Kafir

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Amed Sherwan, geboren 1998, ist der jüngste Mensch, der in Irakisch-Kurdistan wegen Gotteslästerung inhaftiert und gefoltert worden ist. Er lebt seit 2014 in einer norddeutschen Kleinstadt und betätigt sich heute als Blogger und Aktivist.

Katrine Hoop ist Kriminologin, Kommunikationsreferentin und Kulturschaffende. Sie ist zweisprachig aufgewachsen und gehört zur dänisch-friesischen Minderheit in Schleswig-Holstein.

Amed Sherwan

mit Katrine Hoop

KĀFIR

Allah sei Dank bin ich Atheist



Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a

D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus 2020

Originalveröffentlichung

Erstausgabe September 2020

Umschlaggestaltung:

Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

Titelfoto: Gönna Ketels

Porträts Seite 2:

Florian Chefai, Amed Sherwan

ePub ISBN 978-3-96054-239-1

»Warum ist eine Propaganda, die an den Hass appelliert, so ungleich erfolgreicher als irgendein Versuch, freundschaftliche Gefühle zu erwecken?«

Bertrand Russell in Eroberung des Glücks

Dieses Buch ist den vielen Menschen auf meinem Weg gewidmet: Denen, die mir geholfen und mich ausgehalten haben, ebenso wie jenen, die mich verletzt haben oder an mir verzweifelt sind.

Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und realen Handlungen sind beabsichtigt und keinesfalls zufällig. Vieles ist verändert, aber nichts erfunden.

Inhalt

DER ANFANG

AHMED

DAS GEMÄLDE

DIE SCHILDKRÖTE

DER STAUB

DER KRIEG

DER KREISLAUF

DIE KATZE

DER TOD

DIE PRÜFUNG

DER URIN

DIE BERGE

DAS KIND

DIE PINGELIGKEIT

DAS GRAUEN

DAS LEBEN

DAS GESCHÄFT

DER KOPFSCHMERZ

DIE LIEBENDEN

DER DJINN

DIE ALBTRÄUME

DER IMAM

DIE DIAGNOSE

DIE FRATZE

DIE INTEGRATION

DER COUSIN

DIE JUNGFRÄULICHKEIT

DIE ERKENNTNIS

DER HUMOR

DIE BESTIMMUNG

DER KORAN

DAS GESPRÄCH

DAS DRAMA

DER TANZ

DER FRIEDHOF

DIE PISTOLE

DIE PARTY

DER MURTADD

DIE TRENNUNG

DIE BESUCHE

DIE WÖRTER

AMED

DER RÜCKBLICK

DER KAMPF

DAS LIED

DER ABSCHIED

DER PHILOSOPH

DIE FLUCHT

DAS REISEN

DIE ANKUNFT

DIE KOPFHÖRER

DIE WOHNGRUPPE

DER KÖDER

DAS KINDERHEIM

DER BETREUER

DIE EINSAMKEIT

DER FOTOGRAF

DIE STRASSE

DIE ZIELE

ACHIM

DER ALIEN

DIE ANNÄHERUNG

DER REICHTUM

DIE GRENZE

DER FLUCHTGRUND

DIE FAHNDUNG

DER DAESH

DAS INTERVIEW

DIE ANERKENNUNG

DIE PERSPEKTIVE

DIE FRAGE

DIE ASYMMETRIE

DIE KULTURTASCHE

DIE SACHBEARBEITERIN

DIE HANDSCHELLEN

DER ARTIKEL

DER AKTIVIST

DIE IRONIE

DER FLÜCHTENDE

DIE ISLAMKRITIKERIN

DER QUOTENKANAKE

DER BALANCEAKT

DER DOLMETSCHER

DIE ÜBERRASCHUNG

DAS T-SHIRT

DER VATER

 

DIE HEIMAT

DER HINTERN

DIE ARCHAISIERUNG

DIE VIELFALT

DIE GENERATIONEN

DIE POLIZEI

DIE GOTTESKRIEGER

DIE HABIBIS

DAS ACHSELZUCKEN

DER ZWILLING

DER ISLAM

DIE BÜCHER

DER SPASS

TAQĪYA

DAS FLÜCHTLINGSGESICHT

DIE SPERREN

DIE KOPFTUCHMÄDCHEN

DIE MEINUNGSFREIHEIT

DER TERROR

DIE ELTERN

DER VERHÖRER

DIE LIEBE

DER FRISEUR

DER RAT

DAS HEIMWEH

DER AUFPRALL

DAS GLÜCK

DAS SCHLUSSWORT

Danksagung

DER ANFANG

»Kopfsteinpflaster«, schießt es mir durch den Kopf, als eben dieser mit voller Wucht auf die Straße knallt. Ich habe meine Freundin mal gefragt, warum das so heißt, sie hat die Antwort nachschlagen müssen.

Nun liegt mein Kopf auf dem harten Pflasterstein, während Schläge und Tritte auf mich einprasseln, und ich habe keine Ahnung, ob mich ein Islamist deswegen von hinten umgetreten hat, weil ich seinen Gott beleidigt habe, oder ein Rassist sich an meinem Flüchtlingsgesicht gestört hat.

Als eine Polizistin mich wenige Minuten später fragt, wie es zu diesem Vorfall gekommen ist, ist meine Sicht zwar noch leicht vernebelt, die Situation aber inzwischen klar. Und so fasse ich die relevanten Lebensereignisse routiniert zusammen.

Manchmal wirken meine Erinnerungen auf mich so fremd, als seien sie gar nicht meine. Ich habe Teile meiner Geschichte schon so oft erzählt, dass sie sich anfühlen wie Textdateien in meinem Kopf, die ich rausholen und vortragen kann, wenn mich jemand danach fragt.

Fragmente meiner Kindheitserlebnisse erzähle ich wie unterhaltsame Anekdoten, die ich irgendwo aufgeschnappt habe. Berichte aus einer anderen Welt. Und trotzdem gibt es keinen Tag, an dem ich nicht daran erinnert werde, wie alles damals vor 21 Jahren in Kurdistan angefangen hat.

AHMED

»Allahu akbar, Gott ist groß.« Meine Mutter wurde nicht müde zu betonen, dass es ein Wunder Gottes sei, dass ich das Licht der Welt überhaupt erblickt hatte.

Während die Geburten meiner Geschwister völlig unkompliziert verliefen, ging bei mir alles schief. Schon die Schwangerschaft war anstrengend und die Geburt schmerzhaft. Und als mein Körper dann endlich rauskam, war er leblos. Die Ärzte erklärten mich zum Entsetzen meiner Mutter für tot. Doch entgegen der ersten Prognosen war es nach langen, bangen Minuten gelungen, mich wieder zum Leben zu erwecken. Nach einigen Tagen konnte sie mich mit nach Hause nehmen, Ahmed, das dritte Kind der Familie.

»Alhamdulillah, gelobt sei Gott«, erklärte sie und schaute mich mit ihren ernsten braunen Augen besorgt an.

Möglicherweise hatte dieses Wunder des wiedergeborenen Sohnes ihre Religiosität erst wirklich entfacht. Denn wenn ich die Schachtel mit den Familienbildern rauskramte, entdeckte ich auf den Fotos eine Frau, die keine Ähnlichkeit hatte mit der strenggläubigen Muslimin, die ich als meine Mutter kannte.

Auf den Fotos sah ich eine lachende junge Frau ohne Kopftuch. Sie hatte meinen Vater ganz dreist aus Liebe und ohne Einwilligung ihrer Eltern geheiratet, hatte sie mir mal mit schelmischem Blick erzählt.

Rebellisch kam mir meine Mutter überhaupt nicht vor. Ich sah sie den ganzen Tag im Haushalt arbeiten, während die Fernsehprediger von Makkah Live vom Bildschirm auf sie einredeten. Sie ließ kein Gebet ausfallen, verhüllte ihre Haare in Anwesenheit aller anderen Männer außer meinem Vater und ging nie ohne den langen Mantel aus dem Haus. Und Irakisch-Kurdistan hatte sie bisher nur für die Haddsch verlassen.

Bei Entscheidungen ordnete sie sich meinem Vater fast immer unter. Nur wenn er uns Kindern gegenüber zu streng auftrat, blitzte Trotz in ihren Augen auf. Niemand sollte ihren Kindern etwas zuleide tun. Sie nahm mich immer in Schutz und ich dankte es ihr, indem ich ihr im Haushalt zur Hand ging.

»Du musst das nicht tun, Kúřim, mein Sohn, das kann deine Schwester machen«, sagte meine Mutter oft, wenn ich ihr das Gemüse klein schnitt oder beim Putzen half.

»Daya, ich mache das gern«, antwortete ich dann immer, und es stimmte.

Ich hatte keine Geduld, stundenlang für die Schule zu lernen wie mein älterer Bruder und verlor schnell den Spaß an den Spielen meiner großen Schwester und meines kleinen Bruders. Ich war am liebsten in Bewegung und fragte meine Eltern ständig nach Aufgaben.

Ich putzte gern und ich genoss es, meiner Mutter beim Kochen zuzugucken. Meine Mutter machte die besten Dolma der Stadt. Wir höhlten das Gemüse aus, schnitten das Fruchtfleisch klein und mischten es mit Reis, um die Mischung anschließend in die ausgehöhlten Teile oder Weinblätter zu füllen.

»Ist es so genug oder soll ich noch mehr Reis einfüllen?«, fragte ich und zeigte meiner Mutter mein Werk.

»Das sieht gut aus. Aber du musst es nicht lernen. Deine Frau wird später für dich kochen«, sagte meine Mutter, während sie die befüllten Gemüseteile und Weinblätter mit routinierten Handgriffen zum Garen in den Topf legte. Viele Jahre später war ich froh darüber, dass ich mir meine Leibgerichte selber kochen konnte.

DAS GEMÄLDE

»Ich war letztens bei zwei Syrern zum Essen eingeladen und die haben mir tatsächlich Spaghetti mit Tomatensoße gemacht«, erzählt mir meine Nachbarin, die Studentin, entsetzt. »Ich dachte, die orientalische Küche sei so besonders.«

»Das Kochen ist den Arabern genauso wenig in die Wiege gelegt wie den Franzosen. Die beiden haben vermutlich kein einziges Mal eine Küche von innen gesehen, bevor sie flüchten mussten.«

»Aber du kochst gut!«, sagt sie und nimmt sich noch etwas. Wir essen europäisch, am Tisch mit Besteck und strikt getrennten Tellern. Und ich bezweifle, dass ihr ein echtes orientalisches Essen gefallen würde, wo jemand sich einfach etwas von ihrem Essen nehmen oder ihr etwas hinzupacken könnte.

»Danke, aber das Tofugericht, das du gerade isst, ist kein kurdisches Nationalgericht«, entgegne ich leicht schnippisch. Ich bin es gewohnt, dass Leute mit mir über orientalische Kultur reden wollen. Dabei bin ich kein wirklich repräsentatives Exemplar meiner Art.

»Das kurdische Essen ist in Syrien viel besser als im Irak«, wirft mein Freund, der Künstler, ein. Er hat halblanges braunes Haar und einen Bart und sieht aus wie ein kubanischer Freiheitskämpfer. Er trägt indische Hemden, schwärmt für tschechische Literatur und italienische Filme. Aber wenn es um Kurdistan geht, ist er sehr heimatverbunden.

»Mach doch mal Musik an«, fordert er mich auf. Wir sitzen zu dritt in meiner Wohnung. Während viele meiner Freunde noch in Mehrbettzimmern in Unterkünften wohnen, habe ich eine eigene Wohnung. Eine wirklich schöne sogar, mit einer kleinen Küche und einem schönen Balkon. Ganz anders als die Bruchbuden, die einige Freunde angemietet haben. Sie haben viel Geld für die Vermittlung von Wohnungen bezahlt, in denen einem der Schimmelgeruch schon beim Betreten der Wohnung entgegenschlägt. Mit Verzweiflung lässt sich offenbar gut Geld machen.

Ich verbinde mein Telefon mit einer Bluetoothbox und wähle einen zufälligen Mix mit Popmusik auf YouTube. »Warum hörst du nie Musik aus Kurdistan?«, fragt der Künstler. »Es gibt so schöne kurdische Musik.«

Ich stöhne. »Ganz ehrlich? Ich bin nicht geflüchtet, um mir das Gedudel auch hier noch anhören zu müssen. Ich habe schon als Kind lieber koreanische Popmusik gehört«, sage ich und räume die Teller vom Tisch, während ich Oppa Gangnam Style singe.

»Na, ob das besser ist?«, kichert die Studentin.

Ich verschwinde schnell mit den Tellern in die Küche, schneide ein paar Limetten und mache drei Gläser mit Minz-Limetten-Limo und gehe wieder in das Wohnzimmer, wo die beiden sich unterhalten.

»Hast du die Revolution in Rojava miterlebt?«, fragt die Studentin. »Ist sie wirklich so toll?«

»Natürlich ist nach der Revolution nicht alles sofort gut gewesen, aber alles besser. Es hat uns wirklich Mut gemacht. Aber nun habe ich keine Hoffnung mehr. Wir haben die Welt vor dem Daesh geschützt und als Dank hat sie tatenlos zugeschaut, wie die Türkei mit deutschen Panzern in meine Stadt eingefallen ist und einen Großteil der Bevölkerung vertrieben hat. In meinem Haus wohnt nun ein arabischer Islamist, der ein kurdisches Mädchen mit Gewaltandrohung zu seiner Frau gemacht hat.«

»Hast du noch Familie in Syrien?«

»Ja, meine Oma lebt noch dort. Sie ist alt und möchte in ihrer Heimat sterben«, der Künstler holt seinen Tabak raus und dreht sich eine Zigarette. »Aber eigentlich gibt es diese Heimat gar nicht mehr. Ich bin heimatlos.«

»Erdoğan nennt seinen Einmarsch übrigens einen Erfolg gegen die Ungläubigen«, sage ich. »Genau wie Saddam seinen Genozid an den Kurden im Irak einen Krieg gegen die Ungläubigen genannt hat.«

»Tja, die Unterwerfung unter den Islam hat Kurdistan keine Sicherheit gebracht«, meint der Künstler.

Der Künstler ist sehr schlau und sehr traurig. Vermutlich macht die Welt einen umso trauriger, je besser man sie versteht. Er steht auf, geht auf den Balkon und raucht seine Zigarette. Wir schauen ihm nach. Der Wind bläst seine braunen Haare aus dem Gesicht. Durch das Fenster betrachtet sieht er aus wie eins seiner eigenen Gemälde, voller Trauer und Verzweiflung, genau wie die Musik, die er so mag.

»Und wie ist die Situation in deiner Heimat, im irakischen Teil?«, fragt die Studentin mich.

»Da ist es ganz anders. Der kurdische Teil Iraks hat seit Saddams Niederlage weitgehende Selbstständigkeit. Ich komme aus Hewlêr, also Erbil, der Hauptstadt der Autonomieregion. Meine ganze Familie lebt noch da.«

DIE SCHILDKRÖTE

Die Erinnerungen an meine frühe Kindheit sind bruchstückhaft. Aber ich weiß noch, dass wir an einer Straßenecke wohnten, ganz nahe beim alten Basar und der uralten Zitadelle.

»Die älteste Stadt der Welt«, erzählte mein Vater mir stolz, wenn er mit mir durch die alte Festung im Stadtkern spazierte.

Wenige Schritte von unserem Zuhause lag der Salon des Friseurs, der meinem Vater, meinen Brüdern und mir die Haare schnitt und Neuigkeiten aus der Stadt erzählte. Ein paar Meter in die andere Richtung befand sich ein kleiner Laden, in dem wir Kinder uns manchmal Eis holten. Und an Freitagen mussten wir nicht weit gehen, um zu dem großen Tiermarkt der Stadt zu kommen. Da gab es Hühner, Puten und Gänse zu kaufen, aber auch wunderschöne bunte Vögel in Käfigen und Raubvögel, die auf Stangen angebunden waren. Manchmal konnte ich da auch Eichhörnchen, Füchse und sogar Affen bewundern. Und es gab Becken mit glitzernden Goldfischen, die man im Beutel oder Glas mit nach Hause nehmen konnte.

 

Ich liebte die Tiere und bettelte so lange, bis mein Vater mir eines Tages erlaubte, mir eine kleine Schildkröte auszusuchen, die ich den ganzen Weg zurück nach Hause stolz in meinen Händen trug.

Von der Straße vor unserem Zuhause ging es in den kleinen quadratischen Innenhof. Rechts vom Eingang war ein kleiner Garten. Weiter hinten lag ein Toilettenschuppen mit einer Stehtoilette voller Kakerlaken und einer kleinen Kanne mit Wasser zum Waschen und Spülen. Ich versuchte immer ein paar der vielen Schaben mit wegzuspülen. Aber sie krochen ständig wieder aus dem Loch hervor. Ich ekelte mich vor ihnen und weigerte mich, nachts im Dunkeln auf die Toilette zu gehen. Deswegen bekam ich von meiner Mutter eine Flasche ans Bett, in die ich stattdessen pinkeln konnte.

Unser Wohnhaus lag in der linken Ecke des Innenhofs. Ich erinnere mich an die sandfarbenen Mauersteine an den Außenwänden und daran, wie der Putz daraus bröckelte. Auf der einen Seite des Hauses rankte eine Grünpflanze und davor schwirrten immer Bienen, die manchmal so träge waren, dass ich sie mit einem Glas einfangen und darin untersuchen konnte, bevor ich sie wieder freiließ.

Im Haus gab es einen Waschraum und zwei Zimmer. In dem einen schliefen meine Eltern, in dem anderen wir Kinder. Abends holte meine Mutter die Unterlagen, Kissen und Bettdecken aus dem Schrank und richtete unsere Schlafstätten für uns ein.

Vor dem Haus war die Kochecke unter einer Überdachung. Außen am Haus führte eine Treppe auf das Dach. Oben befanden sich ein großer Wassertank und eine kleine Dachterrasse, von der ich die Welt überblicken konnte, in der sich fast meine ganze frühe Kindheit abspielte.

Nur manchmal nahm mein Vater mich den langen Weg in die Werkstatt mit, in der er damals arbeitete. Ich liebte es, war meinem Vater aber oft mehr im Weg als zur Hilfe. Ich ließ mich zu leicht ablenken, um ihm sein Werkzeug zuverlässig zu reichen, hatte keinen Spaß daran, ihm nur beim Schrauben zuzugucken, und stellte mich zu ungeschickt an, um selber mit an den Autos zu hantieren.

»Willst du dir nicht Falafel holen gehen«, schickte mein Vater mich meistens nach kurzer Zeit weg. Dann spazierte ich stolz die wenigen Schritte zum Imbiss, schaute zu, wie der Händler den Teig zu kleinen Bällen formte und frittierte, nahm die fertige Brotrolle entgegen und stapfte damit zurück. Ich aß meine Mahlzeit in einer Ecke der Werkstatt und bemühte mich, ruhig zu warten, sprang aber meistens schnell wieder auf und hampelte rastlos um meinen Vater herum, bis er mich nach Hause bringen konnte.

Meiner Mutter machte es nichts aus, wenn ich versehentlich etwas umstieß, laut jauchzte oder mitten in einem Arbeitsschritt plötzlich vergaß, was ich machen wollte, weil ein Schmetterling vorbeiflog oder ein Vogel auf dem Strauch im Garten landete. Das Arbeiten im Haushalt wurde deshalb zu meinem liebsten Hobby. Ich goss Pflanzen im Garten, fegte den Innenhof und half beim Waschen und Trocknen der Wäsche auf dem Dach unseres Wohnhauses.

Eines Tages kam mein älterer Cousin vorbei, als ich gerade einen Teppich auf dem Dach bearbeitete, und bot mir seine Hilfe an. Wir kippten gemeinsam Seifenwasser über den Teppich, schrubbten die Fasern und spülten die Lauge mit einem Gartenschlauch ab. Mein Cousin war gewissenhaft am Schrubben, während ich den Schlauch führte. Ich nahm ihn hoch, um meinen Cousin nasszuspritzen, und rutschte dabei so heftig auf der Seifenlauge aus, dass ich kopfüber auf das Dach knallte. Was genau danach passierte, weiß ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich noch an meine aufgeplatzte Lippe und daran, dass ich ein paar Tage eine Bandage um den Kopf tragen musste und mein Cousin sich darüber lustig machte.

Ich tröstete mich im Garten mit meiner Schildkröte und strich ihr fasziniert über ihren harten Panzer. Dabei verlor ich sie kurz aus den Augen und fand sie nie wieder, doch die Beule über meiner rechten Augenbraue blieb.

DER STAUB

Der Künstler sieht noch immer traurig aus, als er die Balkontür aufmacht und sich wieder setzt.

»Ich mag Irakisch-Kurdistan sehr«, sagt er. »Aber ich hätte mir nie vorgestellt, dass Kurden so altmodisch sein können. Für uns in Syrien war die Autonomieregion immer das Gelobte Land. Aber als wir dahin flüchten mussten, war es wie eine Reise in die Vergangenheit. Das war fast wie im Mittelalter gegen das Leben in den Städten Syriens.«

»Ja, zumindest in Hewlêr«, stimme ich ihm zu.

»In Silêmanî ist es etwas moderner, studentischer, da gibt es viel Kunst und Kultur. Und es ist die Stadt der Eselpartei«, erinnert der Künstler.

Wir lachen beide laut auf. »Oh, die hatte ich fast vergessen«, sage ich.

»Die Partei hat sich für Esel eingesetzt, weil Esel die einzigen waren, die den kurdischen Freiheitskampf aktiv und uneigennützig unterstützt haben. Das Manifest der Partei war sehr lustig. Bei Parteitagen durfte man die Türen nur mit einem Eselstritt öffnen und das Parteilied lautete ›Ihhh-Ahhh‹.«

»Eigentlich erstaunlich, dass die sich so viel Satire erlauben konnten«, werfe ich ein.

»Naja, Spaß ist auch in Irakisch-Kurdistan erlaubt.«

»Jaja, solange man Familie, Glaube und Sexualmoral ausklammert«, sage ich zynisch. »Ein falscher Witz und du bist tot.«

»Was willst du damit auch erreichen? Als ich so jung war wie du, dachte ich auch, dass Provokationen wirken. Aber nun bin ich erwachsen und sehe es realistischer.«

»Na, wohl eher fatalistischer. Willst du die Ewiggestrigen einfach duldsam aushalten? In Kurdistan hat sich die erste Hochkultur der Menschheitsgeschichte entwickelt. Und seither geht es gefühlt stetig bergab. Vielleicht sollte man die Leute da sogar eher Neugestrige nennen? Gibt es so ein Wort?«

»Nein, das gibt es bisher nicht, glaube ich. Aber es passt gerade auch zu vielen Menschen in Deutschland«, sagt die Studentin.

»Im Moment ist Irakisch-Kurdistan ja zumindest ziemlich sicher, nur etwas altmodisch«, sagt der Künstler.

»Hewlêr ist ja auch eine der am längsten durchgehend bewohnten Städte der Welt, da haftet halt der Staub alter Zeiten an den Gemäuern.«

»Ja, staubig ist es da auf jeden Fall in mehrfacher Hinsicht.«