Buch lesen: «X-Mas: Hochdramatisch», Seite 3

Schriftart:

3. Kapitel
Nur Fassade

Als Swenja die Post ihrer Schwester durchging, hörte sie dumpfe Geräusche aus der Wohnung darüber. Sie zuckte zusammen. Hatte Sybilla nicht mal davon berichtet, dass sie der festen Überzeugung sei, das Pärchen würde sich gegenseitig verprügeln?! Nur nach außen hin würden sie die Fassade wahren und immer wie aus dem Ei gepellt und nach dem neuesten Trend gekleidet das Haus verlassen. Wenn man mal von der Sonnenbrille absah, die der Mann gelegentlich auch im Winter trug. Wobei ja irgendwelche Hämatome meist größer waren als die Abdeckung …

Swenja hatte noch Sybillas höhnisches Lachen im Ohr und die Bemerkung: „Geschieht diesem Schwachmaten recht. Der hat einfach Prügel verdient, so wie der aussieht!“

Dazu hatte Swenja eine beschwichtigende Bemerkung auf den Lippen gelegen, aber sie hatte sie sich verkniffen. So redete man nicht über andere Menschen. Das war jedenfalls ihre feste Überzeugung.

Eben war die Bratpfanne schwungvoll in Jens’ Gesicht gelandet. Er hatte noch versucht, ihr auszuweichen, aber ein Teil des Bodens hatte ihn doch getroffen, und er war mit dem Stuhl umgekippt. Der Mann spürte das schmerzhafte Brennen auf der Haut, an unterschiedlichsten Stellen, weil das Fett durch die Gegend geschossen war. Grit hatte gerade Öl erhitzt, um Bratkartoffeln zu machen. Eigentlich sein Leib-und-Magen-Gericht. Doch seit Langem hatte er keine Präferenzen mehr, was kulinarische Spezialitäten anging.

Wieder hatten sich beide im Streit hochgeschaukelt. Und er, er wollte diese üblen Verdächtigungen nicht auf sich sitzen lassen. Er hatte nichts vom Wirtschaftsgeld für sich abgezweigt, nicht einen einzigen Cent, er hatte nicht mit der Verkäuferin geliebäugelt … Jens wehrte sich mit hilflosen Worten.

„Du deutest das völlig falsch“, hatte er gesagt. „Das war alles ganz harmlos. Ich wollte einfach nur freundlich sein. Und die Verkäuferin muss doch nett dreinschauen, gehört zu ihrem Job dazu.“

„Ach was, der feine Herr turtelt mit allem rum, was nicht bei drei auf dem Baum ist, und ich, ich soll dabei kommentarlos zusehen. So weit kommen wir noch. Das wüsste ich aber. Nicht mit mir.“

„Ich würde nur gern in Ruhe etwas Leckeres essen“, hatte daraufhin Jens noch eingelenkt. Seine Stimme klang dabei schwach.

Grit redete sich in Rage. Und dann kam irgendwann die Pfanne angeschossen.

Auf dem Küchentisch stand ein Ein-Liter-Karton mit fett­armer H-Milch, aus dem er sich zuvor noch für seinen Kaffee bedient hatte. „Zu Hause nicht sicher?“ hatte sich Jens die Frage ins Gehirn gebrannt, die auf einer Seite mit ziemlich großen Buchstaben stand. „Sind Sie akut von Gewalt zu Hause betroffen oder kennen Sie jemanden, der von Gewalt betroffen ist?“, stand dort zu lesen. JA, JA, hätte Jens am liebsten geschrien, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken, während er wimmernd auf dem Boden lag.

War das aber nicht doch ein Hoffnungsschimmer? Wenn so ein Hinweis sogar schon auf einem Alltagsgut wie einem Milchkarton stand. Er konnte schließlich unter der angegebenen Website alle wichtigen Informationen dazu finden, was zu tun wäre und wo man Hilfe bekommen könnte. Stärker als Gewalt, nannte sich die Internetseite, und das Bundesministerium für Familie, Soziales, Frauen und Jugend war in diesem Fall der Initiator. Hallo, sei mal realistisch, das betrifft dich doch gar nicht, von Männern war keine Rede, funkte ein störender Gedanke durch seinen Kopf. Außerdem würde Grit herausfinden, wo er sich im World Wide Web getummelt hatte.

„Jämmerlicher Schlappschwanz“, zischte seine Frau am Herd und hatte in der Zwischenzeit die vorbereiteten Kartoffelscheiben in das neuerlich eingefüllte und erhitzte Öl gleiten lassen.

„Das räumst du mir aber alles nachher auf. Und wehe, ich sehe noch irgendwo einen Dreckkrümel oder Spritzer!“

Am liebsten wäre er liegen geblieben, mit geschlossenen Augen. Er rappelte sich langsam auf, mit der Rechten auf der schmerzenden Gesichtshälfte. Kaltes Wasser, dachte Jens, da muss sofort kaltes Wasser drauf … Grit schaute nur kurz zu ihrem Mann.

„Denk dran, dass heute Sonnabend ist“, säuselte sie ihm noch hinterher, als er aus der Küche lief. Plötzlich war ihre Stimme ausgewechselt, hatte einen völlig anderen Klang.

Zwischen den Gedanken an das kalte, lindernde Wasser schaltete sich die energische Aufforderung aus dem Hintergrund, am Abend seinen ehelichen Pflichten nachzukommen. Er drehte im Bad den Wasserhahn am Waschbecken voll auf und beugte sein Gesicht unter den Strahl. So lange er es aushielt, blieb er in dieser Position. Dann fing er plötzlich an zu frieren, zitterte am gesamten Körper, erhob sich und drehte den Hahn zu. Er griff nach seinem Handtuch, mit dem er vorsichtig über Gesicht und Kopf tupfte. Beim Blick in den Spiegel schrak er nicht einmal zurück. Er hatte das erwartet: knallrote Brandblasen auf den Wangen und an der Stirn, die ihn entstellten. Sie würden aufgehen, sich vielleicht entzünden.

Jens sah sich nur in die Augen und blendete alles andere aus. Wie um alles in der Welt war er nur in dieser scheinbar ausweglosen Situation gelandet? Warum fand er nicht die Kraft, alles hinter sich zu lassen? Wie lange wollte er dieses Hamsterrad noch im Kreis drehen? Dabei waren sie doch einst ein richtiges Traumpaar gewesen, schon in der Schulzeit. Alle hatten sie um ihre große Liebe beneidet. Sie war seine erste und einzige Freundin.

Du hättest damals schon die Anzeichen wahrnehmen können, nervte sein Inneres. Du wolltest es nur nicht sehen, du Tölpel! Aber es gab doch immer wieder diese tollen Versöhnungen, nach jedem kleinen Streit, schlug die zweite innere Stimme vor. Allerdings verschlimmerte es sich von Mal zu Mal, das musstest du doch erkennen, fing die erste Stimme wieder bohrend an. Und was ist mit den Ruhephasen, die gab es doch auch dazwischen. Wenn alles mit einem Mal ganz harmonisch erschien, war wieder der zweite Ratgeber versöhnlich dran. Das hast du völlig falsch gedeutet und sofort alles entschuldigt, lautete das bissige Echo.

Jens schüttelte sich und fasste sich an den Kopf, der zu zerspringen drohte, so heftig waren die Schmerzen. Migräne hatte sein Hausarzt schon bescheinigt und seine Frau ihn daraufhin als Weichei bezeichnet. Dem Mediziner waren auch Jens’ Verletzungen nicht verborgen geblieben. Aber der entschuldigte das immer mit seiner Tollpatschigkeit.

„Sie können sich gar nicht vorstellen, was mir daheim alles passiert, Herr Doktor“, hatte Jens einmal erklärt, als der Arzt ihn direkt ansprach, ob er etwa Probleme hätte, über die er – natürlich ganz im Vertrauen – reden wolle.

„Wenn irgendwas im Wege steht, dann stolpere ich garantiert darüber. Und meine Haut ist eben sehr empfindlich, nicht nur bei Sonnenstrahlen, die mich sofort verbrennen. Da gibt es schon nach einem leichten Stoß Spuren. Vielleicht hätte ich ein Mädchen und kein Junge werden sollen …“

Der Doktor hatte nur den Kopf geschüttelt und sich seinen Teil gedacht. Auch Jens’ hochwertige Garderobe täuschte ihn nicht über den Sachverhalt hinweg. Die sollte bestimmt nur ablenken vom wirklichen Geschehen, weil sich schick angezogene Leute so etwas gegenseitig nicht antaten. Brutalität war eher in ärmeren Verhältnissen angesiedelt, so die öffentliche Meinung.

Aber wenn einer Hilfe brauchte, dann musste er diese auch wollen. Er hatte etliche ähnliche Fälle in seinem Berufsleben kennengelernt. Manche schafften es, andere gingen dabei drauf. Dem Doktor blieb keine Zeit, sich weiter Gedanken um seinen Patienten zu machen. Der war schon aus der Tür des Sprechzimmers hinaus, und auf dem Computerbildschirm standen die Daten des Nächsten, der, dessen eine Niere zu versagen drohte. Da war dringend eine Dialyse angesagt, aber in der nahe gelegenen Klinik waren schon alle Plätze belegt.

Und jetzt, grübelte Jens, nach unzähligen körperlichen Übergriffen und psychischer Gewalt, die oft weitaus mehr Wunden erzeugte? Nach seiner totalen Isolation? Keinen einzigen Freund hatte er mehr, alle hatten sich über die Jahre verabschiedet, auch weil er keinen Augenblick mit ihnen allein verbringen durfte. Seine Frau hatte ihn unter totaler Kontrolle, jeder Moment seines Lebens war überwacht.

Neulich hatte er in der Tageszeitung von familiären Gewalttaten gelesen. Der umfangreiche Beitrag zog sich über eine halbe Seite hin. Eigentlich hatte Grit das Blatt schon zum Altpapier gelegt. Er kam sowieso selten dazu, mal hineinzuschauen, auch konnte er sich nicht mehr wirklich konzentrieren, wenn er etwas las. Da aber hatte er nach aussortiertem Papier gesucht, um seine nassen Schuhe auszustopfen, damit es die Feuchtigkeit aufsaugte. Und so war ihm die Überschrift ins Auge gesprungen. Von einem speziellen, unauffälligen Hilferuf las er dort, der entwickelt worden war, um auf die eigene Situation aufmerksam zu machen. Wenn man gerade am Computer saß und im Internet war, aber nicht wollte, dass der Partner etwas mitbekam. Erst die Innenseite der flachen Hand zeigen, dann den Daumen in die Handinnenfläche beugen und schließlich die restlichen vier Finger über den Daumen legen. Jens machte das bei seiner Lektüre wieder und wieder. Es war ganz einfach.

Aber wen wollte er denn damit benachrichtigen, auf sich und seine vertrackte Lage hinweisen? Ihm fiel niemand mehr ein. Schwachsinn, tat er den Ratschlag in der Zeitung ab. Grit würde doch so etwas mitbekommen und dann würde sich alles für ihn noch verschlimmern. Er las dennoch weiter. Natürlich ging es wieder nur um Frauen, und die Bundesfamilienministerin wurde in diesem Zusammenhang zitiert. Dann musste er seine Auffassung revidieren. Ganz am Ende war auch eine spezielle Nummer für betroffene Männer angegeben. Ein kleines Anhängsel nur.

Er hatte sich dann diese Nummer in einem Kochbuch notiert, das sie nie zur Hand nahm. Und so unverfänglich gesplittet, dass sie nicht als Telefonnummer auffiel. In einer Notsituation sollte man dort rund um die Uhr anrufen können. Später wollte er die von dieser Helpline auf dem Milchkarton dort ergänzen. Eigentlich war er immer in Not, und wie sollte er diese Nummern betätigen, ohne dass es auffiel? Da müsste er sich ja ein separates Telefon zulegen. Es war einfach ausweglos. Ob sie ihn wohl eines Tages totschlagen würde? Dann hätte er endlich seine Ruhe.

Jens seufzte tief auf. Er lief in die Küche und setzte sich an den Tisch. Grit ließ eine Portion Bratkartoffeln auf seinen Teller gleiten. Dann nahm sie sich den Rest und stellte die Pfanne in die Spüle.

„Kannst du nachher machen. Jetzt lassen wir es uns erst einmal schmecken. Guten Appetit.“

„Danke, dir auch“, hauchte Jens und schob mit der Gabel eine aufgespießte Kartoffelscheibe über den Teller.

„Schmeckt dir wohl nicht oder hast du etwa keinen Hunger?“, kam die drohende Frage seiner Frau.

„Doch, doch“, beeilte sich Jens mit der Antwort und schob mehrere Bissen in seinen Mund.

„Nun schling nicht so, das sieht ja unappetitlich aus. Essen muss man genießen! Mach es einfach so wie ich“, sagte Grit und kaute überaus gründlich an einer kleinen Gabelportion, die sie anschließend herunterschluckte, bevor sie zu einem Glas mit Mineralwasser griff.

„Und nimm ein paar von den sauren Gürkchen. Ich habe das Glas extra für dich aufgemacht.“ Die Frau wies auf einen kleinen Teller in der Tischmitte. Sie war noch nicht am Ende ihrer Ausführungen angelangt, als Jens schon ein Stück ergriff und in den Mund steckte.

Grit zog sich nach dem Essen in ihren Bereich zurück, um sich mit ihren allerbesten Freundinnen per WhatsApp auszutauschen. Meist reichte ja ein witziges Foto oder ein originelles Video aus, das man weiterleitete. Viel an Kommentaren war gar nicht gefragt. Und eventuelle Fragen wurden eher selten beantwortet. Sie wischte auf ihrem Smartphone herum und kicherte zwischendurch.

Jens hatte sich daran gemacht, die Unordnung in der Küche zu beseitigen. Er wusste genau, dass Grit ihn hinterher überprüfen würde. Manchmal sogar mit Taschenlampe und einem weißen Stofftaschentuch, auf dem man garantiert jede Dreckspur erkannte. Gern nahm sie Fotos von den Stellen auf, die er übersehen hatte, um sie ihm hinterher zu präsentieren, meist mit Maulschellen ergänzt.

Ob ich mich vielleicht doch mal Till anvertraue?, überlegte Jens, während er das Geschirr abspülte. Sein Kollege hatte so eine positive, offene Ausstrahlung. Und zwischendurch hatte Till ihn schon kritisch angeschaut, als er mit immer wieder neue Verletzungen auf der Arbeit erschien.

„Alles in Ordnung bei dir?“, hatte er sich erst am Tag zuvor erkundigt. „Wenn du Sorgen hast, dann rede einfach mal drüber. Mitunter hilft das allein schon. Erleichtert auf jeden Fall. Wir könnten ja nach dem Dienst ein Bier zusammen trinken. Was hältst du davon?“

Jens hatte jetzt ein bitteres Lächeln im Gesicht, während er die Pfanne säuberte. Mit einem sanften Kratzschwamm, der auch für Gläser geeignet war. Nur nicht die Beschichtung des hochwertigen Teils beschädigen. Das wäre nur ein weiterer Auslöser für unberechenbare Gewaltattacken.

Ein Bier nach der Arbeit trinken, mit einem Kollegen! Selbst wenn sich das zeitlich einrichten ließ, weil Grit in Schichten arbeitete, blieb immer noch die hartnäckige Alkoholfahne. Er konnte ja schlecht plötzlich behaupten, abstinent zu sein, nachdem er schon öfter mal von einem Glas Bier oder Wein erzählt hatte, wenn im Kollegenkreis die Sprache auf Feiern kam. Und vielleicht würde Grit sogar die Erleichterung spüren, die ihm danach anzumerken wäre. Also keine gute Idee. Aber möglicherweise könnte er Till gegenüber doch mal etwas andeuten. Jens behielt diese Option im Hinterkopf.

Er suchte jetzt gründlich die Wände rund um den Herd ab, ob dort Spritzer zu entfernen waren. Da und dort schrubbte er und wischte trocken nach. Zuletzt kroch er auf dem Boden herum, um dort für Sauberkeit zu sorgen. Das Fett war wirklich an allen möglichen Stellen zu finden. Sogar an den Tischbeinen. Jens verzweifelte fast. Es schien ein Ding der Unmöglichkeit, die Spuren des vorherigen Ausrasters seiner Frau restlos zu beseitigen. Er saß auf dem Boden und hielt die Schultern gesenkt.

Schließlich erhob sich Jens und holte die Flasche Raumspray aus einem Küchenschrank. Er setzte einen feinen Sprühnebel in alle Richtungen. Die Essensgerüche wurden übertönt durch eine zitronige Anmutung. Jens schnüffelte mit seiner Nase. Immerhin besser als der Geruch nach dem erhitzten Fett und dem Gebratenen. Grit jedenfalls hatte für jeden Raum einen anderen Duft parat. Manche davon steckten in der Steckdose und entfalteten sich stoßweise in regelmäßigen Abständen. Auch die Polstermöbel musste er regelmäßig übersprühen, weil sie „nach altem Mann“ rochen, wie Grit abfällig bemerkte. „Wir brauchen etwas, das den Gestank neutralisiert!“

Bevor beide nach dem abendlichen Bad ins Bett gingen, präsentierte Grit eine Tablette und ein Glas mit Leitungswasser für Jens.

„Hier, nimm die mal. Ist eine Viagra. Ich bin extra zur Apotheke am anderen Ende der Stadt gefahren, wo mich keiner kennt. Offensichtlich bist du ja ohne die Dinger zu nichts mehr in der Lage, du Versager.“

Widerwillig griff Jens zu der Tablette und dem Glas, schob erst die Pille in den Mund und nahm dann einen großen Schluck hinterher. Er hasste Medikamente, die man schlucken musste, vor allem wenn sie so großformatig waren. Es blieb ihm immer ein bitterer Nachgeschmack im Mund und so ein Würgen, als wolle alles wieder hochkommen.

„Ich mach mich dann schon mal fertig“, sagte Grit noch und verschwand schon im Schlafzimmer.

Jens wusste, dass sie nun die schwarze Reizwäsche hervorholen würde, um sich darin zu verpacken. In der festen Überzeugung, das würde ihn antörnen. Inklusive Strumpfhalter und feiner Netzstrümpfe. Der Anblick würde ihm lediglich Angst einjagen. Jens fröstelte und rieb sich die Oberarme. Aber zugleich spürte er langsam die Wirkung der Pille. Ob er wollte oder nicht.

Mach einfach nachher die Augen zu und denke da­ran, was du in der nächsten Zeit erledigen willst, riet ihm seine innere Stimme. Blödsinn, meinte der gedankliche Gegenspieler, das ist doch wohl ein Ratschlag für Weiber. Denk an eine richtig geile Tussi, die scharf auf dich ist und dir jeden Wunsch von den Augen abliest. Dich von Kopf bis Fuß verwöhnt. Jens stöhnte leicht auf und öffnete die Schlafzimmertür. Grit lag entsprechend ausstaffiert und breitbeinig auf dem Bett. Eine Duftwolke von schwerem Parfüm quoll ihm entgegen.

4. Kapitel
Rente

Elizabeth hatte gerade eine weitere Tüte mit Müll in der Tonne entsorgt. Für ihre Wohnung im Hochparterre war ohnehin kein eigener Müllschlucker vorgesehen. Jeder Mieter dieser Etage musste seinen Abfall hinausbringen. Sie schob das etwas längliche, relativ großformatige Teil unter ein paar andere Säcke. Es war in einer blauen Plastiktüte verpackt und mit braunem Klebeband umhüllt. Die Hausmeisterin trug Handschuhe, wie meist bei der Arbeit.

Sie nahm hinter sich Geräusche wahr, drehte sich um und starrte in die Dunkelheit des Abends. Tatsächlich, da schob sich ein Pärchen in die Haustür hinein. Der Mann trug in einer Hand vorsichtig etwas vor sich her. Waren das nicht …? Elizabeth überlegte ein Weilchen und stemmte die Hände in ihre breiten Hüften. Während sie nachdachte, zogen sich ihre Mundwinkel nach unten, und die Stirn lag in ziemlich derben Falten.

Doch, fiel es ihr ein, die Tochter mit ihrem Mann, dem Schiegersohn von Severing aus der Etage über dem Pärchen, wegen dem schon gelegentlich mal die Polizei gerufen worden war. Sehr unangenehme Angelegenheit. Mit was für Pack man sich aber auch in so einem Haus rumschlagen musste. Selbst bis zu ihrer Wohnung ganz unten war der Krawall zu vernehmen, aber sie hätte sich gehütet, die 110 anzuwählen. Nur keine schlafenden Hunde wecken.

Komisch, dachte Elizabeth, den alten Severing habe ich ja ewig nicht mehr gesehen. Selbst in dem Alter muss man doch mal zwischendurch an die frische Luft. Na immerhin wurde ihm offensichtlich der Kuchen ins Haus geliefert. Ach was, schob sich ein nächster Gedanke hinterher, kümmere dich mal um deine eigenen Sorgen, davon hast du wahrlich genug. Außerdem kündete doch diese alberne weihnachtliche Beleuchtung in seinem Wohnzimmerfenster von seiner Anwesenheit. Alle Jahre wieder. Den Alten hätte man höchstens wegen übertriebenem Kitsch anzeigen können. Aber das war ja nun beileibe kein Grund.

Margitta zerrte ihren Mann hinter sich her.

„Kannst du dich nicht ein bisschen sputen? Soll schließlich keiner mitbekommen, was wir hier treiben.“

„Hab dich doch nicht so“, entgegnete Edward. „Wir schauen bei deinem alten Vater nach dem Rechten und kümmern uns um ihn. Wer soll denn dabei etwas finden? Und die Post müssen wir außerdem auch aus dem Kasten nehmen, sonst fliegt alles auf.“

Während Edward dies äußerte, hatte er schon den Briefkasten geöffnet und ein paar Schreiben entnommen. Dann verschloss er die Klappe wieder.

„Siehst du, wie ich es schon sagte“, hielt er seiner Frau die Sendungen triumphierend entgegen.

„Mist, verdammter“, fluchte Margitta, ohne darauf einzugehen. „Schon wieder ist der Fahrstuhl außer Betrieb. Ich hätte ihn jetzt wirklich gern genutzt, auch wenn es nicht so viele Stufen sind. Meine Knie sind ganz weich. Komm!“

Die beiden liefen im Treppenhaus, das nur dürftig beleuchtet war, nach oben. Keiner tauschte hier mehr die defekten Lampen aus. Die Hausmeister erhielten offensichtlich nicht mehr das geringste Budget für solche Reparaturen oder es war ihnen gleichgültig geworden. Das Objekt war eindeutig ein Auslaufmodell.

Etwas atemlos erreichten Margitta und Edward die Etage mit der Wohnung des alten Severing. Es war nicht die Höhe, die ihnen den Atem raubte.

„Hier“, hielt Margitta ihrem Mann den Schlüssel hin. „Schließ du mal bitte auf. Ich halte mir inzwischen den Schal vor die Nase.“

„Seit wann bist du denn so empfindlich? Das kenne ich doch sonst nicht von dir!“

Die Tür ging auf und beide schlüpften in die Wohnung, ohne viel von der inneren Luft in den Hausflur dringen zu lassen. Margitta stürzte durch die Räume in Richtung Wohnzimmerfenster und riss sie weit auf. Der weihnachtliche Kranz, der am Rahmen hing und in wechselnden schrill-bunten Farben auftrumpfte, geriet ins Wanken, aber sie hielt ihn noch rechtzeitig fest. Fast hätte sich seine Verbindung zur Steckdose mit der Zeitschaltuhr gelöst.

Währenddessen hatte es ihr Edward gleichgetan und das Fenster vom Schlafzimmer bis zum Anschlag geöffnet. Es zog heftig durch die Wohnung, und der intensive, unangenehme Geruch bewegte sich ins Freie.

Die Eheleute trafen sich, wie abgemacht, wieder im Wohnzimmer und schauten sich in die Augen. Das flackernde Licht der Weihnachtsdekoration ließ ihre Gesichter gespenstisch erscheinen.

„Prüfst du mal die Klebestellen?“, forderte Margitta ihren Mann auf. Der nickte nur tonlos und schlich zum Arbeitszimmer.

Sie hockte sich auf die vordere Kante des Sofas und ging die Post durch, die sie mit dem Zeigefinger grob aufriss. Das hätte Papa nie sehen dürfen, schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Wo er doch immer so penibel war, bis zuletzt! Die Frau strich glättend über das Papier. Der Brief­öffner? Lag im Arbeitszimmer, also keine gute Idee. Sie gab sich einen sichtbaren Ruck und saß jetzt kerzengrade. Dann stapelte sie die Schreiben auf die entsprechend vorsortierten Haufen. Wichtig war nur, dass keine eventuelle Mahnung übersehen und die Rente ordnungsgemäß aufs Konto überwiesen wurde. Zuletzt hielt Margitta ein mehrseitiges Schreiben der Rentenversicherung in der Hand, das eine baldige Rentenerhöhung versprach und alles detailliert auflistete. Sie seufzte erleichtert auf. So ein Segen aber auch …

„Alles in Ordnung. Ich musste nichts nachbessern“, sagte Edward und ließ sich ebenfalls aufs Sofa sinken. Er hatte sich aus der Küche eine Flasche Cognac mitgebracht und schenkte beiden in die Kristallgläser ein, die er in der anderen Hand gehalten hatte. Die stammten noch aus Mutters Zeiten, die schon lange vor ihrem Mann verstorben war. Das Kuchenpaket hatte er geöffnet. Drei verschiedene Stücke lagen darin.

„Na dann, zum Wohl!“

Margitta ergriff ihr Glas und prostete Edward leicht zu. Sie war nicht wirklich bei der Sache.

„Ich weiß nicht, wie lange wir das hier noch durchhalten können. Aber schau mal, bald gibt es wieder etwas mehr Rente!“

Sie hielt Edward das Schreiben hin, der ein Bein ausstreckte und zunächst auf den Bodenschalter der Stehlampe trat.

„Ich kann sonst nichts erkennen. Vor allem nicht bei dem dämlichen Geflacker! Da bekommt man nur Kopfschmerzen von. Ich verstehe gar nicht, warum du auf dieses schrecklich kitschige Teil bestanden hast.“

„Aber die Deko hatten die beiden doch schon so lange. Ich wollte einfach eine geliebte Tradition bewahren. Es sieht irgendwie aus wie früher.“

„Schon gut“, beschwichtigte Edward und blickte auf die Zahlen im Schreiben der Rentenversicherung. Nebenher langte er nach dem ersten Kuchenstück, um es zu verzehren.

„Junge, Junge, da kann unsereins nicht mithalten“, sagte er, als er den ersten Bissen hinuntergeschluckt hatte. „Womit haben die Alten eigentlich diese horrenden Renten verdient. Doch wohl kaum mit ehrlicher Arbeit. Und dann noch Jahr um Jahr eine Erhöhung, immer angepasst an die gesamte Lohnentwicklung im Lande, wie es offiziell heißt. Da kriege ich einfach einen dicken Hals. Weder du noch ich haben in der zurückliegenden Zeit mal mehr Lohn bekommen. Ganz im Gegenteil. Mir haben sie sogar das Urlaubs- und Weihnachtsgeld gestrichen, weil es dem Unternehmen angeblich so schlecht geht und man ja unbedingt unsere Arbeitsplätze erhalten will! Dabei schaufeln die sich in den Chefetagen immer mehr Geld in ihre Taschen. Ich könnte platzen vor Wut.“

„Sei nicht ungerecht“, fiel ihm Margitta ins Wort. „Papa war immer fleißig …“

„… und hat sich bis zu seinem 55. Lebensjahr abgeschuftet, ehe er gepflegt in Vorruhestand ging. Dass ich nicht lache“, empörte sich Edward.

Margitta standen Tränen in den Augen.

„Tut mir leid, Liebes, ich habe das nicht so gemeint. Er ist ja auch abgewickelt worden, wofür er nun wiederum überhaupt nichts konnte! Und immerhin tut dein alter Herr ja im Nachhinein etwas Gutes für uns. Wenn auch ziemlich unfreiwillig.“

Beide schwiegen einen Moment. Der Mann verzehrte jetzt das zweite Kuchenstück.

„Mich haben ja deine Eltern nie wirklich gemocht“, fuhr Edward schließlich fort.

„Ach, Eddi, so ist das nun mal mit Schwiegerverhältnissen. Deinen Eltern war ich doch auch nicht recht. Das haben sie mich deutlich spüren lassen. Eine Fischverkäuferin war einfach unter ihrem Niveau.“

„Stimmt auch wieder. Aber die Sorgen mit ihnen sind wir ja los, jetzt wo wir beide Vollwaisen sind … Ich stehe übrigens auf Fischverkäuferinnen. Kabeljau, sage ich nur. Paniert, dazu Sauce hollandaise und frische Kartoffeln. Es gibt nichts, was besser schmeckt. Und Fisch riecht nach See und Meer, einfach wunderbar, so wie du. Ich liebe dich.“

Edward nahm Margitta in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. Sie wirkte etwas unwillig, aber zugleich gerührt.

„Was du nicht sagst. Kabeljau habe ich noch im Froster. Den könnte ich morgen machen.“

Die Frau lenkte das Gespräch auf einen neutralen Boden.

„Unbedingt!“

Das kam wie aus der Pistole geschossen. Edward leckte sich die Lippen und strahlte.

Margitta löste sich aus der Umarmung.

„Kannst du dich noch an die Geschichte mit dem Getreidesilo erinnern, die Papa immer erzählt hat?“

Edward nickte.

„Bis ins kleinste Detail! Kannst mich ruhig abfragen.“

„Ach, das meine ich nicht. Aber es muss doch furchtbar für ihn gewesen sein, als er damals diesen Auftrag bei der Hühnermastanlage erledigen musste und die anderen sich schon in den Feierabend verabschiedet hatten, er aber unbedingt den Rest aus dem Farbeimer verstreichen wollte, weil er doch immer so umsichtig war und nichts umkommen lassen konnte. Der Bodensatz wäre ja vielleicht eingetrocknet …“

„… ja, und dann kippte seine Leiter, und er stürzte kopfüber in den Getreidesilo mit dem Weizen für die Tiere“, fuhr Edward nachdenklich fort.

„Und wäre nicht sein Kollege noch einmal zurückgekommen, weil er etwas vergessen hatte, dann wäre das sein Ende gewesen“, ergänzte Margitta die Familiengeschichte. „Nur mit vereinten Kräften konnten sie ihn gerade noch retten. Er wäre sonst erstickt.“

„Ich stelle mir das schrecklich vor, einfach so in dem Zeug zu versinken. Da brüllst du dir die Seele aus dem Leib, und es gibt keine Hoffnung auf Hilfe“, antwortete jetzt Edward mit ernster Stimme.

„Weißt du, Eddi, aber lach mich nicht aus, wenn ich das jetzt sage …“

„Versprochen!“

„Ich muss immer an seine Klaustrophobie denken, die sich dadurch bei ihm entwickelt hatte. Fahrstühle waren für ihn die Hölle, ein absolutes Tabu, deshalb ist er ja auch hier so tief unten eingezogen … Und bei dem MRT, das er noch zuletzt hatte, ist er bald durchgedreht, als sie ihn in diese Röhre geschoben haben. Da hat er schon nach nicht mal einer halben Minute den Notknopf gedrückt, und weil sie ihn für einen Hypochonder hielten und nicht schnell genug befreit haben, ist er im Liegen rausgekrochen. Gelenkig war er ja, selbst noch in seinem Alter.“

„Worauf willst du denn hinaus?“, wollte Edward wissen.

„Du hast versprochen, nicht zu lachen!“

Margitta blickte ihrem Mann direkt in die Augen.

Edward nickte.

„Ich denke oft daran, dass er mit dieser Enge, der er jetzt ausgesetzt ist, überhaupt nicht klarkommen würde. Immer nur eingesperrt in diesem kleinen Raum!“

„Aber er ist doch tot. Und später im Sarg ist es ja noch beengter.“

Edward blickte verständnislos auf seine Frau. Nach Lachen war ihm überhaupt nicht zumute.

„Willst du nicht wenigstens das dritte Stück essen?“, erkundigte er sich. „Eigentlich kann ich nicht mehr. Ich glaube, mein Sodbrennen setzt mal wieder ein.“

„Auf keinen Fall“, antwortete Margitta, während sie sich schüttelte. Dann legte sie ihren Kopf etwas schräg. Ihr ursprüngliches Thema war noch nicht beendet.

„Weißt du genau, ob er nicht doch noch etwas empfindet? Es gibt ja in dieser Hinsicht auch andere Auffassungen. Vielleicht ist seine Seele gefangen in dem Zimmer und ängstigt sich.“

„Das ist jetzt aber ziemlich gruselig“, schüttelte sich der Mann, legte seiner Frau einen Arm um die Schultern und zog sie an sich heran.

„Dann lass uns mal langsam den Heimweg antreten. Ich glaube, es ist genug gelüftet. Mir wird schon ganz kalt. Da hilft auch der Schnaps nicht wirklich“, wechselte die Frau das Thema und erhob sich.

„Außerdem müssen wir sowieso hier bald wieder aufschlagen“, sagte Edward, der hoffte, das Kuscheln bei sich zu Hause in aller Ruhe fortsetzen zu können.

„Hoffentlich bleibt das noch ein Weilchen so mit dieser Situation“, hauchte Margitta vor sich hin, als die beiden die Wohnung verließen. Ihr Mann vernahm das nicht oder wollte es auch nicht hören.

Im Freien blickten sie noch einmal nach oben und sahen den da und dort sehr festlich erleuchteten Strang der bewohnten Seite. Aus der Wohnung des Vaters kündete der flackernde Kranz, der von Rot über Blau nach Gelb wechselte, von seiner weihnachtlichen Botschaft, inmitten der zumindest vom Efeu immer noch begrünten Ranken. Ein wildes Dickicht, das dekorativ in die Etagen darunter und weit in die Höhe darüber reichte.

Margitta rutschte im Auto in den Sitz hinein, nachdem sie sich angeschnallt hatte, und schloss die Augen. Während Edward das Fahrzeug sicher durch die Nacht lenkte, hing sie ihren Gedanken nach. Was sollten sie nur tun, wenn der Vater tatsächlich – so wie angedroht – aus der Wohnung musste? Bei allem Grübeln fiel ihr einfach keine vernünftige Lösung ein. Sie hatten sich in eine ausweglose Situation hineinmanö­vriert.

Sie hatten Margittas Vater vor vielen Wochen im Wohnzimmer auf dem Boden vorgefunden. Es war einer der üblichen Wochentage, an dem sie immer zu Besuch kamen, um gemeinsam einen Kaffee zu trinken und den mitgebrachten Kuchen zu essen. Aber auf ihr Klingeln hin gab es keine Reaktion. Und dann hatten sie nicht einmal den Wohnungsschlüssel dabei.

2,42 €