtbaren Anblick.

»Paw, Mae! – Vater, Mutter!«, schrie er und rannte auf kürzestem Wege nach Hause.

»Was ist los mit dir?«, rief eine Nachbarin. »Hast du den Verstand verloren?«

»Im Fluss, bei der Sandbank, Füße ...«, stammelte Thon, als ihn seine Großmutter auffing.

»Im Fluss liegt ein Toter, ein Farang.«

Es waren alle aus dem Dorf Yang Than zu der Sandbank gekommen. Man hatte um die Füße des Farang eine Schnur geknüpft und diese an einem angetriebenen Baumstamm befestigt. Nun wurde aufgeregt über die fremdartige Leiche diskutiert. Farang nannte man die hellhäutigen Ausländer und ebensolch ein Ausländer soll vor ein paar Tagen mit seinem Motorrad durch das Dorf gefahren sein.

»Er war viel zu schnell unterwegs«, behauptete die alte Manau, »und er hätte fast die Motorrad-Suppenküche von Arnee gerammt.«

»Nein, er war so langsam über die Dorfstraße getuckert, dass der Songthaeo mit den Schulkindern auf der Ladefläche stark abbremsen musste und sie alle durcheinandergepurzelt waren«, widersprach der Apotheker. »Außerdem hatte er irgendetwas im Dorf gesucht.«

Der Fischer Saeng hatte sogar gleich zwei Langnasen durch das Dorf fahren sehen und diese saßen in einem Auto mit Bangkoker Kennzeichen. Sicherlich würde der zweite Farang auch noch von den Fluten des Chao Phraya freigegeben werden, mutmaßte er. Die Gerüchte und Spekulationen entwickelten sich immer wilder und absurder. Die Polizei beendete die Gespräche, indem sie Fragen stellte, wer den Toten gefunden hatte und ob irgendwer aus dem Dorfe den Fremden schon einmal gesehen hätte. Nun konnte sich plötzlich niemand mehr erinnern und alle schwiegen verlegen. Thon schritt gemeinsam mit den Beamten erneut den Weg ab, den er gegangen war, nachdem er diesen unerklärlichen hellen Fleck erstmals gesehen hatte. Das ganze Dorf folgte ihnen. Dann kamen weitere Polizeiautos aus der Stadt Nakhon Sawan herangefahren und immer mehr Polizisten versackten mit ihren Lederstiefeln im feuchten Schlick der Sandbank. An einem Seil wurde die Leiche schließlich aus dem Wasser gezogen und ein entsetztes Raunen ging durch die Menge der Schaulustigen. Dem Toten war der linke Arm unterhalb der Schulter abgetrennt worden, ja man kann sagen, dass er regelrecht abgefetzt wurde. Nun lag ein dicker, aufgequollener weißer Körper bäuchlings im Schlick. Er war bekleidet mit einer schwarzen Badehose oder dergleichen. Keiner der Polizisten wollte der Erste sein, der diesen verwesenden Fleischberg umdrehen und ihm ins Antlitz schauen sollte. Es herrschte eine schaurig gespannte Stille. Die gesamte Dorfbevölkerung starrte den Toten an. Zwei Beamte fassten schließlich allen Mut und drehten die Leiche um. Ein Schrei ging durch die Menge. Der Tote war ein Mann, aber ihm fehlte das Gesicht. An dessen Stelle klaffte eine rote Wunde, aus der vereinzelt Zähne und Knochenteile herausragten.

Zwei

Es gibt Augenblicke, in denen man zu sehr mit Nebensächlichkeiten beschäftigt ist, als dass man ein Gespür für die Dramatik des Moments entwickeln könnte. Später, wenn man die Tragweite einer scheinbar belanglosen Szene unwiderruflich vor Augen hat, wird man sich immer und immer wieder fragen: »Warum habe ich nicht bemerkt, dass etwas Tragisches geschehen wird? Warum habe ich mich meiner Müdigkeit, meiner Erschöpfung, meiner Ungeduld hingegeben und nicht darüber nachgedacht, weshalb ich so ein mulmiges Gefühl hatte?«

Solch ein Schicksalsmoment ereignete sich auch in jenem Hotelzimmer, in dem das Ehepaar Schöller seine erste Nacht in einer fremden Stadt verbrachte.

Dagmar richtete sich im Bett auf und schob ihre Schlafbrille hoch. Sie schaltete die Leselampe an, nahm den Wecker in die Hand und erkannte mit kneisternden Augen, dass es eben erst elf Uhr war. Elf Uhr nachts, Bangkoker Zeit wohlgemerkt. Aus dem angrenzenden Bad drangen leise Geräusche.

»Heinz?«, rief sie. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

Heinz Schöller öffnete die Tür und trat in deren keilförmigen Lichtkegel.

»Ich kann nicht schlafen«, sagte er mit resignierendem Unterton.

»Ist ja auch kein Wunder. Du hast den ganzen elfstündigen Flug über geschlafen«, antwortete seine Frau nasal.

»Deinem Geschnarche verdanken alle anderen Passagiere, dass wenigstens sie jetzt hundemüde sind.«

»Die Tabletten!«, erwiderte Heinz entschuldigend. »Ich glaube, eine Schlaftablette hätte gereicht. Ich geh noch ein wenig an die Bar, vielleicht werde ich dann irgendwann schläfrig. Gibst du mir etwas thailändisches Geld?«

»Wozu denn das? Du kannst doch alles auf die Zimmerrechnung setzen lassen.«

Dagmar war gereizt und übermüdet; sie wollte nun endlich zur Ruhe kommen.

Stunden später wurde Dagmar von dem nervtötenden Läuten eines Telefons aus ihrem tiefen, traumlosen Schlaf gerissen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie begriff, was der Mann am anderen Ende der Leitung mit den Worten »Good morning, Madame Sir, this is your wakeup call!« meinte.

»Yes, äh, sänk you!«, stammelte sie und versuchte, sich in dem fremden Zimmer zu orientieren.

»Heinz?«, rief sie in der Annahme, dass ihr Ehemann sich im Bad befand. Diese Szene war das Letzte, woran sie sich vom Vorabend erinnerte. Sie bekam keine Antwort. Dagmar erhob sich steif und ging zu der schmalen Teakholztür hinüber. Eine dunkle Vorahnung überkam sie, ohne dass sie hätte sagen können, warum. Sie war einfach da und sie fühlte sich mit jedem Schritt, den sie sich dem Badezimmer näherte, bedrohlicher an. Sie hatte ihren Gatten vor eineinhalb Jahren zusammengebrochen und nur noch schwach atmend hinter einer Badezimmertür, auf dem Boden liegend, vorgefunden. Ein Erlebnis, das sie seither nicht aus ihrer Erinnerung löschen konnte. Beherzt, doch mit aller gebotenen Vorsicht drückte sie die Tür auf. Das Bad war dunkel, nur der fahle Lichtschein, der von der Bettlampe herüberstrahlte, erhellte Fußboden und Waschtisch. Dagmar schaltete das Licht an, fand den Raum jedoch leer vor.

 

»Wo steckt der Kerl denn nur wieder?«, murmelte sie leicht verärgert, aber dennoch beunruhigt. War Heinz überhaupt von seinem angekündigten Barbesuch zurückgekehrt? Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er zu ihr ins Bett gestiegen war. Alles lag noch so da, wie sie es vor dem Einschlafen zuletzt gesehen hatte.

Dagmar versuchte, sich rasch anzukleiden. Ihr waren die Anstrengungen der Reisevorbereitungen und des langen Fluges an den müden Augen anzusehen. Ihre Frisur sah fürchterlich aus und sie kämpfte damit, die schulterlangen, naturkrausen Haare mit einer Spange in Façon zu bringen. Sie zog sich einen schlichten Leinenanzug an und eilte nach unten ins Foyer. Hilflos sah sie sich um und suchte nach einem bekannten Gesicht – der Reiseleiterin oder wenigstens einem der Mitreisenden, so sie jemanden von denen wiedererkennen würde. Man hatte sich am Vorabend nach einer fast einstündigen Fahrt vom Flughafen in einem modernen Reisebus und nach einer anschließenden etwa zehnminütigen Einweisung in den Reiseverlauf schon wieder getrennt, um die verschiedenen Zimmer zu beziehen. Dagmar fing ein Paar am Fahrstuhl ab.

»Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht ...«

Der Herr bedauerte höflich, nur Englisch und Spanisch zu sprechen.

Sie suchte weiter, lief schließlich zum Restaurant, in dem das Frühstücksbuffet angerichtet war. Viele Gäste saßen bereits an den Tischen und aßen oder standen in der schier endlosen Schlange an, die sich am Buffet entlangzog. Es gab nur Tischgruppen, an denen vier Personen Platz hatten, keine langen Tafeln für ganze Reisegruppen. Dagmar wandte sich wieder dem Eingang zu und endlich begegnete sie der Reiseleiterin, einer jungen Deutschen, die vielleicht Anfang dreißig war.

»Ich vermisse meinen Mann!«, schmetterte sie ihr entgegen.

»Ja, das ist jetzt aber ungünstig, denn wir wollen um neun Uhr pünktlich mit der Stadtbesichtigung beginnen. Dafür ist es wichtig, dass wir uns rechtzeitig am Bus treffen, so wie ich es gestern Abend allen Teilnehmern gesagt hatte.«

Die Reiseleiterin – ein blaues Plastikschildchen an ihrer Kostümjacke wies sie als Sandra Klöpper aus – schenkte Dagmar einen überheblichen Blick.

»Nein, nein!«, erwiderte Dagmar. »Sie verstehen mich nicht. Er ist verschwunden! Seit gestern Abend. Er wollte nur kurz an die Hotelbar gehen und ist danach nicht mehr zurückgekehrt. Er war die ganze Nacht über fort.«

Fräulein Klöpper wirkte gereizt.

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen da helfen könnte. Das Tagesprogramm heute ist fakultativ. Wenn Sie nicht daran teilnehmen möchten, dann wird Ihnen auch nichts berechnet.«

»Ich möchte ja, das ist es ja gar nicht«, brachte Dagmar fast flehend heraus. »Das ist ja nicht das Problem. Ich fürchte, dass meinem Mann etwas zugestoßen ist!«

»In der Hotelbar?«

»Nein, ich weiß es nicht! Es ist nur ungewöhnlich; mein Mann würde nie ... ich meine, er weiß doch, dass wir heute früh ...«

Dagmar wankte; ein aufmerksamer Kellner fing sie auf und half ihr zu einem Stuhl.

»Warten Sie hier bitte einen Moment«, sagte Fräulein Klöpper und eilte in Richtung Lobby. Der Kellner brachte Dagmar ein Glas Orangensaft und fragte sie besorgt, ob alles okay wäre. Dagmar nickte und gleichzeitig lief ihr eine Träne die Wange herunter. Sie fühlte sich auf einmal so hilflos und alleine gelassen. Wo mochte Heinz nur stecken? Die Zeiten seiner Eskapaden lagen doch schon über zwanzig Jahre zurück. Er war alt geworden, auch wenn er gerne den unbesiegbaren Helden im besten Mannesalter vorgab. Er hatte jede Menge Zipperlein und seine vormals hemmungslosen Alkoholexzesse wurden mittlerweile bereits nach zwei, drei Gläsern Whisky mit einem wehleidigen Verweis auf seine Galle beendet. Hatte er gestern überhaupt seine Medikamente genommen? Na, heute Morgen ja wohl auf jeden Fall nicht.

Sandra Klöpper kam mit einem unverschämten Hüftschwung herangewackelt, ein Klemmbrett unterm Arm.

»Sagen Sie mir bitte Ihren Namen«, kommandierte sie, während Dagmar sich langsam erhob.

»Frau Dagmar Schöller und Herr Heinz Schöller«, las die Reiseleiterin von einer Liste ab. »Dann sind Sie für die große Thailand angemeldet, ja? Und für Bangkok Märkte und Sehenswürdigkeiten hatten Sie sich auch eingetragen. Frau Schöller, was ich im Moment für Sie tun kann, ist, dass ich Sie von unserem Tagesprogramm streiche – alle beide – und dass Sie in der Zwischenzeit versuchen, Ihren Mann zu finden. Ich habe eben in der Bar angerufen, aber dort ist er nicht. Vielleicht gehen Sie selber noch einmal hoch, aber das Personal konnte mir gegenüber keine Angaben über den Verbleib Ihres Gatten machen. Ich würde sagen, wir treffen uns heute Abend um siebzehn Uhr wieder dort drüben an der Lobby und Sie berichten mir, was Sie erreicht haben.«

Dagmar schluckte.

»Aber Sie können mich doch nicht hier alleine lassen!«, empörte sie sich. »Ich spreche doch noch nicht einmal die Sprache und mein Englisch ist auch eher so lala. Irgendwer muss mir doch bei der Suche helfen!«

»Frau Schöller, im Grunde genommen beginnt Ihre Reise erst morgen früh ...«

»Ich möchte dann aber jetzt bitte sofort Ihren Vorgesetzten sprechen«, protestierte Dagmar.

»Ich kann Ihnen gerne die Telefonnummer von Frau Conner geben, aber mich müssen Sie freundlicherweise entschuldigen. Ich muss mich jetzt um meine Tagesgruppe kümmern.«

Die Reiseleiterin drückte Dagmar eine Visitenkarte in die Hand, auf der sie mit ihrem Kugelschreiber eine Telefonnummer unterstrichen hatte. Dann klemmte sie ihr Zettelbrett unter den Arm und ließ die arme Frau einfach stehen.

Dagmar warf einen müden Blick auf das Buffet. Nach etwas zu essen war ihr im Moment weiß Gott nicht zumute. Sie raffte sich auf und ging zur Rezeption. Der freundliche Bedienstete wählte für sie die Nummer auf dem Telefon und überreichte ihr lächelnd den Hörer. Es dauerte nicht lange, bis sich Frau Conner meldete. Dagmar beschrieb ihr die Situation. Nach dem unerfreulichen Gespräch mit der Reiseleiterin war sie nun vorbereitet und so legte sie die nötige Vehemenz in ihre Stimme. Sie ließ auch keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie die gesamte Reisegruppe nicht eher zur großen Thailand-Rundreise aufbrechen lassen würde, bis ihr zumindest ein kompetenter Angestellter des Reiseveranstalters für die Suche nach ihrem Mann zur Seite gestellt werden würde. Frau Conner hörte geduldig zu und versprach ohne Umschweife, sich um die Angelegenheit zu kümmern. Dagmar solle doch bitte in der Zwischenzeit ihr Frühstück einnehmen und anschließend im Foyer auf einen Mitarbeiter des Unternehmens warten.

Es vergingen gut zwei Stunden, in denen Dagmar versuchte, ein halbes Brötchen mit Marmelade herunterzuwürgen, bis endlich eine Dame mit einer dunkelgrauen Aktentasche an der Hand die Hotellobby betrat. Die Frau war groß gewachsen, schlanke bis dürre Figur, sie hatte ihr schwarzes Haar zu einem Knoten gebunden und man erkannte an ihrem graublauen Kostüm, dass sie zu Martan Travel gehörte. Dagmar sprang von ihrem riesigen Ledersessel auf und ging auf die Frau zu. Diese stellte sich als Ute Radok vor; auch sie wirkte leicht unterkühlt und abweisend. Der gleiche Schlag von Mensch wie die unverschämte Reiseleiterin, Fräulein Klöpper, dachte Dagmar enttäuscht. Frau Radok nahm Dagmar mit in einen kleinen Büroraum direkt neben der Rezeption. Im Vorbeigehen orderte sie eine Tasse Kaffee, und noch bevor die beiden Frauen Platz genommen hatten, begann sie mehrere Telefongespräche zu führen, die mit dem eigentlichen Grund ihres Kommens nichts zu tun hatten.

»Frau Schöller«, eröffnete sie anschließend das Gespräch in strengem Ton. »Sie haben ein Problem; schildern Sie mir bitte, was vorgefallen ist.«

»Mein Mann ist verschwunden. Er konnte gestern Abend nicht einschlafen und wollte noch kurz an die Hotelbar gehen. Das ist das Letzte, was ich von ihm gehört habe, und das ist inzwischen mehr als zwölf Stunden her.«

»Ist das Ihre erste Thailandreise?«, fragte Frau Radok.

»Nein, wir waren vor sechs Jahren schon einmal mit Martan Travel hier, aber die Rundreise mussten wir abbrechen, weil ich eine Magen-Darm-Infektion bekommen hatte. Wir sind dann damals direkt nach Koh Samui geflogen, wo es mir schließlich besser ging. Mein Mann ist vor einem Jahr alleine für zwei Wochen nach Jomtien geflogen. Das war so eine Art Rehamaßnahme nach einem Zusammenbruch, den er erlitten hatte.«

Frau Radok sah von ihrem Schreibblock auf, in dem sie eifrig Notizen zu dem Gespräch machte.

»Jomtien, ja?! Und hat er dort jemanden kennengelernt?«

»Wie meinen Sie das – jemanden kennengelernt?«, fragte Dagmar entrüstet.

»Frau Schöller, wir wollen uns doch nichts vormachen. Ihr Mann hat indessen gewisse Thailanderfahrung. Wenn er nach einem Barbesuch nicht sofort zurückkommt, dann kann das alle möglichen Gründe haben. Die Stadt ist groß – wo sollen wir da anfangen zu suchen?«

Dagmar verschlug es die Sprache. Nicht genug, dass sich das Schicksal im Moment gegen sie gewandt zu haben schien, waren auch noch die Menschen, die sie um Hilfe ersuchte, an Unverschämtheit und Frechheit nicht zu überbieten.

»Ich verstehe Ihre Anspielung«, antwortete sie mit bebender Stimme. »Aber glauben Sie mir, wenn Sie einmal in eine ähnliche Situation kommen sollten wie ich jetzt, dann werden Sie sich wünschen, nicht noch obendrein mit Leuten wie Ihnen konfrontiert zu werden.«

»Ich bin seit heute Morgen um Viertel vor fünf Uhr in ganz Bangkok unterwegs, um mich um verlorene Taschen, verlorene Schlüssel, verlorene Pässe und dergleichen zu kümmern. Sie sehen also, dass ich alle Hände voll zu tun habe.«

»Mit anderen Worten«, antwortete Dagmar verbittert, »Sie haben keine Lust mehr, sich auch noch um einen verloren gegangenen Menschen zu kümmern, ja?!«

Frau Radok schwieg einen Moment lang. Sie rückte die unordentlich gepackte Aktenmappe vor sich auf dem Tisch zurecht, bevor sie Dagmar ernst ansah und sich entschuldigte.

»So habe ich das nicht gemeint, verzeihen Sie mir bitte. Ich werde hier von einem Fall zum nächsten geschickt und komme nicht einmal dazu, in Ruhe eine Tasse Kaffee zu trinken. Sie glauben nicht, was da draußen auf den Straßen los ist um diese Zeit.«

Sie nahm einen hastigen Schluck aus ihrer Kaffeetasse und blickte Dagmar erwartungsvoll an.

»Wenn Sie einverstanden sind, beginnen wir unser Gespräch noch einmal ganz von vorne.«

Frau Radok ließ zwei weitere Tassen Kaffee in den Konferenzraum bringen und widmete sich nun mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit Dagmars Problem. Die beiden Frauen sprachen so mehr als eine Stunde miteinander und Frau Radok machte sich eifrig Notizen. Sogar ihr ständig piependes Mobiltelefon schaltete sie für die Dauer der Unterhaltung stumm. Anschließend schlug sie vor, dass sie gemeinsam erste Nachforschungen unternehmen sollten, da die Polizei mit Sicherheit bei der mehr als dürftigen Informationslage keine große Hilfe sein würde.

Als Dagmar in ihrem Zimmer nach einem Foto ihres Mannes suchte, stellte sie fest, dass dessen Pass nicht aufzufinden war. Zunächst schenkte sie diesem Umstand keine weitere Beachtung, doch die Frage, wann und warum Heinz das Dokument mitgenommen hatte, beschäftigte sie hintergründig. Die beiden Damen suchten die Hotelbar auf, um das Personal zu befragen. Hier oben herrschte Einschichtbetrieb und so hatten sie Glück, gleich mehr als die Hälfte der Bediensteten anzutreffen, die am vorherigen Abend dort gearbeitet hatten. Frau Radok unterhielt sich mit dem Chef der Bar auf Thailändisch und Englisch. Zwischendurch gab sie Dagmar kurze Zusammenfassungen davon in deutscher Sprache. Der Barkeeper konnte sich noch sehr gut an Heinz erinnern und auch daran, dass er die Bar zusammen mit einem fremden Mann verlassen hatte. Sogar die genaue Uhrzeit, nämlich ein Uhr zweiundvierzig, konnte sich anhand des elektronischen Kassenbeleges ermitteln lassen. Wohin die beiden jedoch gegangen waren, wusste niemand der Bediensteten zu sagen. Auch eine brauchbare Beschreibung des anderen Gastes war nicht aus ihnen herauszubekommen. Der Mann musste ungefähr die gleiche Statur, ein vergleichbares Aussehen und Alter wie Heinz gehabt haben. Dies alles ergab ein ähnliches Bild, als wenn ein Europäer einen Asiaten in der Art beschreiben würde, dass dieser eine gelbliche Hautfarbe, schwarze Haare und Schlitzaugen hätte. Für jegliche Nachforschungen war das unbrauchbar. Frau Radok fragte den Barmann, ob er irgendeine Idee hätte, wo zwei Männer, die noch relativ wenig Alkohol zu sich genommen hatten, um diese späte Zeit hingegangen sein könnten, woraufhin die Hotelangestellten verlegen zu grinsen anfingen. Auf Frau Radoks weiteres Drängen hin erwähnte der Barchef, dass einige Gäste gelegentlich in ein Barviertel gingen, das sich in einer Seitenstraße der Sukkhumvit Road befände. Dieses Viertel hieß Nana Plaza. Dort würden aber überwiegend Touristen verkehren, die nicht der feineren Gesellschaft angehörten, und das Personal würde keinesfalls die guten thailändischen Umgangsformen beherrschen. Frau Radok verstand diesen Fingerzeig und sie suchte nach Worten, wie sie ihrem Schützling schonend beibringen konnte, welche Vermutung der Thailänder da eben geäußert hatte.

 

Die beiden Frauen bestellten sich je einen alkoholfreien Cocktail und beratschlagten das weitere Vorgehen.

»Die einzigen Hinweise, denen wir im Moment nachgehen können, sind die dürftige Beschreibung eines Unbekannten, mit dem Ihr Mann zusammen gesehen worden ist, und die vage Annahme, dass die beiden in ein Barviertel hier in der Nähe gegangen sein könnten«, sagte Frau Radok. »Das ist nicht viel für den Anfang! Uns bleibt nichts anderes übrig, als mit Ihrem Foto in der Hand im Nana Plaza die Barmädchen zu befragen. Dafür ist es aber jetzt noch zu früh. Ich schlage vor, dass Sie eine Tablette nehmen und sich für fünf Stunden schlafen legen. Danach essen wir eine Kleinigkeit und machen uns anschließend auf den Weg. Was halten Sie davon?«

Dagmar war einverstanden und erleichtert, in dieser Situation nicht selbst die Initiative ergreifen zu müssen. Um Punkt achtzehn Uhr wurde sie von Frau Radok telefonisch geweckt. Sie nahmen gemeinsam ein sehr schmackhaftes Essen im Hotelrestaurant ein. Frau Radok hatte sich legerer, aber dennoch elegant gekleidet. Dagmar fühlte sich hohl und matt, obwohl sie tief und fest geschlafen hatte. Die Vorstellung, dass ihrem Heinz etwas Schreckliches zugestoßen sein könnte, ließ sie nicht los.

»Meinen Sie wirklich, wir haben eine Chance, meinen Mann ohne die Hilfe der Polizei zu finden?«, fragte sie.

»Die Polizei wird auch nichts anderes tun als wir, höchstens, dass sie mit ihrem elefantösen Feingefühl noch die letzten möglichen Spuren zertrampeln würde. Nein, nein, wir müssen erst einmal genügend Hinweise bekommen, dass wir der Polizei eine Richtung vorgeben können. Erst dann macht es Sinn, sie um Hilfe zu bitten.«

Als die beiden Damen das Eingangsportal des Nana Plaza betraten, fühlte sich Dagmar an eine Kirmes erinnert. Aus unzähligen Buden drang unterschiedliche Musik an ihre Ohren. Alles war bunt, schrill und laut. Nur waren die Marktschreier hier ordinär-aufreizende Teenager und junge Frauen in kaum vorhandener, geschmackloser Kleidung. An diesen Buden drängten sich auch keine Kinder und Jugendlichen, die die farbenfrohen Verlockungen der Auslagen anschmachteten, sondern erwachsene Männer in meist fortgeschrittenem Alter. Es war schwer auszumachen, auf welcher Seite der Bartresen es ordinärer zuging. Und hierher sollte Heinz zusammen mit einem fremden Mann auf Vergnügungstour gegangen sein? Unmöglich! Eigentlich wollte sie Frau Radok sofort von ihrem Vorhaben abbringen, aber diese hatte sich bereits auf einen Hocker geschwungen und mit heiterer Miene ein Gespräch in thailändischer Sprache mit einer Bardame begonnen. Sie bedeutete Dagmar, sich ebenfalls auf einen der Schemel zu setzen. Ein höchstens zwanzigjähriges Mädchen trat an Dagmar heran und hielt ihr schüchtern lächelnd eine Getränkekarte entgegen. Nachdem Dagmar einen Blick auf die laminierte und an den Ecken schon stark ausgefranste Karte geworfen und sich unschlüssig die Getränke der anderen Besucher dieses Etablissements betrachtet hatte, bestellte sie ein Singha-Bier. Das Barmädchen deutete eine Verbeugung an und stellte ihr wenig später eine Flasche, die bis zum Hals in einem bunt beklebten Styroporkühler steckte, auf den Tisch. In einen Plastikbecher stopfte sie die dazugehörige Rechnung über hundert Baht. Dagmar nahm einen Schluck und stellte fest, dass das Getränk für diese Tageszeit exakt richtig temperiert war. Gierig nahm sie einen weiteren, und erst jetzt bemerkte sie, wie durstig sie inzwischen durch das ungewohnt heiße Klima geworden war.

Frau Radok hatte das Gespräch mit der Bardame beendet und drehte sich nun zu Dagmar herüber.

»Ich würde Sie bitten, hier einen Moment auf mich zu warten«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Ich habe da gerade einen Hinweis bekommen, dem ich gerne nachgehen möchte. Ich weiß nicht genau, aber es könnte ein paar Minütchen dauern. Ich muss dort drüben in diese Gogo-Bar gehen und versuchen, etwas in Erfahrung zu bringen.«

Schnell sprang Dagmar von ihrem Hocker auf.

»Aber ich kann doch eben mitkommen ...«

»Nein, bitte nicht«, wies sie Frau Radok zurück. »Es wird Ihnen erstens nicht besonders gut dort gefallen, und zweitens möchte ich da nicht mit einer Übermacht auftreten. Mir wäre es sehr lieb, wenn Sie mich das kurz alleine machen lassen würden.«

Also blieb Dagmar an ihrem Platz an der Bar zurück und stierte betrübt vor sich hin. Sie orderte ihr zweites Bier und trank davon einen großen Schluck. Ein weiteres Mädchen, etwas älter als die Kleine, die sie verträumt und unroutiniert bediente, gesellte sich dazu. Sie grüßte mit einem fröhlichen »Hello« und stellte vor Dagmars Nase eine Holzschatulle hochkant auf den Bartresen. Geschickt zog sie den Kasten nach oben hin weg und zum Vorschein kam der Turm eines Jengaspiels. Das Mädchen zog gekonnt eines der Holzklötzchen aus der untersten Reihe hervor und legte es seitlich oben auf den Stapel.

»It´s your turn«, ermunterte sie Dagmar.

Dagmar bemühte sich redlich, eine gute Figur bei diesem Spiel zu machen. Es war Jahre her, dass sie zuletzt mit ihrer Tochter und deren damaligen Freundinnen dieses Geschicklichkeitsspiel gespielt hatte. Als der wackelige Turm schließlich laut krachend unter den Fingern des Barmädchens zusammenfiel, brach ein lauter Jubel und schallendes Gelächter bei den anwesenden Mädchen aus.

»One more, one more!«, drängelte Phu, das Barmädchen, und baute geschwind einen neuen Turm auf. Nun schlossen sich zwei weitere Mädchen an, Nok und Nu, und Dagmar bekam eine frische Flasche Bier auf den Tresen gestellt.

Ute Radok betrat den dunklen Raum der Gogo-Bar. Sechs nur mit knappen weißen Bikinis bekleidete junge Mädchen hielten sich an chromglänzenden Stangen auf einem Catwalk fest und bewegten sich kaum sichtbar zum Takt der Musik. Keine von ihnen lächelte, keine nahm wirklich Notiz von ihr. An Bistrotischen auf Barhockern saßen einige Männer und befummelten ordinär kreischende Frauen. Ute bahnte sich einen Weg zu dem Bartresen in der hinteren rechten Ecke. Sie sprach die nicht mehr ganz taufrische Bardame an, die dort mit dem Wegräumen von Gläsern beschäftigt war, und fragte sie auf Thai nach Nid. Die Frau, die bei näherem Hinsehen puppenhaft gepudert und geschminkt war, sah Ute misstrauisch an. Sie war nicht besonders redselig und antwortete ausweichend, dass Nid heute nicht da wäre. Ute setzte sich auf einen Hocker und bestellte einen thailändischen Rum mit Cola. Dann bemühte sie sich, mit der Barfrau ins Gespräch zu kommen, was bei der herrschenden Lautstärke gar nicht so einfach war. Zunächst erwähnte sie beiläufig, dass in der gestrigen Nacht zwei Männer hier gewesen sein müssen, die anschließend in Begleitung zweier Mädchen, unter ihnen Nid, das Etablissement verlassen hatten. Auch sprach sie darüber, dass einer der Männer, der der Ehemann ihrer Freundin sei, seither vermisst wurde und dass sich die beiden Frauen sehr große Sorgen seinetwegen machen würden. Ohne eine Antwort abzuwarten, wechselte Ute dann aber das Thema und fragte die Bardame nach ihrer Herkunft. Als diese ein Dorf in der Nähe von Tat Phanom als ihre Heimat nannte, fing Ute an, vom Isaan, dem Nordosten Thailands, zu schwärmen. Sie erzählte von einem Wan Loi Krathong, dem Lichterfest, das sie in der Kleinstadt Tat Phanom erlebt hatte. Während Frau Radok lächelnd von dem lichterschimmernden Zierteich schwärmte, in den die festlich gekleideten Menschen ihre Krathongs, die tellergroßen, selbst gebastelten und fantasievoll dekorierten Schiffchen, die mit brennenden Kerzen bestückt waren, ins Wasser gleiten ließen, und während sie die prunkvollen traditionellen Kostüme schilderte, in welchen die Schönsten der umliegenden Dörfer um den Titel der Miss Loi Krathong antraten, sie die fröhlichen Tänze bei Morlam und klassischer Trommelmusik beschrieb, bekam die Bardame glasige Augen. Gedankenverloren polierte sie unnötigerweise ein völlig sauberes Glas und sah Ute Radok unsicher an.