Die entzauberte Angst

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Warum Psychotherapie hilft - aber nicht immer



Es ist in zahlreichen Untersuchungen bewiesen worden, dass die Psychotherapie wirksam ist. Sie hilft bei Angststörungen, Depressionen, Schlafstörungen und vielen anderen Erkrankungen. Man hat erkannt, wie mächtig Psychotherapie sein kann. Das war aber nicht immer so.



Lange glaubte man, die Psychotherapie sei nur bei den „harmloseren“ psychischen Erkrankungen, den sogenannten Neurosen, anzuwenden. Das hat damit zu tun, dass man früher nur einen Bruchteil der therapeutischen Methoden kannte, die heute mit großem Erfolg angewandt werden. Inzwischen wurden viele neue Methoden der Psychotherapie entwickelt und auch überprüft. So zeigte sich in Studien, dass gerade bei der Vermeidung von Rückfällen bei leichten und mittelschweren Depressionen die MBCT (Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie - ein neueres verhaltenstherapeutisches Verfahren) eine ähnlich hohe Wirksamkeit hat wie die Behandlung mit Antidepressiva.



Immer weniger Ärzte setzen heute bei der Behandlung psychischer Störungen ausschließlich auf Psychopharmaka - eine Kombination von Medikamenten und psychotherapeutischen Verfahren wird bei vielen Störungen empfohlen.



Überdies gibt es psychische Störungen, denen mit Medikamenten nicht, mit Psychotherapie aber wohl geholfen werden kann.



Aber genauso wenig wie Psychopharmaka helfen psychotherapeutische Verfahren immer. Leider gibt es immer wieder Menschen, bei denen die Heilkunst versagt.



Und das liegt leider in der Natur der Heilkunst.



In Deutschland ist es Heilkundigen, also Ärzten, Zahnärzten, Psychologen und Heilpraktikern, per Gesetz untersagt, Heilung zu versprechen. Jeder weiß, dass man ein solches Versprechen nicht bei jedem Patienten halten können wird.



In den sozialen Netzen lese ich immer wieder, dass Betroffene von ihren Therapeuten hören, sie seien nicht therapierbar, seien „austherapiert“ oder wollen ihre Störung einfach nicht loswerden. Hier melden sich offenbar die Menschen zu Wort, denen die Therapie nicht geholfen hat, deren Therapie durch den Therapeuten oder sie selbst abgebrochen wurde.



Liebe Leser, beachten Sie, dass diese Stimmen in den sozialen Netzen kein repräsentativer Querschnitt aller therapierten Patienten sind. - wahrscheinlich melden sie sich lauter und öfter zu Wort, weil sie ja immer noch leiden.



Aber natürlich werden ihre Erfahrungsberichte von Menschen gelesen, die Probleme haben und selbst darüber nachdenken, sich therapeutische Hilfe zu holen. Deshalb sind solche Erfahrungen relevant. Sie beeinflussen die Entscheidung, einen Therapeuten aufzusuchen.



Ich wende mich aber nicht nur an diejenigen Leser, die in den sozialen Netzen entmutigende Erfahrungen gelesen haben. Ich wende mich auch an Menschen, die von ihrem Therapeuten tatsächlich solche Worte gehört haben und nun ohne Hoffnung und Unterstützung sind.



Deshalb möchte ich kurz darüber nachdenken, wie sinnvoll es ist, einen Patienten auf diese Weise zu verabschieden.



Ich selbst würde es als eine Grenze meiner Kunst betrachten, wenn ich einem Patienten nicht helfen kann. Wenn ich ihn aus meiner Therapie verabschiede, dann werde ich ihm dringend empfehlen, es mit einer anderen Therapie oder einem anderen Therapeuten zu versuchen. Ich halte es - gelinde gesagt - für verwegen, einem Patienten am Ende einer Psychotherapie zu erklären, er sei prinzipiell nicht therapierbar. Dafür gibt es sachliche Gründe:



- Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ich alle psychotherapeutischen Verfahren so präzise kenne, um mir darüber ein Urteil erlauben zu können. Die meisten Therapeuten haben sich spezialisiert - und das hat auf der anderen Seite große Vorteile.



- Studien haben gezeigt, dass der zwischenmenschliche Faktor eine sehr große Rolle spielt, dass die Qualität des Verhältnisses zwischen Therapeut und Patient einen größeren Einfluss auf den Therapieerfolg haben kann als das gewählte Verfahren oder die Erfahrung des Therapeuten. Es ist gut möglich, dass ein anderer Mensch besser helfen kann, auch wenn er die gleichen Verfahren anwendet wie der vorherige Therapeut. Es ist sogar möglich, dass er selbst dann besser helfen kann, wenn er weniger Erfahrung hat oder schlechter qualifiziert ist.



Wenn ich einem Menschen erkläre, er sei nicht therapierbar oder er sei austherapiert, dann nehme ich ihm ohne einen sachlichen Grund alle Hoffnung auf Besserung. Und ich erkläre ihm, dass die Therapie selbst (was immer das auch sein mag) ihm nicht helfen kann. Ich teile ihm mit, dass es unter Gottes Himmel keinen Weg der Heilung für ihn gibt. Das ist erstens größenwahnsinnig und zweitens schüre ich sein Misstrauen gegen alle Therapeuten und jegliche Form der Therapie.



Und was hat es damit auf sich: „Sie wollen ja gar nicht gesund werden.“?



Dieses Argument ist in einem Falle zutreffend: wenn sich der Patient bewusst dazu entschieden hat, nicht gesund zu werden. Ob es sinnvoll ist ihm dieses zu sagen, weiß ich nicht, weil man dem Patienten damit nichts Neues erzählt. Aber eine bewusste Entscheidung des Patienten für seine Krankheit wäre ein sachlicher Grund für einen Abbruch der Therapie - nur würde ihn ihn diesem Falle der Patient höchstwahrscheinlich selbst herbeiführen.



Vermutet der Therapeut einen unbewussten Widerstand gegen die Heilung, so halte ich dieses Argument ebenfalls für kontraproduktiv. Da es sich nicht um Bewusstseinsinhalte handelt, wird der Patient mit diesem Vorwurf in der Regel nichts anfangen können. Er wird sich im Gegenteil ungerecht behandelt fühlen, was in den meisten Fällen seinen Widerstand vergrößert und den Therapieerfolg unwahrscheinlicher werden lässt.



Natürlich kann ich aus genannten Beiträgen in den sozialen Netzen nicht einschätzen, wie viele Patienten sich tatsächlich solche und ähnliche Worte anhören müssen und ob diese Worte auch tatsächlich gesagt worden sind. Das spielt für mich auch keine Rolle.



Menschen schreiben so etwas in den sozialen Netzwerken und andere lesen es.



Und all jenen Menschen möchte ich sagen: auch wenn die Therapie vielleicht bis jetzt bei Ihnen oder anderen, von denen Sie gehört heben, nicht befriedigend gewirkt haben sollte, gibt es keinen Grund, die Flinte ins Korn zu werfen!



Und ich möchte Ihnen im Folgenden erklären, warum ich das so sehe.





Wenn Gedanken die Materie formen…

Ein erster Versuch, unser Gehirn zu verstehen



Was heißt eigentlich kompliziert?



Die Forschung behauptet, unser Gehirn bestünde aus etwa 86 Milliarden Nervenzellen. Eine Nervenzelle kann mit hunderten, im Extremfall auch mit 100 000 anderen Nervenzellen verbunden sein. Die Gesamtzahl solcher Verbindungen in unserem Gehirn wird auf etwas unter einer Billiarde geschätzt. Als Zahl geschrieben: 1.000.000.000.000.000 oder 1015.



Sollte man vor einer solchen Zahl erschrecken?



Warum nicht? Diese Zahl gibt uns eine Idee davon, wie komplex und variantenreich Vorgänge im Gehirn sind.



Es ist eine Zahl, die uns zu Recht Respekt einflößt. Dieses Gehirn wirkt in seinen Möglichkeiten auf mich beinahe so unendlich wie der Sternenhimmel, den ich an klaren Abenden gern bewundere.



Unsere Nervenzellen sind im Gehirn nicht fest „verdrahtet“. Unser Gehirn ist weder ein Transistorradio noch ein Computer. Die Verbindungen zwischen den Nervenzellen funktionieren etwas komplizierter: anstelle einer „Verdrahtung“ befindet sich an jeder Verbindungsstelle eine Lücke. Diese Lücke nennt man einen synaptischen Spalt, die Verbindungsstelle eine Synapse. Wenn ein Signal von einer Nervenzelle zur nächsten übertragen werden soll, dann muss diese Lücke überwunden werden.



Das geschieht allerdings nicht durch einen „Lichtbogen“, also eine elektrische Entladung.



Vielmehr schüttet die Senderzelle einen Botenstoff, einen sogenannten Neurotransmitter aus. Dieser Transmitter füllt den Spalt und wird von der Empfängerzelle mittels Rezeptoren erkannt. In diesem Moment ändert sich das elektrische Potential der Empfängerzelle.



Je nach der Art des Botenstoffes wird die Empfängerzelle entweder erregt oder Erregung wird gehemmt.

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Und hier gilt es, einmal kurz innezuhalten, um sich zu merken, dass ein Signal die Erregung des Empfängers entweder fördert oder hemmt. Dieses Wechselspiel zwischen Erregung und Hemmung wird uns helfen zu verstehen, wie ein emotionales Gleichgewicht gestört oder erreicht werden kann.



Viele werden sich jetzt fragen, weshalb die Natur unserem Gehirn ein so kompliziertes System der Informationsübertragung „eingebaut“ hat. Ist die Informationsübertragung in einem unserer technischen Geräte denn nicht viel schneller? Natürlich ist die Informationsübertragung mit Hilfe eines solchen Transmitters langsamer als - sagen wir einmal - bei einer Lötstelle.



Dafür ist sie aber flexibler!



Denn anders als bei einem elektronischen Gerät, dessen Bauteile durch einen elektronischen Schalter (z.B. Transistor) entweder Strom empfangen oder nicht, ist die Nervenzelle über hunderte von Synapsen mit anderen Nervenzellen verbunden, die ihrerseits wieder mit hunderten anderer Nervenzellen verbunden sind.



Diese hunderte von Synapsen sind nicht etwa nur „an“ oder „aus“ wie ein Schalter. Diejenigen Synapsen, die „an“ sind, senden Signale (nämlich über die Art des Transmitters), die die Erregung des Empfängers entweder fördern oder hemmen. Die Empfängerzelle wird erst dann erregt, wenn die Differenz aus Erregung und Hemmung einen gewissen Schwellenwert überschritten hat.



Und auch hier würde ich gern einmal durchatmen. Ich stelle mir jetzt eine einzelne Nervenzelle vor, an der die Fortsätze hunderter anderer Nervenzellen „angedockt“ sind. Je nach Art der ausgeschütteten Transmitter erhält die Nervenzelle nun ein Wechselspiel erregender und hemmender Signale. Aus diesem komplexen Wechselspiel ergibt sich, ob die Nervenzelle letztendlich selbst „feuert“ und ein Signal weiterleitet.

 



Und wieder erstaune ich über die Wunder, welche die Natur für uns bereithält. Die „Entscheidung“, ob eine einzige Nervenzelle erregt wird, hängt buchstäblich von hunderten Faktoren ab, welche auf eine sehr unterschiedliche Art und Weise (kein Signal - erregendes Signal - hemmendes Signal) kombiniert sein können.



Die Erregungsleitung in unserem Gehirn ist ein Wechselspiel von Erregung und Hemmung. Dieses Wechselspiel ist sehr komplex: hunderte von erregenden und hemmenden Impulsen, die unterschiedliche Stärken haben, werden von einer Nervenzelle empfangen. Ihr Zusammenwirken in einem bestimmten Moment entscheidet darüber, ob die betreffende Nervenzelle selbst ein Signal weiterleitet.



Einen weiteren Vorteil hat unser Gehirn gegenüber einem elektronischen Gerät:

die Verbindungen zwischen den Nervenzellen sind nicht derart festgelegt wie die Lötstellen - so können sich neue Verbindungen bilden und ältere weniger bis gar nicht benutzt werden. Der Meister, der dies bewerkstelligt, ist kein mystischer Techniker - es sind wir mit unseren Gedanken, Gefühlen und Handlungen.



Jetzt könnten Sie, lieber Leser, der vielleicht an einer Angststörung leidet, mich fragen, weshalb ich Sie mit all diesen Zahlen und Möglichkeiten traktiere.



Ich möchte damit zunächst den Blick dafür öffnen, dass es von sehr vielen Faktoren abhängen kann, ob ein Mensch eine Angststörung entwickelt oder nicht.



Und auch der Erfolg einer Therapie kann von vielen Faktoren abhängen - genauso wie es von hunderten Faktoren abhängen kann, ob eine einzelne Nervenzelle überhaupt ein Angst-Signal weiterleitet.



Sollten die ersten Therapieversuche nicht oder nicht nachhaltig wirksam sein, so heißt dass noch lange nicht, dass Sie nicht therapierbar sind oder überängstlich bleiben wollen. Es heißt nur, dass noch nicht die richtige Kombination von Faktoren gefunden wurde, die Ihre Angststörung auflösen kann.



Das ist alles.



Wie wir denken, lernen und uns Dinge merken…



Betrachten wir einen der im Alltag benutzten Computer, so wissen wir genau, wie das Gehirn nicht funktioniert.



Ein Computer hat „denken“ und „speichern“ genau getrennt. Da gibt es einen Prozessor, der eine bestimmte Anzahl Rechenoperationen pro Sekunde ausführen kann und einen Speicher mit einer ebenfalls begrenzten Kapazität.



Und vielleicht kennen Sie besonders dieses Phänomen: je mehr Informationen ich auf meiner Festplatte speichere, desto langsamer wird er - und irgendwann ist die Festplatte voll, und ich muss Informationen löschen.



Und das alles ist im Gehirn anders!



Alles ist vernetzt



Wenn das Gehirn benutzt wird, so wächst seine Kapazität. Es kann, indem wir es benutzen, nicht nur mehr Informationen aufnehmen - es lernt auch beim Denken, also dem Verarbeiten von Informationen, ständig dazu.



Der Psychiater Manfred Spitzer hat das mal sehr schön beschrieben: je mehr Sprachen ich spreche, desto leichter wird es mir fallen, eine neue Sprache zu lernen.



Wie kommt das?



Wir Menschen verarbeiten und speichern Reize, in dem sich Nervenzellen über die Synapsen zu Netzwerken verbinden.

Vernetzt ist gleich gespeichert.

 Und da es unter den Nervenzellen sehr viele Verbindungen gibt, so wird ein aufgenommener und verarbeiteter Reiz nicht einfach isoliert irgendwo als Information abgespeichert (wie bei einer Festplatte), sondern sozusagen eingebettet in ein Netz verschiedener Assoziationen, wo es an bereits Bekanntes verankert wird. Das neuronale Netz wird Bestandteil eines größeren Netzes.



Vernetzung heißt:

einen Reiz, eine Information zu „speichern“, ist unmittelbar an das Verstehen gebunden.

 Wenn zu Ihnen ein Mensch über ein Fachgebiet spricht, von dem Sie keine Ahnung haben, wenn er dazu noch einen Fachjargon benutzt, von dem Sie viele Worte noch nie gehört haben - so werden Sie sich wahrscheinlich nichts von dem merken, was er gesagt hat. Ihre Nervenzellen werden kein bestehendes Netz in Ihrem Gehirn finden, an das die neuen Informationen angebunden werden können.



„Zu einem Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus“ - so in etwa wird es Ihnen gehen.



Anders aber, wenn Sie neue Dinge über ein Gebiet erfahren, von dem Sie bereits eine Menge wissen. Sie werden zum Ersten sofort verstehen, wovon die Rede ist und sich die neuen Dinge wahrscheinlich sehr schnell und auch dauerhaft merken können.



Wahrnehmen und verstehen ist schon beinahe gemerkt - diese schöne und einfache Erkenntnis verdanke ich Vera Birkenbihl, die ihr Leben dem „gehirngerechten“ Lernen und Arbeiten gewidmet hatte.



Die neuronalen Netze enthalten nicht nur Information, sondern auch verstandene Zusammenhänge und Regeln, die entweder logisch oder locker assoziativ sein können.

 So wie viele Nervenzellen miteinander verknüpft sind, sind auch die Objekte unseres Wissens auf sehr verschiedene Weise miteinander verknüpft.



Wenn ich jetzt wieder auf das Beispiel mit den Sprachen zurückkomme: lerne ich meine Muttersprache, so entsteht in meinem Gehirn ein Netz von Nervenzellen, welches meine sprachlichen Fähigkeiten repräsentiert. Mit jeder Sprache, die ich dazulerne, wächst dieses Netz. Das heißt auch, dass die Anzahl von Synapsen, an denen eine neue Sprache „andocken“ kann, mit jeder neu gelernten Sprache weiter wächst, was das Erlernen einer weiteren Sprache deutlich erleichtert.



Das Beispiel der gelernten Sprache zeigt aber noch etwas Anderes: diese Sprache ist im Gehirn nicht nur auf den Klang des Wortes und sein Schriftbild beschränkt. Höre ich das Wort „Tisch“ so habe ich gleichzeitig ein mentales Bild des Gegenstandes, welches sein Aussehen, den Klang, wenn man Teller darauf abstellt, vielleicht noch ein Erlebnis, welches ich mit dem Tisch hatte oder gar eine körperliche Empfindung enthalten kann. Gleichzeitig weiß ich, wozu ein Tisch gut ist. Ein Tisch ist nicht einfach nur ein Tisch. Beim Hören des Wortes werden in meinem Gehirn gleichzeitig verschiedene Regionen aktiviert, die durch Netze von Nervenzellen miteinander verbunden sind.



Vielleicht haben Sie ja schon einmal einen Schauspieler gehört, dessen Sprache so lebendig ist, dass seine Worte einfach mitreißen und eine Flut innerer Bilder entstehen lassen. Bei diesem Schauspieler sind Worte nicht einfach Worte. Er versteht es, sie für sich zu inneren Erlebnissen werden zu lassen, sie mit verschiedenen Regionen seines Gehirnes zu vernetzen. Im Moment seines Auftrittes könnte viel von dieser Vernetzung unbewusst geschehen - allerdings gibt es Schauspiellehrer, die ihre Studenten animieren, sich eine solche Vernetzung bewusst zu erarbeiten - als Vorbereitung auf den Auftritt. Beim Auftritt selbst sollte dann vieles wieder unbewusst geschehen - aber das ist eine andere Geschichte…



Wir haben ein Wort für die Vernetzung von Informationen:

Kontext

.



In unserem Gehirn gibt es einen Teil, der speziell für den Kontext zuständig ist. Da er so ähnlich aussieht wie ein Seepferdchen, nennt man ihn Hippocampus. In jeder Gehirnhälfte haben wir einen Hippocampus. Man hat herausgefunden, dass der Hippocampus zuständig ist für:



- den Kontext



- die räumliche Orientierung



- die Überführung von Inhalten aus dem Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis



Auch hier sieht man, dass die Schaffung eines Kontexts - also eine Denkleistung - entscheidend für unser Gedächtnis und seine Inhalte ist. Ob dieser Kontext ein wissenschaftlicher ist oder eine „Eselsbrücke“, spielt für das Gedächtnis keine Rolle. Solange sich Inhalte in ein bestehendes Netz einbinden lassen, kann ich mir sie leichter merken.



Ein Kind lernt Sprache dadurch, dass es Dingen, Personen, Handlungen und Situationen die Klänge zuordnet (also einen Kontext herstellt), die es dabei hört. So kann es einen Traktor eben als „Traktor“ bezeichnen, wenn es dieses Wort beim Anblick des Traktors häufig hört oder eben als „Töff, Töff“. Die Beziehungen zwischen den Worten lernt das Kind im Kontext gleich mit. Vokabular und Grammatik werden implizit, also quasi nebenbei, durch das Aufnehmen des Kontext, gelernt.



Dieses

implizite

 Lernen gibt es auch bei der Entstehung von Angststörungen. Da es nebenbei geschieht - also nicht bewusst

explizit

 eingepaukt wird, ist die situative Entstehung einer Angststörung nicht immer leicht nachzuvollziehen. Doch dazu später ausführlicher…



„Trampelpfade“ im Gehirn



Jetzt möchte ich ein wenig genauer darauf eingehen, auf welche Art und Weise sich unsere Nervenzellen zu solchen Netzwerken verbinden und von welchen Faktoren die Stabilität oder Nachhaltigkeit der Netze abhängt.



Wie die Wissenschaft herausgefunden hat, ist unser Gehirn plastisch - also durch Erfahrungen und Gedanken formbar

. Um zu verstehen, wie es kommt, dass sich einige Nervenzellen zu Netzen verbinden und andere eben nicht (oder zu anderen Netzen) und wie es kommt, dass einige Netze stabil über einen längeren Zeitraum bestehen und andere nur kurz, wird es hilfreich sein zu wissen, wie sich Synapsen durch Benutzung verändern.



Ins Leben übertragen heißt das: wir untersuchen, wie es kommt, dass wir Dinge im Langzeitgedächtnis behalten oder sie vergessen, wie es kommt, dass wir gewisse Tätigkeiten irgendwann „im Schlaf“ beherrschen.



Die Wissenschaft hat dafür den Begriff

synaptische Plastizität

 gefunden: damit wird beschrieben, wie sich die Stärke der Übertragung in einer Synapse ändern kann - also ob sie starke oder schwache Signale weiterleitet.



Erinnern wir uns kurz an die Erregungsleitung: jede Empfängerzelle hat einen gewissen Schwellenwert empfangener Signale, ab dem sie selbst erregt wird. Je stärker die Signale sind, die eine Nervenzelle empfängt, desto schneller wird sie die Erregung weiterleiten. Sie benötigt entweder eine Menge schwacher Signale oder wenige starke Signale, um den Schwellenwert zu erreichen und den Impuls weiterzugeben.



Wenn Synapsen stärkere Übertragungen erzeugen, so wird die Weiterleitung dieser Informationen im Gehirn schneller und stärker erfolgen als die Weiterleitung bei schwächeren Übertragungen. Einfach ausgedrückt werden daher bestimmte Netze, bestimmte Synapsen bevorzugt Reize zur Verarbeitung weiterleiten.



Je häufiger eine Synapse aktiv wird, desto stärker wird auch das Signal sein, welches sie überträgt. Die Synapse selbst durchläuft eine Art „Lernprozess“ oder ein „Training“.



Wenn wir uns nun noch daran erinnern, dass eine Synapse - abhängig vom ausgeschütteten Transmitter - erregende oder hemmende Signale weitergeben kann, so wird also auch Erregung oder Hemmung in der Reizweiterleitung durch häufige Aktivität von Synapsen trainiert.



Trainierte Synapsen haben in der Regel „Vorfahrt“ vor untrainierten, da die Übertragung eine stärkere ist. Und da es von jeder Regel Ausnahmen gibt, ist es klar: wenn der weitergeleitete Reiz selbst eine große Stärke hat (wie z.B. bei Schreckmomenten, lebensbedrohlichen Situationen oder Ähnlichem), dann bekommt er selbstverständlich die Vorfahrt.



Es ist wirklich ein wenig wie im Straßenverkehr: die Autos auf einer Hauptstraße dürfen bevorzugt fahren - es sei denn, es kommt ein Rettungswagen mit Blaulicht und Horn…



Und dieses Bild vom Straßenverkehr verdeutlicht zwei sehr verschiedene „Ursachen“ einer Angststörung. Da wäre zunächst ein Schreckmoment, eine gefährliche Situation - ein wirklich

prägendes

 Erlebnis. Dieses kann sich so in unser Gehirn eingraben, dass wir es niemals vergessen. Oder aber es ist das Prinzip „steter Tropfen höhlt den Stein“. Viele, sich wiederholende schwächere Reize, die man einzeln harmlos findet, trainieren das Gehirn so, dass irgendwann einmal eine Angststörung entstehen kann. Solche schwachen Reize können sein: eine leichte, sich ständig wiederholende Angst, automatische Gedanken mit ängstlichem Inhalt oder Ähnliches. Nicht selten wirken prägende Erlebnisse und „stete Tropfen“ zusammen.



Der „Trainingseffekt“ der Synapsen sorgt dafür, dass Reize auf bevorzugten Wegen im Gehirn übertragen werden. Der Psychiater Manfred Spitzer nennt das auch Trampelpfade, ein Bild, welches mir sehr gut gefällt. Ein Trampelpfad entsteht nur durch Benutzung. Durch wiederholte Benutzung wird er richtig festgetreten. Bei längerer Benutzung wird er zum Weg, vielleicht sogar zur einer Straße oder einer Autobahn.

 



Stellen Sie sich bitte vor, sie würden vor einer Wiese stehen. Durch diese Wiese führt ein gut ausgetretener Weg. Würden Sie den vorhandenen Weg wählen oder sich selbst einen neuen bahnen?



Solche Trampelpfade beeinflussen auch unsere emotionalen Reaktionen.

Ich hatte vor kurzem einen Patienten, dessen angespannte Situation mit Problemen in seiner Ehe zusammenhing. Er berichtete, dass er diese Probleme in den letzten 15 (!) Jahren häufig mit seiner Partnerin besprochen hätte, ihr schon „hundert mal“ bestimmte Dinge gesagt hätte, ohne dass sich etwas geändert hätte. Meine Anregung, vielleicht einmal anders als bisher mit seiner Partnerin zu sprechen, stieß zunächst auf Ratlosigkeit. Er war davon überzeugt, dass es keinen anderen Weg für die Lösung des Konfliktes gäbe. Selbst die offensichtliche Erfolglosigkeit seiner Bemühungen änderte an dieser Überzeugung nichts.



Ich würde sagen, dass sich hier über die 15 Jahre der Trampelpfad zu einer regelrechten Autobahn entwickelt hatte - vielleicht sogar einer mit Lärmschutz, so dass man rechts und links nur Mauern sieht.



Vielleicht kennen Sie solche „verfahrenen“ Situationen auch aus Ihrem Leben…



Das Nachdenken über die Arbeit der Synapsen hat mich besser verstehen lassen, warum die Therapie von Angststörungen schwieriger wird, je länger sie bestehen.



Da sind zum ersten die „Trampelpfade“. Je häufiger eine bestimmte Synapse aktiv wird, desto mehr wird sie bei der Weiterleitung von Reizen bevorzugt - sie wird trainiert, die Wahrscheinlichkeit, dass sie wieder aktiv wird, steigt an: ja es braucht sogar immer weniger intensive Reize, um sie zu aktivieren. Die Schwelle, ab der eine bestimmte Wahrnehmung oder ein bestimmter Gedanke Angst auslöst, sinkt kontinuierlich. So kann es geschehen, dass sogar das Bild einer Spinne einen heftigen Anfall von Spinnenangst (Arachnophobie) auslösen kann. Die Wahrscheinlichkeit, auf einen Reiz nicht mit Angst zu reagieren (sondern sich stattdessen zu beruhigen), sinkt ebenfalls. Es hat sich ein „Trampelpfad“ der ängstlichen Reaktion gebildet. Wenn eine Störung lange besteht, so ist er vielleicht zu einer kleinen Straße oder gar zu einer Autobahn ausgetreten worden. Der Energieaufwand, „den Verkehr“, also die Reize, auf neu zu schaffende Trampelpfade umzuleiten, ist dementsprechend höher. Es wird schwerer, sich zu beruhigen, das Gefühl zu regulieren. Die Situation ist genauso „verfahren“ wie die meines Patienten mit den Eheproblemen. In der Therapie braucht es dann Geduld und Ausdauer - und auch mehr Mut, wenn es darum geht, die Autobahn zu verlassen.



Ich habe noch eine weitere Komplikation beobachten können: Je länger eine Angststörung besteht, desto mehr vernetzt sie sich mit anderen Bereichen des Lebens. Sie verästelt sich im Gehirn wie ein Krake, saugt sich an Gedanken und Gewohnheiten fest. Außerdem schafft sie neue Gedanken und Verhaltensweisen wie beispielsweise die Angst vor der Angst (Phobophobie). Diese anderen Bereiche des Innenlebens wirken durch die Verbindung mit der Angst wie Stützpfeiler einer Angststörung. Diese Verbindungen sind keinesfalls immer logisch und durch vernünftiges Denken nachzuvollziehen.. Wenn Sie die ursprüngliche Angst bearbeiten wollen, kann es sein, dass diese von den absurdesten Bereichen Ihres Innenlebens festgehalten wird, die Sie gar nicht logisch mit der Angst verbinden können. Hier können Sie in einer Therapie sehr interessante Entdeckungen machen.



Die Neurotransmitter oder: der Bote ist die Botschaft



Lieber Leser, sie werden hier nicht alle Chemikalien kennenlernen, die für eine Angststörung relevant sind. Ich beschränke mich auf einige, wenige, um möglichst anschaulich bleiben zu können.



Sie haben ja bereits erfahren, dass Signale zwischen Nervenzellen ausgetauscht werden, in dem der Botenstoff (der Neurotransmitter) in den synaptischen Spalt ausgeschüttet wird. Die elektrische Erregung beim Sender veranlasst die Ausschüttung dieser Botenstoffe. Nun ist mit der Anwesenheit einer Chemikalie im synaptischen Spalt allein noch nichts erreicht. Der Neurotransmitter ist sozusagen der Finger, der den Klingelknopf drücken soll. Dieser Klingelknopf befindet sich in der Synapse auf der Seite der Empfängerzelle. Man nennt ihn natürlich nicht Klingelknopf, da es im Gehirn normalerweise nicht klingelt. Man nennt ihn Rezeptor. Dieser Rezeptor wird aktiviert durch einen ganz bestimmten Transmitter, denn nicht jeder Transmitter passt zu jedem Rezeptor - aber ein Transmitter kann mehrere Arten von Rezeptoren „betätigen“.



So ein Rezeptor ist auf d