Bangkok Oneway

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Die Fahrt mit dem Pick-up ging zunächst durch den morgendlichen Berufsverkehr und damit nur im Schneckentempo vorwärts. Die Autos standen in Dreierreihen in beiden Richtungen. Nichts rührte sich. Die Fahrer der verschiedenen Wagen waren mit allen möglichen Dingen beschäftigt, nur fahren taten sie nicht. Dann ging es plötzlich weiter – bis zur nächsten Ampel, der nächsten Kreuzung oder dem nächsten Lieferwagen, der in Seelenruhe mitten auf der Straße entladen wurde.

»Wenn wir mal irgendwo an einer Toilette ...«

»Das fällt dir jetzt ein?!«

»Na ja, im Moment ist es noch nicht dringend, aber wenn wir in diesem Tempo weiterfahren ...«

Endlich erreichten sie den Tollway, den Highway in Richtung Norden. Damit ging es zwar kein bisschen schneller vorwärts, die Wahrscheinlichkeit auf eine Toilettenpause rückte jedoch in weite Ferne.

Dagmar beugte sich zwischen den Lehnen der Vordersitze hindurch nach vorne.

»Erzähl mir etwas über Sukhothai«, bat sie Ute, um die endlos dahinschleichende Zeit zu überbrücken.

»Was soll ich sagen? Sukhothai ist eine hässliche Stadt; völlig verdreckt und rückständig. Es gibt kaum Restaurants, in denen das Essen genießbar wäre. Die Menschen sind lethargisch und unfreundlich. Der Historical Park wird total überbewertet. Die Ruinen aus schmutzig-schwarzem Laterit stehen einsam und verlassen in einem riesigen, halbherzig gepflegten Areal herum und warten darauf, von dem tropischen Klima endgültig aufgefressen zu werden. Ich bin jedes Mal froh, wenn ich meine Touristen da durchgeschleust habe und endlich weiter nach Norden fahren kann.«

»Im Reiseführer wird das aber ganz anders beschrieben«, wunderte sich Dagmar.

»Es kommt darauf an, welchen Reiseführer du hast und wie du ihn liest.«

Ute blickte nach vorne, wo sich der Verkehr langsam seinen Weg bahnte. Hier in den Außenbezirken löste sich der Stau allmählich auf und ihr Fahrzeug nahm an Geschwindigkeit zu.

»Die Landschaft um Sukhothai herum ist wirklich schön. Es gibt viele nette Dörfer und Kleinstädte dort, aber Sukhothai selbst ist ein Drecksnest. Durch die versifften Straßen schlürfen Backpacker in unmoderner, verschlissener Kleidung und Frisuren aus der Bravo von 1974. Sie zotteln entlang der gleichen Tempelfragmente und latschen über die gleichen Andenkenmärkte wie die von ihnen verachteten Neckermanntouristen. Einzig die Restaurants teilen sie sich nicht mit denen. Während die Reisebusse längst weiter in Richtung Lampang oder Ayuthaya abgedonnert sind, treffen sich die Backpacker in American Cafes oder Toni´s Place bei Bier, Sandwiches und Pizza und tauschen Abenteuergeschichten aus; je lauter, desto wahrheitsgetreuer. Mir gehen ja schon meine Kaffeefahrten auf die Nerven, aber von diesen Rucksackgeizhälsen angepöbelt zu werden, ist der Gipfel an Demütigung, den sich ein Resident von seinen eigenen Landsleuten gefallen lassen muss.«

Dagmars Blase machte sich wieder stärker bemerkbar und der Fahrer erhörte ihr Hilfeersuchen und hielt auf freier Strecke am Straßenrand an.

»Gibt’s hier Schlangen?«, fragte Dagmar noch ängstlich, bevor sie sich hinter einen Strauch hockte und dort Erleichterung fand. Kaum war sie jedoch eingestiegen und der Pick-up wieder bei normaler Geschwindigkeit angelangt, bog Khun Pravat in den betonierten Hof einer Raststätte ein, um seine obligatorische Mittagspause zu machen.

»Das gibt es doch nicht!«, protestierte Dagmar. »Hätte er das nicht sagen können? Ich wäre da draußen in der Wildnis fast aufgefressen worden und fünf Minuten später halten wir vor einem modernen Restaurant mit gefliestem Badezimmer.«

»Tja, das mit der Transferleistung ist so eine Sache bei unseren lieben Thailändern!«, kommentierte Ute mit einem Seitenblick auf Khun Pravat.

Am späten Nachmittag erreichten sie Nakhon Kalok, ein bezauberndes Städtchen mit vielen kleinen Geschäften, einem schönen Markt und einem winzigen Bahnhof, an dem zweimal am Tag ein Zug hielt. Nur wenige Augenblicke später stoppte Pravat den Wagen am Rande der staubigen Landstraße. Aus einem einfachen Holzhaus steckten zunächst zwei, dann weitere vier und schließlich noch einmal zwei Kinder neugierig ihre Stupsnasen heraus.

»Oh Gott! Acht Bälger!«

Dagmar sah Ute entsetzt an. Pravat ging ohne zu klopfen hinein und rief etwas auf Thailändisch. Nach einer Weile kam er zurück und führte eine verstört dreinblickende Frau heraus, die sich ihre Hände an einer schmutzigen Schürze abwischte. Die Frau sagte nichts. Sie lächelte nicht, schaute die beiden Langnasen nur verschüchtert an. Der Fahrer redete unaufhörlich auf die arme Frau ein. Er wies auf das Motorrad, doch die Mutter ließ ihren Blick nicht von den Fremden. Weitere Frauen kamen aus der Hütte und drückten sich schüchtern an die Hauswand. Im Nu waren noch mehr Kinder und Erwachsene dazugestoßen und umringten die Fremden.

»Ist das alles Familie der Witwe?«, fragte Dagmar.

Ute gab die Frage thailändisch übersetzt an Khun Pravat weiter, der sich wiederum bei der Frau erkundigte. Es stellte sich heraus, dass die Witwe des Motorradfahrers selbst drei Kinder hatte, die anderen waren einfach Freunde und Nachbarn.

»Thailänder fürchten nichts mehr als Einsamkeit«, erklärte Ute.

Nun wurden Kokosnüsse gebracht, mit einer imposanten Machete aufgeschlagen und den beiden Frauen gereicht. Die Flüssigkeit aus dem Inneren der Nüsse war kühl und herrlich erfrischend. Die Witwe stand weiterhin wortlos vor ihnen und guckte angespannt zu, wie sich die beiden Frauen mit Kokosmilch bekleckerten. Dagmar und Ute hatten das große Bedürfnis, so schnell wie möglich weiterzufahren. Nun wurde das lädierte Moped abgeladen und von Jugendlichen begutachtet. Erst als die drei wieder im Pick-up saßen, wurde ein Päckchen mit Reiskuchen durch die offene Seitenscheibe gereicht und die Witwe ließ Pravat übersetzen, dass sie sich bedankte und Glück und Buddhas Segen für die beiden Frauen wünschte.

Dagmar hatte sich nicht vorstellen können, dass ihre gut gemeinte Aktion in einer dermaßen befangenen und verklemmten Situation enden würde. Während sie schweigend durch das Wagenfenster auf die in der Abenddämmerung schimmernden Reisfelder blickte, kreisten ihre Gedanken um die thailändische Familie. Die ganze Szenerie hatte einen so trostlosen Eindruck auf sie gemacht, gleichwohl wirkten die Menschen genügsam und zufrieden in ihrem bescheidenen Dasein. Das Unglück über den Tod des Familienvaters und Ehemanns schien als schicksalsgegeben akzeptiert worden zu sein. Die Leute waren offensichtlich völlig mittellos, hatten jedoch sich selbst, viele Freunde und Nachbarn. Der Verlust eines Menschen wurde schnell durch eine Vielzahl anderer Menschen ausgeglichen. Bei mir sieht das ganz anders aus, dachte Dagmar. Was, wenn Heinz nicht mehr zurückkommen würde? Dagmar hatte niemanden, der diese Lücke ausfüllen könnte. Sie hatte eine Tochter, die mit Mann und Kindern weit weg von ihrem Zuhause lebte und mit sich selbst genug zu tun hatte, statt sich auch noch um sie zu kümmern. Zu den Nachbarn hatte sie eher oberflächliche Beziehungen und wirkliche Freunde besaß sie gar nicht. Der Bekanntenkreis bestand ausschließlich aus Heinz’ Seilschaften, ohne ihn würde dieser sich bald in Wohlgefallen auflösen. Je mehr Dagmar grübelte, desto klarer wurde ihr, dass sie wirklich allein stand auf der Welt.

Ute hatte ein schönes Mittelklassehotel ausgewählt und dort zwei Einzelzimmer gebucht. Khun Pravat hatte den Damen noch das Gepäck bis vor die Rezeption getragen und dann den Heimweg angetreten. Nach einem erfrischenden Duschbad und dem Wechseln der Kleidung trafen sich die beiden Freundinnen in der Hotellobby. Ute organisierte ein Tuk-Tuk, ein dreirädriges Mini-Taxi auf Basis eines normalen chinesischen Motorrades und gleich darauf knatterten sie durch die laue Nacht in Richtung Innenstadt. Das Restaurant, das Ute ausgewählt hatte und das angeblich das einzige in der ganzen Stadt war, wo man halbwegs genießbares Essen bekam, war zu einer unbewohnten Ruine mutiert. Ratlos schlenderten sie die Straße entlang und landeten schließlich auf dem Nachtmarkt, wo sie sich an einen schmutzigen und mit kleinen Wasserpfützen bedeckten Blechtisch setzten. Das Essen war wirklich nicht berauschend, aber die Atmosphäre glich diesen Mangel aus. An vielen Tischen innerhalb und außerhalb der Markthalle saßen sowohl Thailänder als auch ausländische Touristen, die speisten, tranken und sich laut unterhielten.

Die beiden Frauen blieben nach dem Essen noch eine Weile sitzen und löschten ihren Durst mit wässrigem Draftbeer.

»Lass uns zurück ins Hotel fahren und uns dort noch einen Absacker genehmigen«, schlug Ute vor. »Es war ein anstrengender Tag und morgen habe ich mein Vorstellungsgespräch.«

Sie schlenderten den Nachtmarkt entlang in Richtung Hauptstraße, von wo aus sie eine Rikscha zurück zum Hotel nehmen wollten. An unzähligen Ständen wurden Souvenirs für Touristen, aber auch Kleidung und Gebrauchsgegenstände für die Einheimischen angeboten.

»Schau mal dort. Das sind doch wunderschöne Handtaschen.«

Dagmar nahm eine der ledernen Taschen prüfend in die Hand. Sie drehte und wendete sie, begutachtete die Aufteilung der Fächer im Inneren, schnupperte an dem Material. Unschlüssig warf sie einen Blick in Utes Richtung.

»Kannst du kaufen, nur musst du dich bald entscheiden«, kommentierte die. Als Dagmar nochmals daran roch und die Nase leicht rümpfte, ergänzte sie: »Feinstes Dackelleder, mundgegerbt von Reisbauern aus dem Norden!«

Dagmar sah sie entgeistert an.

»Dackelleder?!«

»Ja, in Thailand isst man Hunde, wusstest du das nicht? Pekinese mit sieben Köstlichkeiten, Pudel flambé, Wok Chow-Chow oder Pitbull stinksauer. Nur vier Beispiele.«

 

»Madame, eighthundred Baht only for you!«, schaltete sich die junge Verkäuferin ein.

Dagmar hängte das gute Stück verunsichert zurück an den Verkaufsständer und ging weiter.

»Achthundert Baht!«, murmelte sie. »Die spinnt ja wohl!«

»Das sind höchstens zwanzig Euro.« Ute schüttelte den Kopf. »Außerdem musst du natürlich handeln. Die hättest du bestimmt für vierhundert bekommen; zu Hause zahlst du dafür ein kleines Vermögen. Das war schließlich echtes Leder und die Verarbeitung war auch tadellos.«

»Ja, Hundeleder! Nein danke!«

»Das war doch nur ein Witz! Nun mach doch nicht so ein Gesicht, wir sind hier im Urlaub! Zumindest heute und morgen.«

Dagmar hatte sehr unruhig geschlafen. Seit dem Verschwinden ihres Mannes verursachten ihr unbekannte Hotelzimmer ein Gefühl von Beklemmung. Sie hatte das Licht im Badezimmer brennen und die Tür einen guten Spaltbreit offen stehen gelassen. Später frühstückte sie alleine im Restaurant des Nam Yom Resort und wartete darauf, dass Ute von ihrem Termin zurückkam. Gegen Mittag brachen die beiden Damen zu einer ausgiebigen Besichtigungstour des berühmten Sukhothai Historical Park auf. Ute hatte keine Lust darauf, sich in einen der engen und klapprigen Busse zu zwängen, die zudem um diese Zeit mit Hunderten von in blauweißen Uniformen gekleideten Schülern überquollen. Stattdessen winkte sie ein merkwürdiges dreirädriges Kabinengefährt herbei, das sich ebenfalls Tuk-Tuk nannte und auf dessen Bank hinter dem Fahrersitz sie Platz nahmen. Das Vehikel fuhr knatternd und ruckelnd los; Dagmar fühlte sich darin wie bei einer Karussellfahrt. Unterwegs erläuterte Ute, was sie nun erwarten würde, schilderte in wenigen Sätzen die Geschichte Sukhothais und dessen Bedeutung für Thailand. Das Fahrzeug begann immer stärker zu stottern, bis es schließlich ganz zum Stehen kam.

»No Pompen!«, entschuldigte sich der Fahrer, kletterte von seinem Sitz und ging zur Hinterseite des Gefährts. Aus einer Kiste nahm er ein spitzes Werkzeug, mit dem er sich dann am Vorderrad zuschaffen machte. Es gab ein zischendes Geräusch, was darauf schließen ließ, dass Luft aus dem Reifen entwich.

»Khun tam arai, kah? Was machen Sie da?«, fragte Ute gereizt.

»Mai mi bpanhaa! Kein Problem«, antwortete der verlegen grinsend. Dann erklärte er den Frauen, dass der Benzintank so gut wie leer war und dass dadurch, dass die Luft des Vorderrades zur Hälfte abgelassen war und damit das Tuk-Tuk vorne tiefer lag, die letzten Tropfen des kostbaren Sprits in den Vergaser laufen konnten. Sie kamen tatsächlich noch zwei Kilometer weit bis zu einem Verkaufsstand, an dem Benzin in ausgedienten Getränkeflaschen am Straßenrand verkauft wurde. Tanken auf thailändisch!

Auch wenn Ute eine Führung über das Parkgelände in eher zynischer Tonlage vollzog, war Dagmar doch sehr von den vielen historischen Tempeln und Ruinen angetan. Die gesamte Atmosphäre in flimmernder Mittagshitze empfand sie als exotisch und inspirierend. Ute lästerte über die Touristen, die in der Hitze wie Geisteskranke umherirrten. Teils latschten sie mit Kameralinsen vor den Augen den unaufhörlich quasselnden Reiseleitern hinterher, anderenteils jedoch krochen sie, vor Erschöpfung japsend, von Schatten zu Schatten. Besonders argwöhnisch beäugte Ute die Rucksacktouristen, die sich in Shorts und T-Shirts auf dem Rasen fläzten und ihrerseits über die Gruppentouristen spotteten. Rucksacktouristen waren für Ute ein rotes Tuch.

»Wenn ich eine hinter indischem Ohm-Kostüm versteckte Wabbelfigur ausgerechnet am Bangkoker Changpier fachkundig die Auslagen der Essensstände begutachen und durch Drücken den Reifegrad der Früchte prüfen sehe, dann weiß ich genau, welchen Reiseführer die Dame in ihrem Gepäck hat«, stänkerte sie.

Die beiden Frauen schlenderten weiter in Richtung Ausgang und Dagmar zwängte sich unter dem Rüssel eines lebensgroßen, steinernen Elefanten hindurch. Aus ein paar Metern Entfernung beobachteten dies ein paar Gärtnerinnen, die augenblicklich laut anfingen zu kichern.

»Ben arai kah?«, rief Ute ihnen zu.

Die Frauen erschraken zunächst darüber, dass eine Europäerin Thai sprach, dann aber lieferten sie die Erklärung für den Spaß, den sie hatten. Ute grinste Dagmar an.

»Erwartest du noch Nachwuchs?«, fragte sie amüsiert.

»Nachwuchs? Hier? Ich verstehe nicht!«

»Na, ob du schwanger bist? Wenn eine Frau in Thailand unter dem Rüssel eines Elefanten hindurchgeht, dann erhofft sie sich davon eine leichte, schmerzfreie Geburt.«

Zusammengekauert saßen sie auf schmalen Holzbrettern auf der Ladefläche eines zum Bus umgebauten Lkw und ratterten in Richtung Neustadt. Ute war nicht vollends bei der Sache. Sie war sich nicht sicher, ob sie einen guten Eindruck bei der Firma gemacht hatte oder ob ihre Gesprächspartner nur einfach sehr höflich gewesen waren. Ungewöhnlich fand sie auch, dass sie zu einem weiteren Gespräch am folgenden Tag eingeladen worden war. So ganz hatte sie nicht realisieren können, um welch eine Art von Tätigkeit es überhaupt ging. Der Konzern hatte nichts mit der Reisebranche zu tun. Soweit sie es verstanden hatte, sollte sie ausländischen Mitarbeitern oder Geschäftspartnern Reisen und Übernachtungen innerhalb Thailands organisieren.

»Willst du noch einmal in die Stadt, oder wollen wir uns wieder auf der Hotelterrasse einen Absacker genehmigen?«, fragte Ute.

»Mir wäre das Hotel recht«, antwortete Dagmar erschöpft. Ihr taten die Füße vom Laufen weh und nach mehreren Stunden Aufenthalt in der brütenden Hitze fühlte sie sich verzehrt und ausgelaugt.

Vier

Die beiden Frauen ließen sich erschöpft in die bequemen Sessel der Gartenterrasse sinken, die sich nahtlos an die Hotellobby anschloss. Sie hörten das Geschnatter des Personals und aus dem tropischen Garten drangen exotische Geräusche an ihre Ohren.

»Oh, tun mir die Füße weh!«, jammerte Dagmar und streifte ihre Sandalen ab.

»So etwas mache ich normalerweise jeden Tag, Schätzchen!«, gab Ute an.

Während sie auf ihre Drinks warteten, setzte sich eine süffisant grinsende alte Dame auf einen freien Sessel. Sie nickte ihnen lächelnd zu.

»Are you also German?«, fragte sie, nachdem sie minutenlang herübergeschaut hatte.

»Ja, Sie können ruhig Deutsch mit uns sprechen«, gab Dagmar freundlich zurück. Ute rollte mit den Augen.

»Ich bin das erste Mal in Siam, also hier. Waren Sie auch schon in ... Thailand sagt man ja heute.«

Ute sah die Dame entgeistert an, dann lenkte sie ihren Blick zu Dagmar.

»Ja, wie Sie sehen, sind wir auch in Thailand«, antwortete Dagmar amüsiert.

»Wir haben eine Reiseleitung ... also der junge Mann hat nicht so die große Erfahrung. Wir haben uns – glaube ich – verfahren. Ich verstehe auch gar nicht, was der redet. Ich warte schon mehrere Stunden auf meinen Koffer und ein Zimmer habe ich auch noch nicht bekommen.«

Die Dame nickte eine stumme Bestätigung ihrer Worte in sich hinein. Der Kellner brachte die bestellten Cocktails.

»Ja dann ...«, Ute erhob ihr Glas und prostete Dagmar zu.

»Möchten Sie auch einen Cocktail oder irgendetwas anderes? Ich könnte den Kellner ...«

»Dagmar!« Ute sah ihre Freundin böse an. »Ich denke, wir wollten nur noch einen Absacker nehmen und morgen ganz früh aufstehen.«

»Ja, ich hätte gerne einen ... das, was Sie da trinken. Das sieht gut aus ... so erfrischend.«

»Da ist aber Alkohol drin«, warf Ute barsch ein. »Viel Alkohol!«

»Ja, dann möchte ich das!«

Unter den wütenden Blicken ihrer Gefährtin winkte Dagmar den Kellner herbei.

»Ich heiße Pempam. Hermine Pempam«, stellte sich die alte Dame vor.

Die Hotelangestellten wirkten angespannt. Sie unterhielten sich in gedämpftem Ton und schauten beunruhigt zur gläsernen Eingangstür. Als Nächstes ergoss sich eine Busladung Touristen in die Hotellobby. In professioneller Neugier nahm Ute die Neuankömmlinge aus der kurzen Distanz in Augenschein.

»Das ist eine Martan-Gruppe«, stellte sie fest. »Das ist die gleiche Rundreise, die du vor einer Woche hättest machen sollen. Pardon, die ihr hättet machen sollen.«

Sie blinzelte gegen das grelle Deckenlicht an.

»Die Reiseleiterin muss allerdings neu sein, die kenne ich noch nicht. Vielleicht ist das meine Ablösung. Na, dann mal viel Vergnügen mit deiner Chefin Stefanie Conner, Mädchen!«

Dagmar setzte sich, neugierig geworden, in den anderen Sessel und folgte Utes Blicken.

»Oje, die Kleine ist ja total überfordert!«

Die Urlauber der Reisegruppe schienen einen schlechten Tag gehabt zu haben. Man sah lange Gesichter – sehr lange Gesichter. Es wurde geschimpft und lamentiert. Die junge Reiseleiterin rannte mit einem Klemmbrett in der Hand hin und her. Schlüssel wurden ausgeteilt, wieder zurückgenommen, neu verteilt. Die Lautstärke nahm zu, ein älterer Herr begann zu brüllen, weitere Gäste stimmten in den Chor mit ein, in der Mitte die arme Martan-Mitarbeiterin, die sich erste Tränen von der Wange wischte.

»Ich geh da mal hin«, entschied Ute. »Es gibt sicherlich gleich eine Revolte und schließlich sind wir ja immer noch so etwas wie Kolleginnen!«

Dagmar sprang auf und folgte ihrer Freundin erwartungsvoll.

Es war gerade Mitternacht geworden. Es war die erste Tour, die Isabel Kratochvil im Alleingang bewältigen sollte – so etwas wie eine Jungfernfahrt für die angehende Reiseleiterin. Sie war indessen zwanzig Stunden lang auf den Beinen. Zwanzig Stunden nach einer fast schlaflosen Nacht. Isabel war kurz vor dem Zusammenbruch. Nichts hatte geklappt an diesem für sie so wichtigen ersten Tag. Erst fehlte die Passagierliste, der Bus kam mit fast einstündiger Verspätung am Hotel an und der thailändische Begleiter und Dolmetscher sprach kein Deutsch und ein nahezu unverständliches Englisch. Die Reisegruppe war schon vor dem Besteigen des Busses entnervt, wütend auf die Reiseleitung und untereinander zerstritten. Dann war ein weiblicher Gast verschwunden. Frau Kratochvil rief in der Zentrale um Hilfe und musste sich dort von der Chefin, Frau Conner, erst einmal eine Standpauke anhören, anstatt Ratschläge zu bekommen. Nach mehrstündiger Verspätung fuhr man schließlich ohne die vermisste Frau los. Für die Besichtigungen in Ayutthaya war so keine Zeit mehr verblieben. Es herrschte eine gereizte Stimmung im Bus und die Reiseleiterin, die überhaupt erst vor Kurzem bei Martan Travel angeheuert hatte, war sichtlich mit der Situation überfordert.

»Ein verloren gegangener Gast ist so ziemlich die schlimmste Sache, die einem Reiseleiter passieren kann«, raunte Ute Dagmar zu. »Zusammen mit deinem Mann sind das schon zwei Vermisste innerhalb einer Woche. Da haben Sie ja einen fantastischen Saisonauftakt hingelegt, Frau Stefanie Conner!«

Dann nahm sie Isabel die Passagierliste aus der Hand, schickte sie zur Hotelbar, wo sie sich erst einmal einen doppelten Schnaps geben lassen sollte und begann die Zimmer an die Reisenden zu verteilen. Sie ordnete die Gepäckstücke den passenden Zimmernummern zu und kommandierte die Hotelboys, diese zu den Gästen zu bringen. Innerhalb weniger Minuten herrschte Ordnung und es trat wieder die gewohnte Ruhe im Hotel ein.

Die beiden setzten sich zurück in ihre Sitzgruppe, wo Hermine gerade von einer ganzen Schar vorbeischlendernder niederländischer Touristen wie eine alte Freundin begrüßt wurde.

»Kennen Sie sich?«, fragte Dagmar verwundert.

»Ja, ich bin mit den netten Leuten zusammen hierhergekommen. Die sprechen fast alle Deutsch und sie sind sehr freundlich und hilfsbereit.«

Ute wurde misstrauisch.

»Wieso fahren Sie mit einer niederländischen Reisegesellschaft?«

Nach und nach versammelte sich auch die Reisegruppe von Martan Travel wieder in der Lobby. Man hatte sich flugs umgekleidet und hastig frisch gemacht. Die Urlauber beklagten sich über einen Bärenhunger und hofften nun auf ein spätes Abendbrot, das Restaurant war jedoch längst geschlossen. Um eine erneute Rebellion der Reisenden zu vermeiden und Schlimmeres von der jungen Reisenovizin abzuhalten, versprach Ute, sich um Verpflegung zu kümmern. Sie eilte in die Küche und organisierte ein Buffet aus all den vielen Köstlichkeiten, die vom vergangenen Tag übrig geblieben waren. Mit dem Versprechen, dass Martan Travel für das späte Tafeln großzügig aufkommen würde, mobilisierte sie die übermüdeten Köche. Am Ende zeigten sich alle Beteiligten halbwegs zufrieden. Ein erfülltes Schmatzen hallte über Terrasse und durch die Lobby, überall wurde gemampft und gekleckert.

 

Ute rief Frau Kratochvil herbei, die sich gerne zu ihnen setzte und erleichtert und dankbar für die Hilfe ihrer Exkollegin gleichfalls ihren Hunger stillte. Während die beiden sich angeregt unterhielten und Ute ihr nützliche Ratschläge für den weiteren Umgang mit der außer Kontrolle geratenen Reisegruppe gab, beschäftigte sich Dagmar mit Hermine Pempam. Nun stellte sich allmählich – so ganz nebenbei – heraus, dass Hermine seit Stunden auf ihre eigentliche deutsche Reiseleitung wartete.

Den wirklichen Hergang jedoch erzählte sie wohlweislich nicht: Als ihre Thailand-Rundreise beginnen sollte, musste sie dringend auf die Toilette. Sie verlief sich im Hotel und stieg anschließend in den nächstbesten Bus ein. Die Fahrt begann und der Reiseleiter zählte die Fahrgäste mehrmals durch. Schließlich fragte er, ob einer der Passagiere möglicherweise versehentlich falsch zugestiegen wäre. Mine verstand ihn nicht. Sie ahnte nichts Böses, saß, vor sich hin summend, im Bus und bewunderte die bunte Stadt durch die Fensterscheiben. Obwohl sie den Erklärungen des Reiseleiters in niederländischer Sprache nicht folgen konnte, machte sie gut gelaunt die Besichtigung von Bang Pha In und den Tempeln von Ayutthaya mit. In Sukhothai angekommen, wartete sie sodann im Hotel darauf, dass auch ihr Name aufgerufen würde. Als alle Holländer längst in ihren Zimmern waren, saß Mine ohne Gepäck im Foyer und war zuversichtlich, dass sie schon irgendwann abgeholt werden würde. Die Zeit wurde ihr lang und so bummelte sie ein wenig durch die Hotelanlage, wo sie auf Dagmar und Ute stieß.

»Wie heißt denn die Reisegesellschaft, mit der Sie unterwegs sind?«, fragte Dagmar.

Hermine blickte sie fragend an. Dann hatte sie einen Geistesblitz und förderte einen Umschlag mit Reiseunterlagen aus ihrer Handtasche hervor.

»Mein ganzes Gepäck ist ja auch nicht mitgekommen«, lamentierte sie, während sie Dagmar die Papiere aushändigte. »Man hat mich hier einfach ausgesetzt!«

Dagmar traute ihren Augen kaum, konnte den Zusammenhang allerdings noch nicht in voller Tragweite erkennen.

»Martan Travel steht hier. Sie reisen also mit Martan Travel, dann ist Ihre Gruppe doch gerade angekommen.«

Ute Radok und Isabel Kratochvil sperrten beide ihre Ohren und Münder auf und drehten ihre Köpfe synchron in Richtung der alten Dame.

»Was sagten Sie da eben? Sie reisen mit Martan Travel?« Die Reiseleiterin war fassungslos.

»Ich habe das nicht gesagt«, wehrte Hermine ab. »Das war die junge Frau da.«

»Dann sind Sie es, auf die wir stundenlang in Bangkok gewartet haben! Ihnen verdanken sechsunddreißig Urlauber, dass sie heute den ganzen kostbaren Tag vertrödelt haben. Wir mussten Ihretwegen auf Besichtigungen verzichten und sind allesamt fix und fertig.«

Die Neuigkeit verbreitete sich in Windeseile in der Reisegruppe. Als diese sich nach und nach um die alte Dame herum versammelte, wurde sie von den Reisenden fast gelyncht. Mine wiederum behauptete, dass sie von dem Reiseleiter der anderen Gesellschaft entführt worden war.

»Was ist denn das für ein Blödsinn!«, schimpfte ein Herr empört.

»Wer entführt denn eine klapprige, schwachsinnige Oma?!«

»Na hören Sie mal«, entrüstete sich eine ebenfalls greise Dame. »Wie reden Sie denn mit dieser Frau, Sie Flegel?! Sie fangen schon morgens um elf Uhr im Bus an, Schnaps zu saufen, und erlauben sich dann, eine reifere Dame anzupöbeln, die Sie überhaupt nicht kennen.«

»Und Sie blockieren stundenlang die Bustoilette!«, rief eine junge Blondine mit übergroßer Sonnenbrille dazwischen.

»Ja, wer zu alt zum Reisen ist, der sollte lieber zu Hause im Schrebergarten Urlaub machen!«, ergänzte ihr sonnenbankgebräunter Begleiter, woraufhin ihm eine weißhaarige, kugelrunde Frau ihre Handtasche rechts und links um die Ohren schlug.

Nun eskalierte die Situation vollends. Mine nutzte das Tohuwabohu, um sich in aller Ruhe aus dem Staub zu machen.

»Mit solchen Barbaren reise ich nicht!«, hatte sie Dagmar gesagt und war schnurstracks an die Hotelbar gegangen. Die beiden Freundinnen folgten ihr dorthin und Ute baute sich vor ihr auf.

»Wissen Sie eigentlich, dass Ihr Koffer in Bangkok geblieben ist?«, fragte sie Mine empört. Die zuckte mit den Schultern und bestellte seelenruhig einen Mai Thai.

»Sie werden vermisst und ganz Thailand sucht Sie! Haben Sie sich überhaupt schon einmal Gedanken darüber gemacht, wie Sie jetzt wieder zu Ihrem Gepäck kommen wollen? Von Rechtswegen müssten Sie sofort mit dem Taxi nach Bangkok fahren.«

Mine schlürfte beleidigt ihren Cocktail. Dann hellte sich ihr Gesicht auf.

»Wohin fahrt ihr denn eigentlich, Mädels?«

»Nein!« Ute platzte der Kragen. »Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage!«

»Sie ist doch lustig«, lachte Dagmar.

Beim Frühstück war es dann zu einem Eklat gekommen. Isabel Kratochvil war nach durchheulter Nacht sonnenbebrillt im Restaurant erschienen und hatte der dort längst wartenden Reisegruppe eine auf einen Hotelblock gekritzelte Erklärung vorgelesen. Diese Erklärung besagte ganz unmissverständlich, dass sie aus gesundheitlichen Gründen und mit sofortiger Wirkung nicht weiter für Martan Travel zur Verfügung stand. Ute, die dies alles als Unbeteiligte miterleben durfte, konnte sich nicht erinnern, in ihrer gesamten beruflichen Laufbahn von einem derartigen Ereignis gehört zu haben.

»Das ist ja ein Hammer!«, gluckste sie amüsiert. »Ich würde alles dafür geben, Stefanie Conners Gesicht zu sehen, wenn sie davon erfährt! Das ist ja der Wahnsinn!«

Dagmar blickte sie besorgt an.

»Was wird denn nun mit der Reisegruppe? Wer kümmert sich um die?«

»Das ist mir scheißegal, Schätzchen, das kannst du mir glauben. Ich fange jetzt erst an zu begreifen, wie sehr mir dieser ganze Laden zum Hals raushängt! Sollen die doch mal sehen, wie sie klarkommen. Ich habe damit nichts mehr zu tun! Halt, eins werde ich noch machen: Ich werde denen die Telefonnummer der Conner geben! Ihre private Handynummer gleich mit. Das wird ein Spaß! Zu schade, dass ich nicht dabei sein kann!«

»Guten Morgen, meine Lieben, ich habe prächtig geschlafen!«

Mit ihrem selbstgefälligen Grinsen im Gesicht setzte sich Hermine Pempam ungefragt an den Tisch.

»Kommt hier ein Kellner? Ach übrigens, noch mal lieben Dank für das Nachthemd, meine Liebe!«

Mit diesen Worten tätschelte sie Dagmars Hand.

»Wie? Du hast ihr dein Nachthemd ...?«

Ute sah ihre Freundin entgeistert an.

»Sie hat doch nichts. Ist doch alles in Bangkok geblieben. Da habe ich ihr einen Pyjama und eine Zahnbürste geliehen. Ist doch nichts dabei!«

Ute kam sichtlich frustriert von ihrem Vorstellungsgespräch – Teil zwei – zurück ins Hotel. An diesem Morgen hatte der Personalchef überraschend zugegeben, dass ihm die Reiseleiterin in seinen Augen entschieden zu alt für die angebotene Stelle war.

»Hätte er das nicht gleich sagen können, dieser Mistkerl?!«, schimpfte sie sich ihre Enttäuschung vom Leib. »Wir hätten längst wieder zurück in Bangkok sein und uns die teure Hotelübernachtung ersparen können.«

»Du hast hier eine schöne Vorstellung verpasst!«, lenkte Dagmar vom Thema ab.

Sie erzählte in blumigen Worten, dass es vor nicht einmal einer halben Stunde zu einem Aufstand der am Vorabend eingetroffenen Martan-Reisegruppe gekommen war. Der thailändische Begleiter der desertierten Reiseleiterin Isabel Kratochvil war missverständlicherweise davon ausgegangen, dass sein Auftraggeber pleitegegangen war. So hatte er sich mitsamt Busfahrer und Bus davongemacht. Die Reisegruppe hatte einen Aufstand geprobt. Sie hatte Stefanie Conners Telefon dauerbelegt und außerdem die deutsche Botschaft in Bangkok telefonisch um Hilfe gebeten. Irgendwann waren dann plötzlich zwei deutschsprachige Reiseleiter eines Mitbewerbers von Martan sowie thailändisches Buspersonal aufgetaucht. Die Leute waren kurzfristig von der deutschen Zentrale aus gechartert worden, was eine sehr außergewöhnliche Maßnahme war. Dies zeigte, in welcher Klemme Stefanie Conners Crew steckte. Der Aufbruch der Urlauber in neuer Obhut war erstaunlich schnell über die Bühne gegangen, nur Hermine Pempam hatte sich geweigert, den Bus zu besteigen.

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