GEGEN UNENDLICH. Phantastische Geschichten – Nr. 11

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
GEGEN UNENDLICH. Phantastische Geschichten – Nr. 11
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Table of Contents

Vorwort

Michael J. Awe: Das Gegenteil der Mozartkugel

Monika Niehaus: Ein Auge für Details

Peter Nathschläger: Das Dorf der anderen

Andreas Fieberg: Rechnung mit einer Unbekannten

Joachim Pack: Invasion!

Carl Grunert – Zukunftsnovellen vom Müggelsee

Carl Grunert: Heimkehr

Die Autoren

Die Herausgeber

Vorwort

Liebe Freunde der phantastischen Literatur,

wir freuen uns, Sie zur mittlerweile elften Ausgabe von GEGEN UNENDLICH willkommen zu heißen!

Zur Feier des kleinen Jubiläums von zehn Ausgaben wird nächstes Jahr eine Sondernummer bei p.machinery publiziert werden. Das Werk wird als Band 56 der AndroSF-Reihe erscheinen und eine Menge von im wahrsten Sinne des Wortes phantastischen Geschichten bringen. Wer bislang noch vor dem digitalen Lesen zurückschreckt oder einfach die Papierform bevorzugt, hat nun die Gelegenheit, in einem wunderbaren Sammelband einen Querschnitt unseres Magazins der letzten drei Jahre zu erhalten.

Mit dieser Ausgabe erwartet Sie aber noch eine weitere Neuigkeit: GEGEN UNENDLICH hat als eBook begonnen und wird auch weiterhin in digitaler Form erhältlich sein. Zusätzlich werden Sie zukünftig aber auch die Möglichkeit haben, das Magazin als Taschenbuch in Händen zu halten. Wir haben im Laufe der Jahre immer wieder Anfragen dazu bekommen und freuen uns, diesem Wunsch ab der Nummer 11 nachkommen zu können; Anfang des nächsten Jahres wird somit die erste reguläre Taschenbuchausgabe erscheinen.

Und noch ein kleiner Hinweis in eigener Sache. Aufmerksamen Lesern wird ein neuer Herausgebername auf dem Cover nicht entgangen sein. Unser Mitherausgeber Michael Blasius hat geheiratet und trägt nun einen neuen Namen.

Als Michael J. Awe liefert er den Einstieg mit seiner Geschichte »Das Gegenteil der Mozartkugel«, in der Außerirdische in ihrem Altersdomizil von einem Hilferuf erreicht werden.

Monika Niehaus führt uns in »Ein Auge für Details« in eine Welt künstlicher Organe, in der Organfarmen eine innovative Branche mit hohem Wachstumspotential darstellen.

In Peter Nathschlägers »Das Dorf der anderen« flüchtet eine Familie vor einer weltweiten Katastrophe in ein rettendes Dorf am Amazonas, von dem bekannt ist, dass dort manch einer eine rätselhafte Verwandlung erfährt.

Andreas Fieberg zeigt in seiner Geschichte »Rechnung mit einer Unbekannten«, wie sich Reisende durch Raum und Zeit auch nach einem Ausfall der Technik zurechtfinden, während Joachim Packs Geschichte »Invasion!« das Internet der Dinge als mögliches Einfallstor für ungebetene Gäste entlarvt.

Schließlich stellt Michael J. Awe den heute fast vergessenen Autor von Zukunftsnovellen, Carl Grunert (1865 – 1918), vor. Als ein Beispiel für Grunerts Schaffen folgt die Geschichte »Heimkehr«, in der dem Protagonisten buchstäblich die Augen geöffnet werden.

Lassen Sie sich gut unterhalten!

Die Herausgeber

Awe / Fieberg / Pack

Bonn, im Dezember 2016

Michael J. Awe
Das Gegenteil der Mozartkugel

Weißt du, was ich am meisten schätze? Die Sonne! Das Tageslicht! Die frische Luft. Und natürlich die Mozartkugeln. Es hätte uns auch wirklich schlechter treffen können.«

»Ja«, meinte Frank, »wer möchte schon auf dem Mars leben.«

Sie kicherten, wie alte Menschen es tun, und widmeten sich wieder ihrem Damespiel.

Sie saßen vor ihrem Haus in der angenehmen Morgensonne auf der Bank und ließen sich die alten Knochen wärmen. Die drei Männer pflegten fast jeden Morgen so zu beginnen, falls es das Wetter zuließ. Seit acht Erdenjahren lebten sie schon auf diesem Planeten. Es hätte sie wirklich schlechter treffen können.

Ralf, diesen Namen hatte er sich nach ihrer Ankunft ausgesucht, griff sich eine weitere Mozartkugel und schob sich die Süßigkeit in den Mund. »Wunderbar!«, murmelte er, während die obere Schokoladenschicht langsam im Mund zerging. Er war ein kleiner, sehr hagerer Mann, dessen Kopf ein wenig zu groß für den Körper wirkte.

Frank versetzte einen Spielstein und zog an seiner Pfeife, deren Rauch noch auf der Straße wahrzunehmen war, die an ihrem Grundstück vorbeiführte.

Der Dritte im Bunde, der sich den Namen Christian gegeben hatte, saß neben dem Brett, lehnte den Rücken an die warme Hauswand und blinzelte schläfrig in die Morgensonne.

Ralf betrachtete die Spielsteine, beugte sich nach vorne und entdeckte einen vielversprechenden Spielzug. »Ein, zwei, drei«, sagte er bei jedem weißen Stein, den er mit seinem übersprang. Zufrieden nahm er die geschlagenen Steine vom Brett.

Frank blies den Rauch aus und kratzte sich die Stirn. Sie alle hatten die Gestalt von älteren Männern angenommen, sie fanden das aus einem Sinn für Kongruenz heraus angemessen, schließlich waren sie nun mal alt. Aber es gab noch einen weiteren, entscheidenden Vorteil: als alter Mensch fiel man weniger auf. So wurde so manche Unwissenheit während ihrer Eingewöhnungsphase auf diesem Planeten als Schrulligkeit abgetan und nicht weiter beachtet. Manchmal wurde es auch für etwas gehalten, was man als Demenz bezeichnete. Es war eine praktische Tarnung.

»Was ist heute für ein Tag?«, fragte Christian.

»Mittwoch«, antwortete Ralf, der sich konzentriert über das Spielbrett beugte.

Frank schob sich die Pfeife in den Mundwinkel. »Was überlegst du?«, fragte er Christian, der zu grübeln schien. »Heute ist Mittwoch, und wie jeden Mittwochmorgen wird gleich die Müllabfuhr kommen, quietschend vor unserem Haus halten, die Mülltonne leeren, die Katze erschrecken und dann zu den Nachbarn weiterschippern.«

Christian seufzte und kramte einen Stift aus seiner Tasche. »So viel Aufwand, ich werde es nie verstehen.« Er lehnte sich etwas zur Seite, so dass er durchs Küchenfenster gucken konnte, und richtete seinen Stift in das Innere des Raumes. Die Spitze des Stiftes, die vorher wie ein ganz normaler Kugelschreiber ausgesehen hatte, begann rot zu leuchten. Aus der Küche war das leise Klappen des Mülleimerdeckels zu hören, als sich der volle Müllbeutel dematerialisierte.

»Er hat es schon wieder getan«, murmelte Frank mit auffällig ruhiger Stimme, dass Ralf vom Spielbrett aufblickte. »Waren wir uns nicht darüber einig, dass wir auf derlei verzichten. Wir sind auf der Erde, wir sehen aus wie Menschen, wie leben wie Menschen und wir sollten uns auch wie Menschen verhalten.« Christian wollte etwas sagen, doch Frank hob seinen langen Finger. »Dass Benutzen eines Querks fällt garantiert nicht unter menschliche Verhaltensweisen! Wir haben ihn nur für den Notfall aufgehoben. Für den Notfall. Ich glaube kaum, dass das Rausbringen eines Müllbeutels als Notfall zählt. Oder bist du da anderer Meinung?«

Christian, dessen Glatze eine rötliche Farbe angenommen hatte, winkte ab. »Ich verstehe noch immer nicht, was daran schlimm sein soll. Wozu haben wir den Querk denn, wenn wir davon nicht ein wenig Gebrauch machen. Schließlich schadet es doch niemandem.«

»Aber es ist nicht richtig!«, fuhr Frank auf. »Der Querk passt weder in diese Zeit noch in diese Welt. Du kommst mir vor wie ein Schauspieler, der den Hamlet gibt und eine Jeanshose trägt. Es ist einfach falsch.«

Ralf konzentrierte sich wieder auf die Stellung der Spielsteine und ließ die beiden ihren Disput ausfechten. Seit ihrer Ankunft war die Verwendung des Querk ein Streitpunkt zwischen Frank und Christian und es sah nicht so aus, als würden sie irgendwann zu einer Lösung kommen. Er hatte sogar den Eindruck, dass ihre Streitgespräche ein Zeichen von Wohlbefinden darstellten, dem sie mit Genuss nachgingen. Und da es gleichzeitig niemals zu ernsthaften Verstimmungen kam, nahm Ralf es gelassen hin.

Er erhob sich, während die beiden weiter disputierten, und ging langsam über den Rasen. Das Gras unter seinen Sohlen war weich und glitzerte noch vom nächtlichen Tau. In der Mitte des Gartens stand ein alter Apfelbaum, dessen Äste voller Früchte hingen. Der Baum trug so viel, dass sie drei gar nicht mit dem Essen hinterherkamen. Von einer Nachbarin hatte sich Ralf daher im letzten Herbst in das Geheimnis des Einkochens einweihen lassen, bevor die eingelagerten Äpfel im Keller überhandnahmen. Nun stand im Keller ein Regal mit frischen Einmachgläsern, die er dachte, alle nach und nach zu füllen. Apfelkompott, dachte er, noch so eine feine Erfindung der Menschen.

Er nahm einen der Äpfel auf, putzte ihn an seinem Pullover ab und biss hinein. Kauend stand er eine Weile da und sah die Straße hinunter. In der Ferne bog der Müllwagen um die Ecke und fuhr klappernd die Straße hinunter. Schon von weitem schien er den Geruch seiner Fracht mit sich zu bringen. Ralf hob die Hand zum Gruß, als einer der Müllmänner vom Wagen sprang und ihre Tonne ergriff, und machte sich dann daran, die restlichen Äpfel vom Boden aufzulesen. Als er sich wieder erhob, erstarrte er.

 

Der Ankömmling, der in ihrem Gartentor stand, hatte die Gestalt eines jungen Mannes angenommen, aber Ralf erkannte ihn sofort. Der Mann betrat den gepflasterten Weg und kam mit etwas unbeholfenen Bewegungen auf sie zu, als würde er sich nicht wohl in seiner Haut fühlen. Obwohl die Kleidung der aktuellen Mode entsprach und ihm wie angegossen saß, wirkte er wie verkleidet.

Ralf presste die aufgelesenen Äpfel an seinen Bauch. Er warf einen Blick zu den anderen herüber, die ebenfalls erstarrt waren und den Ankömmling betrachteten.

Langsam überquerte Ralf die Wiese und ließ den anderen nicht aus den Augen. Es war so lange her, dass er einen der ihren gesehen hatte. Nie hätte er gedacht, jemals wieder einen Sternenfahrer wiederzusehen. Damit hatte er abgeschlossen, als sie sich damals auf diesem Planeten materialisiert und einen Blick zum Himmel geworfen hatten, wo sich ihr Schiff befinden musste, bevor es wieder den Orbit verließ.

Soweit er wusste, war so etwas noch nie vorgekommen.

Eine Weile standen sie sich schweigend gegenüber und sahen sich an.

Schließlich atmete der Ankömmling hörbar aus und vollführte eine Geste des Grußes ersten Grades, soweit er dazu mit den eingeschränkten Möglichkeiten seiner neuen Gliedmaßen imstande war. »Wir grüßen die, die wir zurückgelassen haben …«

Tatsächlich, fiel es Ralf ein, gab es auch für diese Situation eine entsprechende rituelle Formel. Er legte die Äpfel auf den Tisch und vollführte eine ebenso unbeholfene Geste. »Setz dich!«, murmelte er und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Die anderen schwiegen.

Der junge Mann zögerte, sah sich eine Weile um und setzte sich dann umständlich auf die Bank neben Christian. Man sah ihm an, dass er sich das erste Mal in seinem Leben setzte.

Als der Besucher lächelte und schwieg, erinnerte sich Ralf daran, dass es jetzt an ihm war, einige Höflichkeitsfloskeln auszutauschen. Was macht er hier?, dachte Ralf. Die plötzliche Ankunft des Sternenfahrers hatte ihn regelrecht vor den Kopf geschlagen.

»Ich nehme an«, sagte Ralf langsam, »ihr wart grad in der Nähe?«

Der Sternenfahrer rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Unser Schiff befindet sich im Orbit des Planeten.«

Automatisch blickten sie alle zum Himmel auf, als ob sie das riesige Sternenschiff dort mit bloßem Auge sehen könnten. Franks Pfeife war mittlerweile ausgegangen und in Christians Gesicht glomm ein merkwürdiger Ausdruck, während er mechanisch mit dem Querk auf der Tischplatte spielte.

»Nein«, sagte der Sternenfahrer nach einem kurzen Zögern. »Ihr versteht nicht. Unser Schiff wird den Orbit nicht mehr verlassen können. Nicht, wenn ihr uns nicht helft.«

Frank zündete sich seine Pfeife an, was ihm erst beim dritten Versuch gelang. Seine Finger zitterten merklich. Für einen Moment gingen Ralf die unmöglichsten Bilder durch den Kopf; sie alle wieder vereint an Bord eines Sternenschiffes, die vertrauten Körper, der Rhythmus des Reisens und das ewige Dunkel des Alls.

Der Sternenfahrer rutschte auf der Bank nach vorne und berichtete ihnen von einem schweren Unglück, das ihr Schiff unweit ihres Sonnensystems befallen hatte. Erst betraf es nur einige wenige der Schiffsbesatzung; sie wurden immer schwächer, klagten über Bewegungsstörungen, konnten sich irgendwann nicht mehr erheben, verfielen im Laufe von relativ kurzer Zeit in eine Lähmung, aus der sie nicht mehr befreit werden konnten. Bald schon waren sie nicht mehr ansprechbar und die Redex-Flüssigkeit, die sie permanent wie eine zweite Haut umgab, färbte sich bläulich. Binnen kurzem war die Hälfte der Besatzung davon betroffen, ohne dass man eine Lösung für das Problem hatte finden können. Als nur noch drei Sternenfahrer übrig waren, setzten sie Kurs auf die Erde.

»Wir mussten umkehren«, sagte der Sternenfahrer. »Uns blieb keine andere Wahl.«

»Und nun«, sagte Christian und rieb sich nachdenklich über die Glatze, »wollt ihr, dass wir euch helfen?«

»Mit eurer Hilfe können wir weiterfliegen. Ihr seid die Älteren, ihr verfügt über das nötige Wissen. Die Vorälteren sind an Bord des Schiffes der Krankheit erlegen, bevor sie uns helfen konnten. Wir wissen nicht, was zu tun ist.«

»Weiterfliegen …«, murmelte Frank nachdenklich, der in eine Rauchwolke gehüllt war.

Ralf schüttelte den Kopf. »Aber für wie lange? Ich meine, wir sind vor Kurzem ausgemustert worden, um den Jüngeren an Bord Platz zu machen, wie es bei uns Brauch ist. Was wird also passieren, wenn wir mit dir kommen? Wir reisen einige Zeit, bis wieder jüngere Sternenfahrer nachrücken, und dann ist wieder kein Platz an Bord. Wir werden erneut auf einen Planeten in der Nähe ausgesetzt werde, von dem wir nicht wissen, wie er sein wird.«

»So ist es schon immer gewesen!«, bestätigte der Sternenfahrer.

»Hört sich nach einem tollen Angebot an«, sagte Ralf und steckte sich eine Mozartkugel in den Mund. »Bevor wir hier alle einen Sonnenbrand kriegen, flitzen wir doch lieber an Bord eines Sternenkreuzers durch das All, um weiter Richtung Unendlichkeit zu fliegen.«

»Oder«, sagte Christian, »wir bekommen auch diese merkwürdige Krankheit und stranden irgendwo in dieser Galaxis.«

Der Sternenfahrer rutschte unruhig auf der Bank hin und her. Ralf konnte ihm ansehen, dass er sich das Gespräch ganz anders vorgestellt hatte. Wie hätte er auch etwas anderes außer begeisterte Zustimmung zu seiner Einladung erwarten können, schließlich führten sie hier ein Leben, das von Stillstand geprägt war, der für ein fahrendes Volk gleichbedeutend mit der Vorstufe des Todes ist. Was lebt, hieß es bei ihnen immer, bewegt sich. Nur das Tote wird starr. Ralf wusste, wie der junge Sternenfahrer dachte, denn noch vor kurzem hätte er ganz ähnlich geurteilt. Aber in den letzten Jahren hatte sich einiges geändert, sie hatten sich geändert.

»Bleibt ihr doch hier!«, meinte Frank und zog an seiner Pfeife.

»Was?«, flüsterte der junge Sternenfahrer und sah ihn an, als hätte er nicht richtig verstanden.

»Es gibt doch jetzt zwei Möglichkeiten«, sagte Frank und stieß einige Rauchkringel in die Luft. »Entweder wir geben unser bequemes Leben hier auf oder ihr kommt einfach alle runter auf die Erde.«

»Aber die Unendlichkeit …«, hauchte der Sternenfahrer.

»Drauf geschissen«, antwortete Ralf und steckte sich eine weitere Mozartkugel in den Mund.

Der junge Sternenfahrer schüttelte den Kopf. »Es ist unsere Bestimmung, immer weiter in die Unendlichkeit zu fliegen, um irgendwann das Zentrum des Alls zu erreichen. So steht es geschrieben. Wir sind Sternenfahrer, eine uralte Rasse, unser Leben ist das Sternenschiff und das All!«

»Und dann«, sagte Christian, der normalerweise nicht mehr als dreißig Wörter am Tag sprach, »was machen wir dann?«

Der Sternenfahrer sah ihn fragend an.

»Was machen wir«, fuhr Christian geduldig fort, »wenn wir irgendwann das Zentrum des Weltalls erreicht haben, häh?«

»Die Prophezeiung …«

»Wir kennen die Prophezeiung«, unterbrach ihn Ralf.

»Oh ja!«, murmelte Frank.

Ralf griff sich eine weitere Mozartkugel und führte sie langsam durch die Luft. »Wir fliegen und fliegen und irgendwann …«, er warf sich die Schokoladenkugel in den Mund, »werden wir als alte Säcke auf irgendeinem Planten abgeladen.«

»Das ist der Lauf der Dinge«, antwortete der Sternenfahrer. »Wir haben es nie anders gemacht. Und es hat sich in all den Jahrtausenden bewährt.«

»Kennst du eigentlich Mozartkugeln?«, fragte Ralf kauend.

»Bitte?«, antwortete der Sternenfahrer irritiert.

Ralf lächelte zufrieden. »Eben!«

Der Sternenfahrer schwieg und versuchte mit den menschlichen Gliedmaßen eine Geste der Ratlosigkeit der vierten Stufe.

»Vielleicht gibt es aber noch eine dritte Möglichkeit«, sagte Ralf.

Dicht gedrängt standen sie in dem kühlen Keller ihres Hauses zwischen den großen Regalen. Eine einzelne Lampe spendete dem fensterlosen Raum ein gelbliches Licht. Hier, da waren sich alle einig gewesen, waren sie vor Entdeckung relativ sicher. Der Sternenfahrer musterte die Regalbretter voller Äpfel, die fein säuberlich aufgereiht dalagen, als hielte er das Obst für eine fremde Lebensform. Er atmete einige Male tief ein und aus und blickte die anderen an. Sie nickten zustimmend.

Der junge Mann richtete die Spitze des Querks auf den Boden, die Spitze leuchtete auf und vor ihnen materialisierte sich die Gestalt eines Sternenfahrers. Ralf stöhnte leise auf, als er den reglosen Körper betrachtete. Es war schlimmer, als er sich vorgestellt hatte.

Die acht Gliedmaßen waren dünn und fast durchscheinend. Die Redex-Flüssigkeit, die den Körper umgab und die außenliegenden Organe schützte, war bläulich verfärbt. Er hatte so etwas noch nie gesehen.

»Das ist eine Katastrophe«, sagte Frank in die Stille hinein und blies eine Rauchwolke zur Decke.

»So geht es allen!« Der junge Sternenfahrer nahm den Blick nicht von der reglosen Gestalt und schüttelte den Kopf. »Wir verstehen es einfach nicht. Was können wir tun?«

»Was sagen die Aufzeichnungen?«, fragte Ralf.

»Nichts. Wir haben die Aufzeichnungen nach allen bekannten Krankheiten und Symptomen durchforscht, es ist unserem Volk noch nichts Vergleichbares zugestoßen.«

Ralf mochte den flehenden Blick nicht, den ihm der junge Mann zuwarf, und beugte sich über den am Boden liegenden Körper. Durch die bläuliche Verfärbung sah die vertraute Gestalt fremdartig aus. Einen Moment lang fragte er sich, ob die mysteriöse Krankheit immer noch ansteckend war und ob sie ihn in seinem menschlichen Körper gefährlich werden konnte. Mühsam unterdrückte er den Wunsch, so schnell wie möglich den Keller zu verlassen. Aber er blieb, denn wenn kein Wunder geschah, waren die drei ausgemusterten Alten tatsächlich die letzte Rettung für ihr Volk. Was für eine Ironie des Schicksals, dachte er.

Sie blieben bis zum Abend im Keller und als sie in die laue Sommerluft hinaustraten, schwiegen sie lange. Der Sternenfahrer saß auf der Bank neben dem Eingang und fragte nichts, als er ihre Gesichter sah. Mit vom langen Knien schmerzenden Beinen ging Ralf langsam über die Wiese und blieb unter dem Apfelbaum stehen. Der Wind rauschte leise in der Baumkrone. Mechanisch bückte er sich und hob einige Äpfel vom Boden auf. Sein Kopf war wie leergefegt und eine tiefe Traurigkeit lag wie ein bitterer Geschmack auf der Zunge. Alles umsonst, dachte er, die ganze lange Reise zur Erde, und wir wissen es auch nicht.

»Ihr hättet euch den weiten Weg sparen können …«, murmelte er. Er war überrascht, wie traurig ihn die Aussicht machte, dass sein Volk, welches ihn auf diesem Planeten zurückgelassen hatte, nie wieder durch das All reisen würde. Die Handvoll Sternenfahrer, die es mit letzter Kraft zur Erde geschafft hatten, konnten das Sternenschiff nicht mehr weiter navigieren. Schon bald würden nur noch Legenden über die geheimnisvollen Sternenfahrer erzählt werden und in absehbarer Zeit wären auch diese Legenden verstummt. »Es stirbt sich nicht so leicht, wenn man zu den letzten seiner Art gehört«, sagte er leise, ohne es zu merken.

Er packte so viele Äpfel in seinen Pullover, wie dieser fassen konnte, und ging zum Haus zurück. Frank und Christian saßen neben dem Sternenfahrer auf der Bank und starrten vor sich hin. Vorsichtig schritt Ralf die Stufen zum Keller hinunter und betrat den Raum, in dem noch immer das Licht brannte. Am Fuß der Treppe blieb er stehen und starrte auf die reglose Gestalt, dann gab er sich einen Ruck und trat über eines der schlaffen Gliedmaße an das Regal. Behutsam stapelte er die Äpfel auf dem letzten freien Platz im oberen Regalbrett, dann verließ er schnell den Keller und schaltete das Licht hinter sich aus.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?