DER DOCH NICHT

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DER DOCH NICHT
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DER DOCH NICHT

Copyright © 2018 by Andreas Klaene

DER DOCH NICHT

Wenn Menschen wie du und ich zu Tätern werden

Autor: Andreas Klaene

Rügenstraße 8

49661 Cloppenburg

Umschlaggestaltung: Benedikt Kläne

ISBN: 978-3-746773-79-7

mail@andreasklaene.de

www.andreasklaene.de

*Die Namen aller Personen wurden geändert.

All rights reserved.

No part of this book may be reproduced in any form or by any electronic or mechanical means, including information storage and retrieval systems, without written permission from the author, except for the use of brief quotations in a book review.

DER DOCH NICHT

Mit seinem mächtigen Satteldach lag der Baumarkt geduckt wie eine überdimensionale Schildkröte am äußeren Rand der Kleinstadt. Nichts und niemand schien dieses Unternehmen erschüttern zu können. Schon gar nicht einer wie Sven. Dieser große, nie eilende junge Mann konnte eigentlich nur funktionieren, ganz im Sinne seiner Firma. Nur so kannten ihn seine Kollegen, und sie glaubten, sich mit ihm auszukennen. Jedenfalls gut genug. Gewiss nicht so genau wie mit einem Freund. Nein, genau betrachtet nicht einmal so gut wie mit irgendwem von gegenüber. Von so einem wusste man immerhin, wer ihn besuchte, und man war sich sicher, dass er Menschen mochte, weil er im Vorbeifahren immer so freundlich winkte.

Ihren Kollegen Sven kannten sie allenfalls so gut wie die Artikel, die sie verkauften. Etwa so wie die Fußbodenbeläge, die Tischkreissäge mit 2000-Watt-Motor oder die gefragteste Axt aus ihrem Sortiment „Garten- und Forstgeräte“. Letztere war ebenso anwenderfreundlich wie Sven kundenorientiert und kollegial. Sie wussten, dass man damit selbst hartes Holz von dreißig Zentimeter Durchmesser durchschlagen konnte. Das war machbar, weil sie einen keilförmigen Spaltkopf mit Stahlklinge hatte. Trotz ihrer Kraft konnte von solch einer Axt natürlich keine Gefahr ausgehen, solange sie in die richtigen Hände geriet.

Auch Sven war kaum etwas zu hart. Und auch er konnte niemandem gefährlich werden. Schon allein deshalb nicht, weil er bei seinen Eltern, Menschen mit tadellosem Ruf, in guten Händen war.

Hinter dem großen Firmengebäude erstreckte sich eine Weide bis zu einem undurchsichtigen Wäldchen. Darin befand sich das Wohnhaus des Baumarktbesitzers Schüller. Einige glaubten zu wissen, in dem grünen Versteck befinde sich eine Millionenvilla. Dennoch sprach niemand missgünstig über Schüller und über das, was er geschaffen hatte.

Langsam aber stetig war das Familienunternehmen in achtzig Jahren gewachsen. So hatte es sich von einer kleinen Zimmerei zum Baumarkt mit 30 000 Quadratmetern entwickelt. Auf den Firmenchef ließ keiner etwas kommen. „Theo ist ein anständiger Kerl, der ist immer auf dem Teppich geblieben“, sagten selbst die, die Theo Schüller nie persönlich gesprochen hatten. Das glaubte man auch von Kai, dem Juniorchef, und gewissermaßen von allen, die in diesem Betrieb arbeiteten.

Was Sven glaubte, wusste keiner, interessierte aber auch niemanden so recht. Seine Kollegen hielten ihn für verlässlich. Nur das zählte. Nicht, dass sie über diese Eigenschaft jemals besonders nachgedacht hätten. Sie war einfach da, wie der Duft von Holz in der Abteilung für Zaunelemente. Niemand verspürte den Drang, mehr über Sven zu erfahren. Zu langweilig fanden seine Kollegen ihn, als dass sie auf die Idee gekommen wären, unter seiner grauen Schicht nach überraschenden Farben zu suchen. Er war zwar erst vierundzwanzig, machte seinen Job bei Schüller aber wie einer, der die Firmengründung bereits miterlebt hatte.

Sven war von bäriger Statur. Er sagte nicht viel. Sobald Kunden den Ausstellungsraum für Türen und Fensterelemente betraten, verließ er seinen Schreibtisch. Langsam hinkend ging der große Mann auf sie zu, und je näher er ihnen kam, desto gebeugter wurde seine Haltung. Mit der Lebhaftigkeit einer Plattenbaufassade antwortete er auf jede Frage knapp und immer kompetent.

Der alte Schüller hatte von Anfang an etwas für Sven übrig gehabt. Warum das so war, wusste keiner. Aber die Belegschaft hatte sich angewöhnt, selbst kantige Auffassungen des Alten zu schlucken, weil sie sich später meistens als bekömmlich erwiesen. Svens mittelmäßiges Abiturzeugnis interessierte ihn nicht sonderlich, ihm waren Verlässlichkeit und Bodenständigkeit wichtig. Svens hinkenden Gang, der weder Mitarbeitern noch Kunden verborgen blieb, schien Theo Schüller nie bemerkt zu haben. Jedenfalls verlor er kein einziges Wort darüber, auch nicht, wenn er mitbekam, wie andere über seinen Watschelgang tuschelten. Nur Svens gebeugte Körperhaltung war ihm ein Dorn im Auge. So sehr, dass er seinen jungen Mitarbeiter unter vier Augen darauf ansprach: „Hör mal, Junge, keiner hat ein Problem damit, zu dir aufzuschauen. Ich auch nicht. Groß zu sein ist kein Fehler. Also halte dich gerade und merk dir, dass du dich nicht zu jedem herablassen musst.“

Sven lebte bei seinen Eltern. Sein Vater war Finanzbeamter im höheren Dienst, seine Mutter hatte früher als Chefsekretärin gearbeitet, aber aufgehört, als sie mit Sven schwanger war. Sven hatte nie woanders gewohnt und auch nie ernsthaft darüber nachgedacht, auszuziehen.

Das Siedlungshaus stand an einem Hang. Zur Straße hin war es eingeschossig. Zurückhaltend fügte es sich in die Reihe seiner Nachbarn ein. Zum Garten hin wirkte es mit seinen drei Etagen fast feudal.

Das Schlafzimmer von Svens Eltern befand sich im ersten Obergeschoss, daneben das Zimmer seiner älteren Schwester. Sie lebte seit Jahren nicht mehr zu Hause. Genauer gesagt, seitdem sie mit ihrer Ausbildung an der Polizeischule begonnen hatte. Eine Tür weiter lag das nächste verlassene Zimmer, das von Svens älterem Bruder. Er stand als erster auf eigenen Füßen und machte eine Karriere als Marketingmanager der Stadt.

Für Sven war ursprünglich kein Zimmer geplant. Das lag daran, dass auch er nicht geplant war. Er war plötzlich da, stand mitten im Leben seiner Eltern. Wie eine Schachtel Munition, die einem jemand auf dem Flughafen ins Handgepäck geschoben hatte. Unmittelbar vor der Sicherheitskontrolle und kurz vor dem Gate, der Brücke zwischen Alltagsgrau und Sonneninsel.

Ein paar Wochen nach seiner Einschulung ging seine Mutter mit ihm zur Kinderärztin. Sven hatte Angst davor, ließ sich aber mitschleppen. Vielleicht, so hoffte er, konnte sie ihm seine Beine ja reparieren. Er traute sich schon gar nicht mehr in die Schule, weil die Kinder ständig auf seine Füße zeigten und sagten, er gehe wie eine Ente.

Seine Mutter war wie meistens in Eile. Sie zog Sven am ausgestreckten Arm hinter sich her. Beide sagten nichts, bis Sven etwas einfiel: „Mama, ist ein Ausrutscher eigentlich was Schlimmes?“

„Wieso?“

„Weil ich das nicht weiß.“

„Weißt du nicht? Glaub ich nicht. Ist dir doch schon oft genug passiert.“

„Was?“

„Dass du ausgerutscht bist.“

„Das war nicht schlimm.“

Genervt meinte sie: „Na, dann weißt du es ja!“ und glaubte, jede weitere Frage vom Gehweg gefegt zu haben.

Für ein paar gehetzte Schritte herrschte Stille. Aber da war immer noch etwas, das Sven beschäftigte: „Menschen können doch keine Ausrutscher sein, oder?“

„Nein, Sven, Menschen nicht“, sagte sie mit einem so scharfkantigen Nein, als wollte sie ihre Aussage in die Gehwegplatten meißeln.

Svens Blick klebte auf dem Pflaster.

„Ich auch nicht?“

Seine Mutter wandte sich um, hielt kurz inne, zog ruckartig an seinem Arm. „Sag mal, was redest du für ein Blech?“

Der Junge stierte aufs Pflaster. So, als versuchte er, seine bittere Gedankenbrühe in die Fugen zu schütten, damit sie im Erdreich versickerten. „Hast du aber doch gesagt. Zu Bea“, murmelte er vor sich hin. „Ich hab das doch gehört.“

„Quatsch!“

„Nicht Quatsch. Sven ist mein größter Ausrutscher, hast du zu Bea gesagt. Hab ich doch gehört.“

Sie sah ihn an, als wäre sie auf dem Satz ihres Kindes ausgeglitten und augenblicklich auf dem Steißbein gelandet. Wie konnte er es ihr antun, so etwas über die Lippen zu bringen? Etwas, das nur für Beas Ohren bestimmt war. Gegenüber keinem Menschen sonst hätte sie sich diese Blöße gegeben. Nun stand sie da, vor ihrem Sohn, fühlte sich von einer auf die andere Sekunde entkleidet. Sie kam sich vor, als wäre sie auf einer Kinoleinwand zu sehen. So nackt und so authentisch, wie sie sich noch nie jemandem gezeigt hatte. Und ihr eigener Sohn schaute sie an, sah sie in der Rolle ihres Lebens. Aber dieser Film war nichts für Kinderaugen. Einer wie Sven konnte dieses Leben doch noch gar nicht verstehen. Und fraglich, ob er jemals kapieren würde, wie ungelebt ihres war. In der nächsten Szene würde er womöglich seine größeren Geschwister entdecken. Dann hätte er zu begreifen gehabt, dass seine Mutter nicht nur die Hauptdarstellerin war. Sie war auch die Produzentin, die dafür gesorgt hatte, dass ihre erstgeborenen Kinder Glanzrollen bekommen hatten und er nur einer der Statisten war.

„Ich habe dir gesagt, dass das Quatsch ist. Hast bei deiner ewigen Lauscherei mal wieder alles in den falschen Hals gekriegt.“

Sven hielt nun seinen Mund. Doch sogleich versuchte sie die Stille mit lauter Worten zu füllen, die sie noch gar nicht hatte: „Also, mit einer wie Bea, so ´ner allerbesten Freundin, da, ja, wie soll man sagen, da redet man manchmal einfach so dahin. Klar, dass du, wenn du da zuhörst, alles durcheinanderbringst. Kannst das ja gar nicht verstehen. Ich habe ihr nur von einem Unfall erzählt. Einem von damals, als ich noch bei Schüller gearbeitet habe.“

 

„Mama, bist du da ausgerutscht, bei Schüller?“

Sie dachte einen Atemzug lang nach. Und dann: „Kann man so sagen.“

Sven ließ die Untersuchung in stummer Angespanntheit über sich ergehen. Die Ärztin tat ihre Arbeit, ohne ein Wort zu sagen, und auch Svens Mutter schwieg. Nur die Augen der weiß gekleideten Frau redeten vor sich hin. Das sah Sven ganz genau. Sie erzählten lauter unverständliches Zeug. Er war sich sicher, Ärger, ja, geradezu Wut aber seltsamerweise auch eine ganz berührende Milde in ihrem konzentriert dreinschauenden Graublau zu erkennen. Als sie fertig war, setzte sie sich nah neben Sven auf die Untersuchungsliege und legte ihren Arm um seine nackte Schulter. Dann wandte sie sich seiner Mutter zu, ohne ihn loszulassen. Um Höflichkeit bemüht, sagte sie: „Aus meinen Unterlagen geht hervor, dass ich Sie bereits vor sechs Jahren auf die Gefahr einer angeborenen Hüftdysplasie hingewiesen habe. Seitdem war Sven nicht mehr bei mir.“

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