Die entzauberte Angst

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Bei den Transmittern geschieht dies, indem sie von der Senderzelle aufgenommen werden, wo sie bis zur nächsten Verwendung verbleiben können. Außerdem gibt es noch spezifische Enzyme, die bestimmte Transmitter abbauen.

Jetzt möchte ich Ihnen kurz erzählen, was man über einige dieser Transmitter weiß.

Noradrenalin

Noradrenalin ist einer der erregenden Transmitter. Je nachdem, welche Rezeptoren im Gehirn es aktiviert, ist es aufmerksamkeitssteigernd, erhöht den Blutdruck (und kurzzeitig auch die Herzfrequenz) und verstärkt diejenigen Tendenzen, die nach außen hin aktivieren und uns Menschen in den Modus: Kampf oder Flucht versetzen (sympathisches Nervensystem oder: Sympathikus). Noradrenalin gehört zu denjenigen aktivierenden Transmittern, die auch bei einer Angstreaktion ausgeschüttet werden.

Dadurch, dass Noradrenalin anregend wirkt und die Aufmerksamkeit steigert, macht man einen Mangel dieses Transmitters als einen der Faktoren für die Entstehung einer Depression verantwortlich.

Eine gewisse Gruppe von Antidepressiva wirkt unter anderem dadurch, dass sie das Angebot von Noradrenalin im Gehirn erhöht.

Als Nebenwirkung solcher Präparate - quasi bei einem Überangebot von Noradrenalin - können innere Unruhe und verstärktes Schwitzen auftreten, ähnlich wie bei einer Angstreaktion.

Einige alternative Ratgeber kritisieren aus diesem Grund, dass bei Angststörungen Antidepressiva verschieben werden. Das Überangebot von Noradrenalin würde die Symptome verschlimmern.

Meiner Ansicht nach können Sie einer solchen Furcht gelassen gegenübertreten. Es gibt eine Reihe Antidepressiva, die keinen Einfluss auf das Angebot von Noradrenalin haben. Neben den anregenden Antidepressiva gibt es auch solche, die beruhigen oder sogar nachweislich angstlösend wirken.

GABA

GABA - oder: γ-Aminobuttersäure - ist ein Transmitter, der bei der Regulierung des Angstgefühles eine sehr wichtige Rolle spielt. Vor allem die Aktivierung des GABAA-Rezeptors hat einen hemmenden Einfluss auf die Prozesse in unserem Körper, was auch das emotionale Gleichgewicht positiv beeinflusst. Der GABAA-Rezeptor wirkt schlaferhaltend, muskelentspannend und vor allem angstlösend.

Serotonin

Serotonin ist ein sehr vielfältiger Transmitter, da es fast in allen Bereichen des Gehirnes in den Synapsen über unterschiedliche Typen von Rezeptoren wirkt. Es beeinflusst die Stimmung, indem es ein Gefühl der inneren Ruhe und Gelassenheit erzeugt, es hemmt den Appetit es hemmt auch das Sexualverhalten.

Andererseits fördert es den Wachzustand und aktiviert Schmerzreize.

Serotonin wird im Gehirn unter anderem auch da benötigt, wo man gedanklich „umschaltet“. Fehlt es, so kann man von bestimmten Gedanken nicht ablassen, wird besorgt und unruhig.

So ist es verständlich, dass auch dieser Transmitter für Angststörungen ebenso bedeutsam sein kann wie für Depressionen oder Zwangserkrankungen.

Serotonin kann - je nach Rezeptor und Region im Gehirn - erregend oder hemmend wirken.

Dopamin

Auch Dopamin wirkt - je nach Rezeptor - erregend oder hemmend. Es gilt als Belohnungs-Transmitter und vermittelt uns das Gefühl, uns zu freuen.

Dopamin sensibilisiert Nervenzellen, Informationen zu empfangen. Es fördert die synaptische Aktivität.

Daraus ergeben sich einige interessante Eigenschaften: es scheint erwiesen, dass Dopamin die Kreativität fördert. Das ist verständlich, denn kreativ sind wir meist, indem wir Dinge neu verknüpfen und daraus etwas Neues schaffen. Ein schönes Beispiel dafür ist der Roman „Der Name der Rose“ von Umberto Eco, in dem der Autor (ein Wissenschaftler) sein mannigfaches Wissen zu einer spannenden Geschichte verknüpft hat. Oder denken wir an das weit verbreitete Atommodell von Niels Bohr. Bohr kam auf die Idee, nachdem er vom Planetensystem geträumt hatte und dies mit seinen Berechnungen verknüpfte.

In der Forschung wird vermutet, dass ein Überschuss an Dopamin Psychosen verursachen kann. So gesehen wäre eine Psychose ein außer Kontrolle geratener kreativer Prozess: es entstehen bizarre Verknüpfungen (die Spitze eines Schuhs zeigt auf mich - Überwachung durch Außerirdische), von denen sich der Patient nicht mehr distanzieren kann.

Schließlich scheint Dopamin Lernprozesse zu fördern, indem es synaptische Aktivität nicht nur fördert, sondern auch zur „Haltbarkeit“ oder Nachhaltigkeit dieser Verbindungen beiträgt. Als Teil unseres Belohnungssystems sorgt es für positive Gefühle, vermittelt uns das Gefühl von Erfolg.

Auch wenn Dopamin für das Verständnis der Angst nicht unbedingt erforderlich scheint, ist seine Rolle bei Lernprozessen wichtig - gerade da, wo es um die Entwicklung von Angststörungen geht.

Was ist mit Adrenalin?

In vielen Büchern über Angst wird die Rolle des Adrenalins hervorgehoben. Seine Rolle als Neurotransmitter ist noch zu wenig erforscht - aber wie es im Körper wirkt, weiß man:

Adrenalin ist unser Stresshormon und wird in Mengen ausgeschüttet, wenn wir uns fürchten. Es steigert Blutdruck und Puls und gibt uns die nötige Energie für Kampf oder Flucht. Daran ist erst einmal nichts falsch!

Was mich stört, sind die Beispiele, bei denen Adrenalin als der einzige biochemische Faktor der Angst beschrieben wird. Die Erklärungen, weshalb jede Angst von allein wieder nachlässt, beschränken sich dann nicht selten darauf, dass die Adrenalinreserven erschöpft sind.

Das finde ich aus zwei Gründen zu einseitig:

wird die Ausschüttung von Adrenalin im Körper durch Impulse aus dem Gehirn angeregt und geschieht nicht „einfach so“ und

bin ich der Ansicht, dass sich die Angst ursächlicher verstehen lässt, wenn man das Zusammenspiel von Erregung und Hemmung im Gehirn berücksichtigt, dass also die Hemmung der Angst im Gehirn wichtiger für die Regulierung ist als das Ende der Vorräte an Adrenalin.

Mein therapeutischer Ansatz orientiert sich an der organischen, gesunden Regulierung von Emotionen und nicht daran, dass der Vorrat einer bestimmten Chemikalie begrenzt ist.

Gedanken verändern unser Gehirn

Es gibt Menschen, die glauben, wir wären nur Sklaven der biochemischen Prozesse in unserem Gehirn, würden sozusagen von den Transmittern „verwaltet“. Je nach verschiedener Konzentration dieser Stoffe wären wir gut oder schlecht gelaunt, hätten Angst oder wären gelassen. Diese Menschen können sich für psychische Probleme nur chemische (also pharmakologische) Lösungen vorstellen.

Früher nannte man solche Menschen einfach Wissenschaftler. Die Wissenschaft war über Jahrhunderte von der Idee besessen, alle Erscheinungen der Welt ausschließlich stofflich erklären zu wollen. Man hatte sich selbst dazu verpflichtet, die Welt ohne Gott oder Gedanken erklären zu wollen und war daran gebunden. Die Wissenschaft trat als Alternative zu Religion und Aberglaube auf - wer geistige Ursachen natürlicher Prozesse annahm, galt als Scharlatan und wurde in der Wissenschaft schnell zum Außenseiter.

Das war früher. Heute gibt es Wissenschaftler, die anders denken und trotzdem nicht aus der Gemeinschaft der Vernünftigen ausgestoßen werden. Der Wechsel vom 19. zum 20. Jahrhundert brachte eine wahre Revolution im wissenschaftlichen Denken mit sich. Die Physiker stellten das wissenschaftliche Prinzip der Objektivität in Frage, als sie äußerten, dass der Betrachter das Objekt der Betrachtung beeinflusst. Das heißt: Sie können einen Gegenstand gar nicht so untersuchen wie er (eigentlich, an sich) ist, wie er unabhängig von Ihnen existiert. In dem Moment wo Sie sich mit etwas beschäftigen, ist es nicht mehr von Ihnen unabhängig.

Wenn Sie das Thema näher interessieren sollte, dann können Sie sich über Heisenbergs Unschärfe und Schrödingers Katze informieren. Hier werden Sie Ideen finden, die nicht nur die bisherige Wissenschaft auf den Kopf stellen, sondern auch Ihren alltäglichen Erfahrungen widersprechen könnten.

Aber um zu verstehen, wie unsere Gedanken unser Gehirn verändern, müssen Sie sich zum Glück nicht mit theoretischer Physik beschäftigen. Diese markiert nur den Beginn einer wissenschaftlichen Revolution, die inzwischen auch Biologie, Medizin und Psychologie erreicht hat. Es ist eine Revolution, die Gedanken, Subjektivität und sogar religiösen Elementen wieder einen Platz in der Wissenschaft verschafft hat. Diese Revolution ist noch lange nicht abgeschlossen. Und deshalb gibt es eben auch Menschen, die glauben, dass man alles - also auch die Angst - ausschließlich stofflich (objektiv) erklären und behandeln könnte. Zum Glück sind diese Menschen nicht mehr die alleinigen Vertreter ihrer Wissenschaft. Sie vertreten lediglich eine bestimmte Weltanschauung.

Und mit Weltanschauungen ist es so eine Sache, denn man sollte sie nicht mit Attributen wie „wissenschaftlich bewiesen“ belegen. Eine Weltanschauung ist eine Vorliebe für ein bestimmtes Muster, die Welt zu verstehen und Lösungen für Probleme zu finden. Das ist nicht nur auf wissenschaftliche Theorien beschränkt. Solche Vorlieben finden sich in allen lebenspraktischen Fragen:

Stellen Sie sich vor, Sie würden unter Existenzängsten leiden, obwohl Ihr materielles Existenzminimum gesichert ist. Der Vertreter der Materialisten, ein Freund der stofflichen Ursachenforschung, empfiehlt Ihnen eine einfache Lösung: verdienen Sie mehr Geld, dann haben Sie die materielle Ursache Ihrer Existenzangst beseitigt. Ein Vertreter der Kraft der Gedanken könnte meinen, dass die Angst nur in Ihrem Kopf ist, weil Ihre materielle Existenz auf einem Minimum ja abgesichert sei. Er könnte Ihnen empfehlen, sich mit Ihren Gedanken und Gefühlen auseinanderzusetzen. Beide Weltanschauungen haben ihre Berechtigung. Ich würde nicht eine für vernünftiger halten als die andere. Es sind Vorlieben bei der Betrachtung der Welt.

 

Wenn Sie sich schon länger mit medizinischen Ratgebern beschäftigen, so ist Ihnen vielleicht der scheinbare Gegensatz zwischen der „Schulmedizin“ und der „alternativen Medizin“ aufgefallen. Auch das ist ein Gegensatz, der zum Glück von der Forschung immer weniger genährt wird. Es handelt sich um verschiedene Weltanschauungen Heilkundiger, welche manchmal mit dem Fanatismus einer religiösen Überzeugung ausgetragen werden.

Wenn Ich Ihnen an dieser Stelle einen Rat geben darf, dann diesen: Lassen Sie sich nicht in den ideologischen Streit zwischen „Schulmedizin“ und „alternativer Medizin“ hineinziehen. Es ist nicht Ihr Kampf. Sie wollen gesund werden.

Wenn wir uns die Entstehung von Angsterkrankungen genauer betrachten, dann werden wir auch häufig ein Zusammenspiel stofflicher und ideeller (psychischer) Faktoren finden.

Die materiellen Faktoren, die biochemischen Vorgänge, die organischen Veränderungen am Gehirn wurden und werden von der medizinischen Forschung mit großer Leidenschaft untersucht. Menschen, die ihr Vertrauen ausschließlich in die materialistische Sicht der Welt setzen, werden nicht eher ruhen, bis sie eine materielle Anomalie als letzte Ursache einer psychischen Störung ausfindig gemacht haben. Denn dann kann man eine Pille erfinden, welche das Elend ein für alle mal beseitigt.

Einige Pillen hat man gegen die Angst schon erfunden. Medikamente wie Valium (Diazepam) hemmen die Produktion von Noradrenalin und aktivieren GABA-Rezeptoren, so dass das Gehirn mit einer Hemmung der Angst reagiert. Wenn Sie eine solche Pille nehmen, werden Sie sicher spüren, dass Ihre Angst nachlässt - die Pille setzt an einer „materiellen Ursache“ an und wirkt schnell. Leider heilen solche Medikamente eine Angststörung nicht und machen bei längerer Einnahme abhängig.

Antidepressiva haben den Vorteil, dass sie - nach heutigem Wissen - keine körperliche Abhängigkeit erzeugen. Viele von Ihnen sollen auf den Serotonin-Spiegel wirken, Gelassenheit unterstützen und helfen, gedanklich umzuschalten, so dass Patienten die Chance haben, aus dem Teufelskreis belastender Gedanken auszubrechen. Einige dieser Medikamente sollen Rezeptoren aktivieren, die beruhigen und der Angst entgegenwirken. Man vermutet sogar, dass Antidepressiva der Gehirn nachhaltig zum Positiven verändern.

Trotzdem zeigt die Forschung, dass auch bei medikamentöser Behandlung viele Patienten mit Angststörungen Rückfälle erleiden. Die eine, alleinige materielle Ursache von Angststörungen hat bisher noch niemand gefunden.

Ich behaupte nicht, dass es eine solche Ursache nicht gibt. Aber solange man diese Ursache nicht gefunden und bewiesen hat, ist man nicht berechtigt, den materialistischen Ansatz für den einzig wissenschaftlichen zu halten. Der materialistische Ansatz ist ebenso eine Glaubensfrage: Man muss daran glauben, dass der Mensch nichts weiter als eine Maschine ist. Und dieser Glaube ist nicht vernünftiger als irgendein anderer Glaube.

Vor der gedanklichen Revolution in der Physik haben beinahe alle Wissenschaftler geglaubt, die Welt sei eine große Maschine, in der viele kleine Maschinen zusammenwirken. Lange Zeit waren es vor allem Künstler (wie zum Beispiel E.T.A. Hoffmann), die zu dieser traurigen maschinellen Welt einen ideellen Gegenentwurf schufen. Vielleicht war es sogar Freud, der die Träume der Künstler und Philosophen wieder zurück in die Wissenschaft holte. Aber der Weg der menschlichen Erkenntnis ist unbequem. Viele Gewohnheiten hindern das Voranschreiten und die wissenschaftliche Entwicklung. Auch Überzeugungen sind „Trampelpfade“ im Gehirn, die erst einmal verlassen werden wollen…

Bis zum heutigen Tag dauert der Kampf gegen das Bild vom Maschinen-Menschen. Der Konsens, dass unser Denken und Fühlen materiell an unser Gehirn gebunden ist, verleitet immer noch dazu, die physikalischen und chemischen Vorgänge im Gehirn ausschließlich dafür verantwortlich zu machen, was wir denken und fühlen.

Dabei wird allzu gern vergessen, dass unsere Aktivitäten und Gedanken sehr wohl einen Einfluss darauf haben, welche Transmitter in welchem Teil des Gehirnes ausgeschüttet werden. Sie werden vielleicht aus Erfahrung zustimmen, dass positivere Gedanken unsere Stimmung eben auch positiver gestalten. Wenn wir uns entscheiden, etwas Schönes für uns zu tun, dann werden auch die Nervenzellen in unserem Gehirn die nötigen Chemikalien zur Verfügung stellen.

Unser Gehirn schafft wichtige Verbindungen zwischen der Außenwelt und unseren Körperfunktionen. Das ist seine Aufgabe. Und es verändert sich dabei. Es ist keine fest verdrahtete Leiterplatte, die man nur verstehen muss, um die menschliche Seele zu erklären. Da sich unser Gehirn durch Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle permanent verändert, sind diese „nicht-stofflichen“ ideellen Wirklichkeiten wichtige Komponenten, die wir brauchen, um unser Gehirn zu verstehen.

Wir müssen damit leben, dass unser Gehirn nicht nur materiell sondern auch ideell erklärt werden muss, wenn wir uns als Menschen vollständig begreifen wollen.

Zum Glück für alle Idealisten hat die materialistische Wissenschaft Werkzeuge erfunden, die es erlauben, das lebendige Gehirn bei der Arbeit zu betrachten. Dadurch ist es inzwischen wissenschaftlich unbestritten, dass unser Gehirn plastisch auf das reagiert, was wir tun und denken.

Wenn Sie Englisch können, und Spaß daran finden, können Sie die Begriffe „Hippocampus“ und „Taxi“ bei Google eingeben. Sie werden die Ergebnisse einer interessanten Untersuchung finden: man hat nachgewiesen, dass bei Londoner Taxi- und Busfahrern derjenige Teil des Hippocampus größer geworden ist, der für den Ortssinn zuständig ist. Mit anderen Worten: das viele Navigieren durch die große Stadt hat zu strukturellen Veränderungen im Gehirn geführt - geistige Aktivitäten haben das Gehirn biologisch verändert.

Inzwischen ist auch erforscht worden, dass psychotherapeutische Verfahren ebenfalls zu strukturellen Veränderungen im Gehirn führen können.

Die Psychotherapie basiert auf der Voraussetzung, dass die Veränderung des Denkens und Fühlens zu nachhaltigen Veränderungen im Gehirn führt und somit eine wirkliche Heilung bewirken kann. Alle modernen Forschungen über Neuroplastizität unterstreichen diese sehr idealistische Annahme.

Dass es wie bei medikamentöser Behandlung auch bei der Psychotherapie von Angststörungen häufig zu Rückfällen kommt, ist kein Widerspruch - dieser Fakt unterstreicht die prinzipielle Gleichwertigkeit materialistischen und idealistischen Denkens.

Ich persönlich glaube, dass die Komplikationen, die bei Angststörungen auftreten können, etwas mit der Vernetzung im Gehirn zu tun haben. Weiter oben habe ich die Angst als eine Art Kraken im Gehirn beschrieben. Nach meiner Erfahrung kann man solchen Komplikationen gut entgegenwirken, wenn man die Psychotherapie flexibel hält und komplexer gestaltet.

Bewusstes und Unbewusstes

in unserem Denken fließen bewusste und unbewusste Prozesse zusammen. Sicher muss ich Ihnen nicht erklären, was bewusste Prozesse sind. Diese sind Ihren ja bewusst. Also jeder bewusste Gedanke, jede bewusste Wahrnehmung, die Sie gerade machen - das alles gehört dazu. Der Rest ist unbewusst.

Ein Beispiel:

Ich höre gerade Musik - der Text, die Instrumente und die Harmonien dringen so in mein Bewusstsein, dass mir völlig klar ist, was ich da höre. Ich kenne die Band. Auch ihr Name ist in meinem Bewusstsein. Und ich reagiere emotional auf diese Musik. Warum gerade diese Musik gerade diese Emotionen in mir auslöst, weiß ich nicht. Am Rande meines Bewusstseins nehme ich die Emotion wahr, kann sie etwas mehr in den Fokus meiner Aufmerksamkeit bringen und benennen (bewusst machen). Wie sie zustande gekommen ist, bleibt im Dunkel des Unbewussten verborgen.

Unser Bewusstsein hat - zumindest in einem bestimmten Moment - ein sehr begrenztes Fassungsvermögen. Zur selben Zeit, so sagt man, kann man nur 7 Objekte im „Arbeitsgedächtnis“ haben. Ich bleibe bei der Musik, die ich gerade höre:

- Text

- Melodie

- Instrumente

- Name der Band

- Die Worte, die ich gerade auf meinem Computer schreibe

- Der Druck, den mein Hintern beim Sitzen empfindet

- Die Temperatur des Raumes, in dem ich sitze

Wenn ich die Emotionen, die ich empfinde, in mein Bewusstsein einlasse, um sie zu beschreiben, dann kann ich mich nicht mehr auf meinen Computer konzentrieren und höre auch der Musik nicht mehr richtig zu. Ich musste Platz im Arbeitsgedächtnis schaffen.

Wenn Sie Lust haben, probieren Sie aus, wie viele Objekte Sie gleichzeitig in Ihre Aufmerksamkeit einschließen können. Vielleicht sind es mehr, vielleicht sind es weniger. Auf jeden Fall werden Sie bemerken, dass recht schnell Schluss ist.

Zu den Dingen in deinem Arbeitsgedächtnis kommen natürlich noch Wahrnehmungen, die, sozusagen im Hintergrund, ebenfalls Teil Ihres Bewusstseins sind. Bei mir ist es zum Beispiel das Licht im Raum, die anwesende Person, die Einrichtung meines Zimmers, der Füllzustand meines Magens und so weiter und so fort. Diese Dinge gehören deshalb zum Bewussten dazu, weil ich mich direkt an sie erinnern kann, wenn ich danach gefragt werde und vielleicht während des Schreibens sogar einen kleinen Gedanken an sie verschwende.

Der amerikanische Forscher Timothy D. Wilson schätzt, dass wir auf diese Weise maximal 40 Informationseinheiten zu einem Zeitpunkt bewusst wahrnehmen können. Denen stellt er bis zu 11 Millionen Einheiten gegenüber, die wir in einem Moment unbewusst wahrnehmen können.

Ich will mich nicht auf einen Streit über Zahlen einlassen - nur scheint sich die Forschung darüber einig zu sein, dass die Zahl der unbewussten Prozesse die der bewussten bei Weitem übersteigt. Dieses eindeutige Verhältnis bringt einige Forscher dazu, den freien Willen in Frage zu stellen. Und einige meiner Kollegen bezweifeln, dass das Bewusstsein eine wichtige Rolle bei der Heilung psychischer Probleme spielen kann, da das Unbewusste den wahren Löwenanteil in der psychischen Arbeit übernimmt.

Aber auch, wenn ich in meiner therapeutischen Arbeit die Hypnose als sehr direkten Zugang zum Unbewussten schätze - ich freue mich, dass es mir möglich ist, bewusst zu denken, wie gering doch der bewusste Anteil unserer inneren Prozesse ist. Und mir ist klar, dass ich ohne Bewusstsein bestimmte Zusammenhänge nicht begreifen könnte, um sie Ihnen in diesem Buch mitzuteilen - und wahrscheinlich würde es Ihnen ohne Bewusstsein schwerfallen, mich zu verstehen…

Der Wissenschaft ist es nicht so recht gelungen herauszufinden, welche Teile des Gehirnes auf einen Reiz bewusst reagieren und welche unbewusst. Es herrscht aber Übereinstimmung der Forschungsergebnisse darüber, dass unbewusste und bewusste Prozesse sehr eng miteinander verbunden sind und unbewusste Prozesse den bewussten „vorausgehen“.

Psychotherapeutische Verfahren, die das Unbewusste in ihre Arbeit einbeziehen, werden durch diese Resultate gestärkt (tiefenpsychologische Verfahren, Hypnose…).

Nur möchte ich das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Auch wenn unbewusste Prozesse den bewussten vorausgehen, spielt das Bewusste beim Menschen eine bedeutende Rolle. Die „Verzahnung“ von Bewussten und Unbewussten im Gehirn, die Unmöglichkeit, beide Teile anatomisch zu trennen, die wirklich globale Vernetzung unserer Nervenzellen - all das fordert von uns, Bewusstes und Unbewusstes gleichermaßen in das Verständnis seelischer Prozesse einzubeziehen. Mit anderen Worten: Jeder therapeutische Prozess braucht (unbewusste) Intuition und (bewusste) Planung.

Auf verschiedene Weise kann das Unbewusste wirken, ohne dass das Bewusste von ihm Kenntnis hat.

Vielleicht kennen Sie Situationen in Ihrem Leben, in denen Sie etwas ganz automatisch tun, ohne, dass es Ihnen bewusst ist. Bei mir ist es das Schließen der Wohnungstür. Ich habe dies so oft getan, tue es jedesmal, wenn ich meine Wohnung verlasse, dass durch die Wiederholung ein neuronales Netz entstanden ist, welches wie eine Art Autopilot funktioniert. Nicht selten geschieht es, dass ich mich auf der Straße auch mit großer Anstrengung nicht mehr erinnern kann, ob ich die Tür geschlossen habe. Meist habe ich beim Schließen der Tür an etwas Anderes gedacht - meine Aufmerksamkeit war schon voll auf den kommenden Tag gerichtet: die einfache Verrichtung des Türschließens wird derart beherrscht, dass keine bewusste Aufmerksamkeit mehr dazu nötig ist. Und schon ist es unbewusst geworden. Wenn wir etwas nur häufig genug getan haben, kommunizieren unsere Synapsen so stark, dass wir quasi wie Automaten funktionieren können.

 

Vielleicht kennen Sie ein ähnliches Phänomen beim Autofahren auf längerer Strecke. Die Fahrt ist ziemlich ereignisarm. Sie sind ein geübter Autofahrer und gehen während der Fahrt Ihren Gedanken nach, in kritischeren Situationen konzentrieren Sie sich kurz, um danach wieder über Dinge nachzudenken, die Sie mehr interessieren.

In solchen kritischen Situationen geschieht in Ihrem Gehirn Folgendes: der Thalamus, ein Teil Ihres Gehirnes, ist die ganze Zeit damit beschäftigt, nur bedeutsame Informationen in Ihr Bewusstsein zu lassen - das heißt also, aus den 11 Millionen Informationseinheiten die 40 herauszufiltern, welche für Sie bedeutsam sind und Ihrer Aufmerksamkeit bedürfen. Solange die Situation im Straßenverkehr „nebenbei“ zu bewältigen ist, lässt er Sie in Ruhe über das Leben nachdenken. Wird sie kritisch, versorgt er Sie sofort mit allen relevanten Informationen. Je geübter Sie als Autofahrer sind, desto besser hat auch Ihr Thalamus gelernt, welche Informationen für die Situation bedeutsam sind. Ihre volle Aufmerksamkeit ist nun auf die Straße gerichtet und Sie bewältigen die Situation. Danach können Sie wieder „nebenbei“ Auto fahren.

Ein sehr beeindruckendes Beispiel dafür, wie unabhängig das unbewusste Können vom Bewusstsein funktionieren kann, habe ich in meiner Arbeit mit einer Frau erlebt, die seit Jahren an einer Demenz leidet. Bei jeder Mahlzeit fragt sie mehrfach, wo sie sich befindet, wie sie hierher gekommen ist oder ob sie Kinder hat. Im Gespräch lassen sich schnell die Erinnerungen an ihre Kinder aktivieren - und sie beginnt von ihnen zu erzählen. Nach dem Ende der Mahlzeit bittet sie mich häufig, ihr das Zimmer zu zeigen, weil sie keine Ahnung hat, wo sie sich befindet. Wird sie von Mitbewohnern aufgefordert, doch einmal nachzudenken, ist sie immer hilflos und ängstlich, weil sie wirklich nicht weiß, wo sie hinsoll.

Manchmal ermutige ich sie, ihren Instinkten zu folgen und einfach darauf loszugehen. Zur Sicherheit, sage ich, bleibe ich in ihrer Nähe. Es könne gar nichts passieren. Dann findet sie meist ihr Zimmer und freut sich, wenn ich ihr sage, dass sie wohl doch mehr kann als sie glaubt.

Das Unbewusste kann auf verschiedene Art Ihr Leben beeinflussen. Anhand des Verhältnisses 40 zu 11 Millionen können Sie vermuten, dass das Unbewusste Ihr Leben mehr beeinflusst als das Bewusste. Der Arzt Dr. Eckart von Hirschhausen, der gern medizinische Themen kabarettistisch zuspitzt, verglich die Arbeit des Gehirnes mit der Arbeit der Bundesregierung. Ihr Unterbewusstsein wäre in dieser Metapher das Kabinett, welches die ganzen Entscheidungen des Lebens trifft - Ihr Bewusstsein eher der Pressesprecher, der Ihre Handlungen nachher rational erklärt.

Ich bin mit dieser Sicht von Dr. Hirschhausen nicht so ganz einverstanden, obwohl sie ziemlich witzig ist. Die Verbindungen zwischen Bewussten und Unbewussten sind keine Einbahnstraßen. Ich glaube nicht, dass die Erklärungen des Pressesprechers die Arbeit der Regierung in irgend einer Weise beeinflussen. Aber ich glaube, dass vom Bewussten Signale an das Unbewusste gehen, die den Inhalt des Unbewussten sehr wohl beeinflussen.

Vielleicht haben Sie auch schon erlebt, dass man Ihnen Dinge einreden konnte, die Sie geglaubt haben und die irgendwann auch Ihr Unbewusstes beeinflusst haben.

Implizites und explizites Lernen

Bewusstes und Unbewusstes spielen selbstverständlich auch beim Lernen eine große Rolle. Hier verwendet man die Begriffe explizites und implizites Lernen.

Warum explizite und implizite Lernprozesse für das Verständnis von Angststörungen wichtig sind, möchte ich Ihnen etwas ausführlicher erklären:

Explizites, also bewusstes Lernen kennen Sie sicher sehr gut. Wann immer Sie in der Schule pauken mussten, haben Sie explizit gelernt. Bewusstes Auswendiglernen, bewusstes Wiederholen ist explizites Lernen. „Explicare" ist ein lateinisches Verb und bedeutet „erklären“. „Explicatus“ heißt: „geordnet, geregelt; deutlich, klar“. Explizites Wissen kann man klar und geordnet verbal erklären. „Tisch“ heißt auf englisch: „table“. „1+1=2“. „Das Wort ‚mit‘ hat im deutschen den Dativ zur Folge. Beispiel: Ich gehe mit meinem Hut…“

Explizites Lernen macht eine Menge Arbeit.

Wenn Sie etwas explizit gelernt haben, dann können Sie sich genau an den Lernprozess erinnern. Sie haben absichtlich, bewusst gewählt, was Sie lernen, Sie können jedem klar und deutlich erklären, was Sie gelernt haben.

Ich kenne aus meiner Praxis kein Beispiel, bei dem eine Angststörung explizit gelernt wurde. Denn das würde bedeuten, dass man das klare Ziel hatte, eine Angststörung zu bekommen und viel Mühe in dieses Ziel investiert hätte.

Das implizite Lernen ist das genaue Gegenteil. Das lateinische Verb „implicare“ bedeutet „verwickeln“. „Implizit“ heißt: „unausgesprochen, mitgemeint, mitverstanden“.

Das implizite Lernen ist ein Prozess, der die Konsequenz aus der Vernetzung unserer Nervenzellen ist. Erfahrungen und Wahrnehmungen werden in einen Kontext eingebettet, der wenig vorhersehbar ist. Außerdem bedeutet das geschätzte Verhältnis von 40 bewussten zu 11 Millionen unbewussten Informationen, welche wir zur gleichen Zeit aufnehmen können, dass wir niemals wissen, was wir in einem bestimmten Moment mit lernen.

Das implizite Lernen ist das „natürliche“ Lernen. Wir lernen am leichtesten, wenn wir implizit lernen. Eine Fremdsprache lernt sich in dem Land, in dem sie gesprochen wird, quasi nebenbei - wenn man genügend Kontakt zu den Menschen dort hat und seine eigene Muttersprache nicht oder wenig hört und spricht.

Ich erinnere mich noch genau daran, was geschah, als ich in Belgien - nebenbei - die französische Sprache lernte. Ich hatte fast keine Vorkenntnisse (wenn man von 3 Lektionen in einem Berlitz-Kurs absieht). Meine Aufgabe in Belgien bestand darin, an einer Schauspielschule mit Studenten das Stück „Antigone“ von Sophokles zu erarbeiten. Während der Proben hatte ich Dolmetscher, die meine Anweisungen und die Fragen der Studenten übersetzten. Dabei konnte ich immer deutsche und französische Sätze nebeneinander hören. Wenn ich eine Szene sah, kannte ich sie bereits aus dem Deutschen. Falls Sie es nicht wissen: man muss auf Theaterproben eine Szene sehr oft wiederholen. Ich sah also jede Szene aus dem Stück viele, viele Male, hörte immer wieder dieselben Sätze. Diese Sätze waren für mich an die Kenntnis des Stückes gebunden und an diejenigen Situationen und psychologischen Motivationen, die ich mit meinen Studenten erarbeitete. Meine Aufmerksamkeit war nicht primär auf das Verständnis der französischen Sprache gerichtet, denn - glauben Sie mir - ich war genug damit beschäftigt, 23 lebhafte Studenten immer wieder zum Arbeiten zu motivieren, sie kreativ anzuregen und ihnen Mut zu machen. Am Abend saßen wir zusammen, meist ohne Dolmetscher. Einige Studenten sprachen ein wenig englisch, so dass ich ein paar Bemerkungen austauschen konnte. Ansonsten saß ich einfach mit dabei, wenn die Leute französisch sprachen und ließ mich davon „berieseln“. Die französische Sprache wurde in meinen Alltag „verwickelt“. Das waren ideale Bedingungen, um sie quasi mit zu lernen. Und genau das habe ich gemacht!

Mein Unbewusstes begann zu arbeiten.

Zum ersten Mal bemerkte ich das in einem Traum. In diesem erlebte ich eine Probe, bei der alle - ich auch - französisches Kauderwelsch sprachen. Es waren keine richtigen Worte. Es klang nur alles irgendwie französisch. Meine Nervenzellen hatten begonnen, sich zu vernetzen und ein ungefähres, unscharfes Abbild der französischen Sprache in meinem Gehirn zu bilden. Für dieses Unscharfe gibt es im englischen das Wort „fuzzy“, auf das ich später noch eingehen werde.