Alvine Hoheloh

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Alvine Hoheloh
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Impressum

Das Buch:

Die Autorin:

Übersicht: Alvines Beziehungen

Enthemmungen

Das Erbe

Soldaten

Verlobung

Streit

Reiz

Der letzte Frühling

Urlaub

Krieg

Briefe

Die Schützengräben

Heimaturlaub

Schmuck

Steckrüben

Weihnachten

Kinder

Leutnant

Lange her

Zerstörung

Gefangene

Gefangenschaft

Quentins Absicht

Neue Welt

Am Ende einer Freundschaft

Gallustinte

Brautschau

Epilog

Danksagungen

(Content Notes)

Trivia

Impressum neobooks

Amalia Frey

Alvine Hoheloh, Unternehmerin

Ein historischer Liebesroman

Impressum

©2022 Amalia Frey

kakaobuttermandel.de, amalia.frey@gmx.de

c/o Amalia Frey

Der Kleinste Buchladen

Reinsberger Dorf

Am Weinberg 1

99938 Plaue

1. Auflage 2022

Lektorat: Juliet May

Korrektorat: Gudrun Enny Altmann

Sensitivity Leserin: Melisa Naomi Harnisch

Buchsatz: Amalia Frey

Coverfoto: Handelslizenz via Adobe

Coverdesign: Mika M. Krüger

ISBN: 978-3-7541-8369-4

Das Buch:

Mitteleuropa 1914:

Zeit der politischen und gesellschaftlichen Umbrüche. Monarchie und Demokratie. Reich und Arm. Tradition gegen Freigeist. Zweckbündnisse jedoch müssen halten – bis zum bitteren Ende.

Alvine Fürstenberg, geborene Hoheloh, könnte eine anständige Frau bleiben oder eine glückliche Ehe führen. Sie könnte ihren Gatten Theodor in seinen Talenten bestärken oder ihren pazifistischen Ansichten treu bleiben. Sie sollte sich von dem gewandten Quentin fernhalten, muss jedoch ihre Freundin Emmi retten.

Vor allem will sie ihr Unternehmen adäquat und ihren Angestellten zugewandt leiten. Alvine will alles.

Doch dann beginnt der Kontinentalkrieg.

Hinweise zu sensiblen Inhalten (Content Notes) befinden sich auf den letzten Seiten des Buches und in ständig aktualisierter Form unter https://www.kakaobuttermandel.de/.

Die Autorin:

Als Mittzwanzigerin rang sich Amalia Frey endlich dazu durch, jene historische Romanreihe zu schreiben, die ihr seit Ewigkeiten im Kopf herumspukte.

Sie hat kein Geschichtsstudium genossen, keinerlei entsprechenden Kontakte oder Vitamin B. Sie musste zu recherchieren lernen, selbst herausfinden, wie sie am besten durch Archive walzte oder wie sie, welche Fragen am Telefon zu stellen hatte, um bereitwillige Auskünfte zu erhalten. Auch musste sie zu forschen erlernen, denn nach hundert Jahren, zwei Weltkriegen und zwei Diktaturen, waren zwei oder drei der nötigen Dokumente verschwunden.

Die allerbesten Voraussetzungen also!

Amalia Frey ist mittlerweile 30-something und traut sich, diese Reihe auf die Welt loszulassen. Sie veröffentlicht außerdem feministische Romance und, unter ihrem Pseudonym Claudi Feldhaus, zeitgenössische Berlinromane, Krimis und Fantasy. Sie ist Schwester im Nornennetz, ein Verband deutsch schreibender Fantastikautor*innen, Mitfrau der Autorinnenvereinigung Deutschland e.V. und im Bundesverband junger Autor*innen.

Amalia Frey lebt, liebt und trinkt Kaffee in Berlin.

Meinem Vater

Und allen, die an Liebe auf den ersten Blick glauben.

Liebe Lesende,

ich erzähle Ihnen die Geschichte von Alvine Hoheloh. Aber nicht nur von ihr, sondern von allerlei Menschen die in den Jahren, die wir neben ihr hergehen werden, ihren Weg kreuzen. Dazu nutze ich eine Perspektive, die ich gerne als die allmächtige Erzählerin bezeichne.

Wenn ich Ihnen das Geschehen schildere, und alle Geschlechter meine, werde ich auf entgenderte Sprache zurückgreifen, liebe Leser*innen. Wörtliche Rede versuche ich den Kindern der Zeit anzupassen, daher werden diese Ihnen einiges im generischen Maskulinum erzählen, auch wenn das den Lesefluss gehörig stört. Aber in der Zeit, in der Alvine gelebt hat, war vieles noch nicht etabliert, was unser Leben heute angenehmer macht. Frauenwahlrecht, Smartphones oder eben sprachliche Anerkennung der Existenz von Frauen und nicht-binären Personen. Es war eine harte Zeit …

Hinweise zu den teilweise recht aufwühlenden Inhalten, welche möglicherweise auch Trigger aktivieren können, finden Sie als Liste auf den letzten Seiten dieses Buches.

Ihre Amalia Frey

Übersicht: Alvines Beziehungen

Teil 2

Unternehmerin

(1913 – 1917)

Enthemmungen

1913: Als Theodor Fürstenberg an diesem Januarmorgen erwachte, lag seine Frau Alvine mit dem Rücken zu ihm. Ihre Decke war zur Seite gerutscht, sodass sich die zarten Kurven ihres Körpers unter ihrem Nachthemd abzeichneten.

Der heftige Streit des vergangenen Tages schwängerte noch immer die Luft im Raum. Seine Wut auf sich selbst, Alvine so fest gepackt zu haben, war nicht abgeklungen. Immerhin brannte seine Wange nach ihrer Ohrfeige nicht mehr vor Schmerz und Scham. Doch auch die Lust auf Alvine durchflutete ihn erneut, versiegte nie. Zaghaft strich er mit einem Finger über ihre Wirbelsäule, sie zuckte augenblicklich zusammen. Er griff nach seiner Decke und hüllte sie darin ein. Dann erhob er sich.

Er badete ausgiebig, schnitt sich beim Rasieren und trat nackt ins Schlafzimmer. Vor dem Ganzkörperspiegel neben dem Ankleideraum blieb er stehen. Das Rudern hatte er weitestgehend aufgegeben. Auch Ausritte fanden bei den eisigen Temperaturen selten statt. Da ihn nun im Winter mehrere Schichten Stoff vor Kälte schützten, war seine Haut heller denn je und gänzlich zu einem kühlen Rosé verblasst. Seine Sommersprossen waren beinahe verschwunden. Dafür hatte sein sonst strohblondes Haar einen bronzefarbenen Stich angenommen. Trotzdem er dünner geworden war, zeigte sein Körper deutlich männliche Konturen auf. Seine Statur war breitschultrig mit schmalen Hüften, sichtliche Definitionen zeichneten einzelne Muskelgruppen nach und seinen Bauch flach. Sein Gemächt wog schwer zwischen seinen schlanken Beinen.

Er erinnerte sich an früher. Damals, als er mit seinem Aussehen reihenweise Damen begeistert hatte, sie sich danach verzehrt hatten, ihn zu berühren und zu spüren. Was nutzte es, dass ihm Schönheit, dass ihm all dies geschenkt worden war, wenn die Frau, die er liebte, es nicht haben wollte … oder konnte? Er verängstigte sie mit seiner Begierde und hatte schlussendlich dafür gesorgt, dass sie sich minderwertig vorkam. Das war ihm nach all den Monaten, in denen sie versucht hatten, miteinander zu schlafen, immer deutlicher geworden.

 

Schüchtern blickte er sich wieder zu Alvine um. Mit dem Gesicht zu ihm gewandt, die Augen geschlossen, ihr Atem ruhig, lag sie da, das Winterlicht im Raum verlieh ihrer lohbraunen Haut einen rosa Schein. Ihr gertenschlanker Körper unter der geblümten Decke, ihre dunkelbraunen Wellen und Locken umgaben sie und nahmen fast die Hälfte des Bettes ein. Wie er es schaffte, sich im Schlaf nie auf ihre Haarpracht zu legen, schrieb er seiner Liebe zu ihr und ihrem Haar zu. Er senkte den Blick, dann griff er nach seiner Wäsche und zog sich an.

Seine Berührung weckte Alvine. Sie hatte sich ohnehin nur im Schlummer befunden gehabt. Wie immer reagierte ihr Körper instinktiv mit Zurückweisung und Theodor hatte es schon lange aufgegeben, seine Zärtlichkeiten dennoch fortzusetzen. Stattdessen wurde Alvine an diesem Morgen von ihm liebevoll in seine Decke eingemummelt. Sie wand sich zaghaft um, als er schließlich aus dem Bad kam und sich im Spiegel betrachtete. Sein trauriger Blick traf sie direkt ins Herz. Wenn sie ihm am Morgen heimlich beim Anziehen zusah, fürchtete sie sich nicht vor ihm. Vielmehr fragte sie sich, was es eigentlich war, das sie auf diese Weise reagieren ließ. Denn in solchen verstohlenen Momenten begehrte sie ihn abgöttisch. Als er zu ihr herübersah, schloss sie schnell die Augen und entspannte ihr Gesicht. Sie traute sich erst, aufzustehen, sobald er gegangen war.

Ihre Toilette verrichtete sie nur dürftig, sie war zu aufgeregt vor dem, was sie sich für heute vorgenommen hatte. Denn endlich hatte sie den Mut gefasst, die eine Person aufzusuchen, die ihr helfen konnte, die Ehe mit Theodor zu retten! Ohne Frühstück ritt Alvine auf ihrem Pferd Strumpf, einem zehnjährigen Hengst mit rotbraunem Fell und einem linken schneeweißen Vorderbein, von ihrem Häuschen am Stadtrand zur Fabrik ihrer Familie, die sich im östlichen Teil der Großstadt befand. Sie nahm als Erstes die Warenlieferung entgegen, erledigte den nötigsten Papierkram und vergewisserte sich, dass sie die Arbeit in der Schuh- und Lederwarenfabrik, die sie mit ihrem Vater führte, laufen lassen konnte.

Alvine sah nach ihm, als sie ihre Aufgaben erledigt hatte. Alfred Hoheloh, seines Zeichens Patriarch des Unternehmens, saß hinter seinem breiten Schreibtisch, seine einst umbrabraune Haut ergraut, genau wie sein Bart und sein Haar. Vor Kund*innen bemühte er sich stets um Haltung und gute Miene, war er allein oder in Gesellschaft seiner einzigen Tochter, schlafften seine einst stolzen Schultern ab und sein Gesicht blickte müde drein.

Wie so oft in letzter Zeit schien Alfred auch heute in seine eigenen Angelegenheiten vertieft und gar nicht zu bemerken, dass seine Tochter gedachte, ihn für einige Zeit allein zu lassen. Sie rief sich eine Droschke für den Weg ins Scheunenviertel.

°°°

Auf dem Hof des Arbeiter*innenwohnblocks herrschte wie immer Tristesse und ohne Schnee sah er tatsächlich einen Deut hässlicher aus, als Alvine ihn in Erinnerung hatte. Aber im Gegensatz zu anderen Wohnblöcken, den wenigen, die Alvine in ihrem Leben erblickt hatte, schien hier eine gewisse Sauberkeit vorzuherrschen: Einige Fenster standen offen, denn die Leute lüfteten. Die kommunalen Wohnungspfleger*innen[Fußnote 1] schienen gute Aufklärungsarbeit zu leisten.

Alvine bolzte einen Kieselstein in den Schnee und sah die graue Fassade hinauf. Hier, in der Dachgeschosswohnung der Prostituierten Magdalena, hatte sie, die hochwohlgeborene Tochter, durch Zuschauen so viel über Sex gelernt, dass sie sich aufgeklärt genug für die Hochzeitsnacht und alle kommenden Nächte gefühlt hatte. Neugieriger gemacht auf die Ehe hatte es sie, auf die eheliche Pflicht. Aber dazu verholfen, dass ihre Liebe glücklich und erfüllend war, hatten ihr all die Beobachtungen nicht.

Und wieder waren da die rothaarigen Zwillingsbuben, die heute miteinander rauften. Kaum erblickten sie Alvine, nahmen sie grinsend Haltung an.

»Oh, ihr erinnert euch an mich?«

Schelmisch lächelten sie weiterhin.

»Diesmal habe ich leider keine Schokolade dabei …«, kurz zogen sie einen Flunsch, »ich wollte die Dame besuchen, die dort in der Dachkammer wohnt. Sie heißt Magdalena.«

Da entglitten den Buben alle Gesichtszüge.

»Die lebt nich’ mehr hier«, gälte plötzlich eine Stimme hinter Alvine. Es war Frau Wirt, die sich wankend näherte. »Die Magda is’ vorn paar Monate ’usjezogn.« Die Matrone, eine große schwere Frau in abgetragener Kleidung, schien in diesem Häuserblock über alles und jeden Bescheid zu wissen, das war Alvine bereits bei ihrem ersten Treffen vor fast zwei Jahren aufgefallen.

»Guten Tag«, sagte Alvine, »wissen Sie, wohin Magdalena gezogen ist?«

»Kätzchen, jib et ’uf!«, entgegnete Frau Wirt abwinkend.

»Ich möchte dringend mit ihr sprechen.«

»Biste nich’ de Erste. Jut, dit erste Weib. Aber selbst wenn ik wüsst, wo se et hinverschlaren hat, könnt ik et nicht saren. Hab’s der Magda versproch’n, verstehste?«

»Gewiss«, antwortete Alvine traurig und knickste.

Was sollte sie jetzt tun? Magdalena war die Einzige, mit der sie über diese Dinge hätte sprechen können. Nicht auszudenken, ihre Mutter Dorothea oder gar einen ihrer Brüder danach zu fragen, obgleich deren Ehen erfüllt schienen. Doch allein der Gedanke schnürte Alvine die Kehle zu. Das hatte sie nun davon, dass sie keine engen Freundschaften zu Frauen unterhielt, die selbst verheiratet waren oder zumindest der Lust frönten. Ihre beste Freundin hatte sie verlassen, ihre Schulfreundinnen waren ihr nie solcherart nah gewesen. Nein, es hätte wahrlich nur Magdalena gegeben, mit der sie diese Schwelle und Scham bereits hinter sich gelassen hatte, die Einzige, mit der sich Alvine ein derartiges Gespräch hätte vorstellen können. Sie ließ die Schultern hängen.

Dann wand sie sich zu den beiden Jungen, um sich zu verabschieden, und sah, dass einer von ihnen ungeduldig auf der Unterlippe kaute. Ganz so, als ob er ihr doch helfen könnte. Frau Wirt hatte es auch gesehen und spie aus: »Jakob! Nathan! Rinn mit euch!«

Die Zwillinge zuckten zusammen und sprangen davon. Alvine presste die Zähne aufeinander und drehte sich wieder zu der Dame um. Es kostete sie viel Beherrschung, immer noch freundlich zu blicken.

»So so, das sind Ihre Jungs?«, fragte sie überflüssigerweise, um das Gespräch am Laufen zu halten. Denn dass Frau Wirt die Mutter der Zwillinge war, hatte sich Alvine schon früher gedacht, sie waren ihr immerhin wie aus dem Gesicht geschnitten. Die gleiche milchweiße Haut, das gleiche rote, gewellte Haar, auch wenn ihres schon die ersten grauen Strähnen aufwies.

»Gute Kinder. Hab nu meene liebe Müh’ mit ihnen, seit meen Friedrich nicht mehr is’«, gab die Matrone zurück.

»Das verstehe ich. Alleinerziehende Frauen verdienen all meinen Respekt, müssen Sie wissen.«

»Brauchst dich nich’ ’inzuschleim, Kätzchen.«

»Das war nicht meine Absicht, Frau Wirt. Ich meine es ernst.«

»So was, ihr Oberschichtenschnepfen habt doch von nix ’ne Ahnung. Armenarzt war meen Friedrich, hat uns immer jut versorgt, immer für die Jemeinde malocht. Globen Se, et jab nur etwas zurück, als er selba krank wurd’? Nun leb’n wa hier. Ik arbeite schwer, meene Kinder durchzubring’, dit mal’n Se sich im Traum nich’ ’us.«

»Ich kann nicht leugnen, dass mein Stand Vorteile birgt. Doch wissen Sie, die nutze ich, um für die Rechte der Frauen im Land einzustehen. Ich denke, ich wurde darum ins Bildungsbürgertum hineingeboren, damit ich die Mittel habe, etwas zu verändern.«

»Is’ dit so«, entgegnete Frau Wirt spöttisch.

»Wenn ich also etwas für Sie tun kann …?«

»Was’n? N’ Almosen? Könn’ wir jut dr’uf verzicht’n.«

»Und Bücher?«

»Bitte was?«

»Ich könnte die Schulbücher für Ihre Söhne bezahlen, wenn es Ihnen recht ist.«

»Also …«, Frau Wirt klang nun deutlich zahmer.

Plötzlich trat einer der Burschen hinter ihr vor und grinste Alvine an: »Und die Anzüge? Wir hab’n nur een Anzug, mit dem wir zur Schule geh’n.«

»Jakob, still!«

»Warum nicht auch die Anzüge? Dann haben sie zwei zum Wechseln.«

»Sie versteh’n nicht, meine Dame«, sagte Jakob, »wir haben nur ein’ einzigen Anzug, den wir uns teil’n.«

Alvine blickte schockiert und im nächsten Moment versicherte sie: »Wenn das so ist, dann spendiere ich für jeden zwei.«

»Jenuch jeze!«, fauchte Frau Wirt und packte Jakob am Ohr, »wir nehm’ keene Spende von de’ Katzenprinzessin! Mach’n Se, dat Se fortkomm!«

Sie wedelte mit dem anderen Arm und drehte ihren mächtigen Leib in Richtung Haus. Ihren Sohn zerrte sie hinterher. Im Türrahmen stand Nathan und blickte traurig zu Alvine. Er war es, der vorhin hatte sagen wollen, wo Magdalena zu finden war, der jedenfalls irgendwas hätte sagen wollen, da war sie sich sicher! Seine Mutter klatschte ihm die fleischige Hand ins Gesicht und stieß ihn ins Haus. Dann rumste die Tür hinter ihnen zu. Da erst bemerkte Alvine, dass rundherum einige Fenster offenstanden und Nachbar*innen das Geschehen interessiert beobachtet hatten.

Unverrichteter Dinge kehrte Alvine in die Fabrik zurück, erledigte ihre Arbeit. Um neun Uhr abends klopfte es an ihrer Bürotür. Sie erkannte ihn am Klopfen und ihr Herz schlug schneller. Genauso wie damals, als sie frisch verliebt gewesen waren … dabei waren sie das doch immer noch!

Zaghaft trat Theodor ein: »Darf ich dich sprechen?«

»Aber natürlich.« Sie lächelte und erhob sich vor Aufregung wankend.

Er schloss die Tür und kam auf sie zu. Dann fielen sie einander in die Arme und küssten sich stürmisch.

»Es tut mir so leid«, beteuerte er zwischendurch, »bitte verzeih mir!«

»Nein, du mir!«, entgegnete sie, »ich habe dich gedemütigt und geschlagen … meine Hand brennt immer noch. Bitte entschuldige.«

Sie umarmten sich wieder. Alvine presste ihr Gesicht an seine Brust und verkniff sich mit aller Macht die Tränen. »Du hattest völlig recht, Theodor, ich …«

»Warte, ich muss dir gestehen: Ich hatte tatsächlich daran gedacht, wieder ins Bordell zu gehen.« Er nahm ihr Gesicht in seine Hände. »Doch ich hatte es jedes Mal sofort verworfen. Dass du den gleichen Einfall hattest, hat mich rasend gemacht.«

»Ist schon in Ordnung, Liebster. Wir machen alle Fehler. Und dass ich dir das überhaupt zugetraut hatte, war meine eigene Entscheidung.«

Er hielt noch immer ihre Augen mit den seinen gefangen und flüsterte: »Mir ist aber jetzt erst bewusst geworden, was ich dir zugemutet habe. Ich will nur, dass du weißt …«

»Schon gut Theo«, sie legte einen Finger auf seine Lippen, »alles ist gut, lass’ uns einfach nach Hause gehen.«

Sie verbrachten den Abend bei Wein und Kerzenschein, fütterten sich mit Kartoffeln und Quark, und als sie ins Bett gingen, versuchten sie gar nicht erst, sich zum Sex zu zwingen, sondern kuschelten sich zärtlich aneinander. Eng umschlungen schliefen sie ein.

Am Morgen saßen sie zusammen auf dem Bett und hielten sich an den Händen. »Du hattest recht, als du meintest, es sei ein reiner Geduldsakt für mich«, sagte sie lächelnd, »und ich möchte, dass du weißt, dass ich dich sehr begehre. Die mitschwingende Furcht gebührt nicht dir als Person, bitte glaube mir das.«

»Das ist schön.«

»Ich denke nur, dass wir nichts ändern, indem wir nur warten …«

»Das weiß ich auch, Liebste. Dennoch hilft es nicht, wenn wir uns immer wieder enttäuschen.«

Sie kaute auf ihrer Unterlippe und blickte dann zu Boden. Die Erinnerung an den brennenden Schmerz in ihrem Geschlecht durchfuhr sie jedes Mal, wenn Theodor sie berührte, sodass sie überhaupt keinen Genuss zulassen konnte. Schwer seufzend bekannte sie: »Wir finden eine Lösung, bald schon.«

Mehr konnte sie nicht sagen, sie hatte für ihn keine weiteren Worte, die sie darüber nicht schon gesagt hatte.

°°°

Alvine machte heute einen Umweg über den Dom, entzündete im Gebetsraum eine Kerze, wohnte der Morgenmesse bei und bat die Allmacht um Hilfe. Dass es nicht nur einen christlichen Gott geben musste, sondern eine allumfassende Energie, stellte sich für sie wieder heraus, als am Nachmittag ein jüdischer Bengel in ihrem Büro stand und ihr helfen wollte.

»Nathan! Was führt dich denn zu mir?«, rief sie erstaunt.

 

Er hielt seine Schiebermütze in den Händen und zitterte am ganzen Leib. Alvine fragte ihn gar nicht erst, wie er sie gefunden hatte oder wie er sich an ihrer Sekretärin Esther hatte vorbei stehlen können. Er sprach langsam, hörbar bemüht, den Dialekt seiner Mutter nicht in gleicher Schärfe zu benutzen: »Wir hab’n gestern noch mal mit ihr geredet. Bücher willse nach wie vor keine von Ihnen, aber sie sieht ein, dass Sie ’ne gute Seele sind.«

»Vielen Dank«, lächelte Alvine und Nathan errötete übers ganze Gesicht.

»Ik war also bei der Magda und hab sie gefragt. Dit soll ik Ihnen geben«, mit zitternden Händen hielt er ihr einen Brief hin.

Alvine sank in sich zusammen und nahm den Umschlag voll Dankbarkeit entgegen. Hoffnung durchfuhr sie und so konnte sie nicht anders, als vor dem Jungen auf die Knie zu fallen. »Oh«, sie herzte ihn glücklich, »wie kann ich euch danken? Du hast einen Wunsch frei.«

Er sah sie mit seinen blauen Kulleraugen und mit offenem Mund an. Dann sprang er zurück und rannte einfach fort. Alvine ließ traurig die Schultern hängen.

Im Brief standen eine Adresse und eine Uhrzeit. Da kein Datum dabei war, musste sie davon ausgehen, Magdalena wollte sie noch am selben Tag empfangen. Daher meldete Alvine sich bei Esther ab und ließ sich in die westliche Innenstadt fahren. Ausnehmend schick und gepflegt erschien dieses Viertel. Hohe Herrschaften flanierten über den Gehsteig, neue Autos brausten über die Straßen, berittene Garden in stattlichen Uniformen kamen ihres Weges. Die Villen protzten vor wilhelminischem Prunk. Vor einem besonders großen Jugendstilbau verließ Alvine das Gefährt und klopfte zaghaft an die Tür. Was war das für ein Haus? Hatte Magdalena geerbt oder sich an jemanden gebunden und war sesshaft geworden? Kurz darauf öffnete ein schneidiger Herr mit beigefarbener Haut und ebenso beigem Haar um die Fünfzig die Pforte. Als er Alvine sah, schnellte seine Zungenspitze zwischen den Lippen hervor. »Na so was, wen haben wir denn da?«, feixte er, seine dunkle Stimme untermalte ein diebisches Grinsen.

Ehe Alvine sich versah, hatte er sie hineingebeten und sie auf ein Sofa im pompös eingerichteten Eingangsbereich gesetzt. Er verbeugte sich vor ihr, hielt ihre Hand und setzte sich daneben. Sein maßgeschneiderter Anzug spannte am Bauch, sobald er sich nach vorne neigte. Das hielt ihn jedoch keineswegs davon ab, sie vollzuplappern: »Ich bin Orje, aber alle nennen mich Lui! Und was führt dich in meine bescheidene Hütte? Sieh dich ruhig um, Kleines. Sag mir, gefällt es dir? Das ist nur das Empfangszimmer, gerne zeige ich dir gleich unseren Saal, das Kaminzimmer und natürlich das Separee. Hast dir ja eine gute Tageszeit ausgesucht. Gerade ist nicht viel los, da können wir uns in Ruhe umschauen und einander bekannt machen.«

Die ganze Zeit tanzten seine Augen über ihren Körper, während seine Zunge immer wieder zwischen seinen Lippen hervorschnellte. Alvine hatte noch keinen Ton herausgebracht, so schockiert war sie davon, von einem wildfremden Mann mit Blicken ausgezogen zu werden. Am liebsten hätte sie ihm eine schallende Ohrfeige verpasst und wäre hinausgestürmt. Aber dies war definitiv die Adresse, die Magdalena ihr aufgeschrieben hatte, würde er sie nur einmal zu Wort kommen lassen …

»Also denn, vorstellen willste dich, nicht wahr?«, unterbrach Orje ihren Gedankengang, »nun, so schlanke Dingelchen haben wir nicht viele, das spricht für dich. Und bei deiner Kleidung scheinst du ja sonst gut zu verdienen. Wo biste denn polizeilich jemeldet? Ist dein Freund und Förderer fortgelaufen oder gestorben? Bist du deswegen gar nicht geschminkt, Kindchen? Nun ja, gibt Leute, die das mögen. Ich bin doch für alle Wünsche offen! Aber du wirst wissen, dass wir erst deine Kenntnisse überprüfen müssen. Unsere Kunden sind anspruchsvoll.«

Nun wurde es Alvine zu bunt, als sie verstand, was dies für ein Haus war. In ihrer Unbedarftheit wäre sie darauf nie gekommen. Angewidert sprang sie auf und tobte: »Ich darf doch wohl sehr bitten, der Herr! Ich bin keineswegs hergekommen, um mich bei Ihnen zu bewerben! Also unterlassen Sie gefälligst diese Anzüglichkeiten!«

»Oh, so was«, betreten blickte er drein, leckte sich über die Lippen, erhob sich ebenso und machte einen tiefen Diener, »ich bitte vielmals um Entschuldigung. Was also ist Ihr Begehr, werte Dame?«

»Ich suche nach einer gewissen Magdalena«, gab sie beschwichtigt zurück.

Orjes Augen glitzerten von Neuem. »So was aber … Das ist ja wirklich lecker.«

Alvine sah ihn verwundert an. Er verbeugte sich hektisch, und während er sie in den Nebenraum führte, versicherte er: »Solche wie Sie haben wir hier nicht so oft. Und mit der Magda zusammen – goldene Kurven auf brauner Schlankheit – das wäre ja ein Fest.«

Alvines Gesicht wurde augenblicklich heiß. »Sie missverstehen mich erneut, Herr …«

»Ja doch, still jetzt«, sagte er grinsend. Dann kam er dicht an sie heran: »Wissen Sie, Ihrem Lui können Sie vertrauen. Wo werd’ ich denn? Ich ruf hier keine Sittenwächter auf den Plan, Fräulein, gewisslich nicht. Aber in Ihrem Fall gibt es allerlei Möglichkeiten, dass alle Seiten etwas davon haben. Wie wäre es? Zahlen müssen Sie natürlich nicht. Die Magda können Sie die ganze Nacht haben, wenn Ihnen die heimlichen Blicke nichts ausmachen.«

Alvine stand vor Schock der Mund offen.

Orje wedelte mit den Händen und schob sie in ein Zimmer. »Ich schicke Ihnen die Magda. Probieren Sie erst einmal, ob es gefällt.« Damit war er verschwunden.

Alvine knirschte mit den Zähnen und sah sich im Raum sofort nach Gucklöchern in der Wand um, ehe sie feststellte, wie prunkvoll auch dieses Zimmer eingerichtet war. Roter Samt kleidete Möbel, der Teppich war dick, die Vorhänge reichlich verziert, ebenso wie die Tapete. So ähnlich hatte es schon im Empfangsbereich ausgesehen, das hiesige Geschäft schien ein lukratives zu sein. Sie in ihrer Unschuld hatte noch gedacht, dies wäre ein Privathaus; dass Magdalena vielleicht einen reichen Freund gefunden hätte.

Sie ließ sich auf ein Sofa plumpsen, als sie erleichtert feststellte, dass sie hier wenigstens kein Bett fand. Schließlich ging eine weitere Tür auf und eine zierliche Person betrat das Zimmer. Offenbar überraschte sie Alvines Anwesenheit, sie musterte sie verstohlen. Vom Typ her waren sie sich sehr ähnlich, außer dass ihrer roséfarbenen Haut der braune Grundton Alvines fehlte. Und offensichtlich witterte die gut fünf Jahre jüngere Dirne in ihr Konkurrenz: »Wer bist du denn?«, fragte sie herablassend.

»Pardon, ich warte auf eine Bekannte.«

»Ist das so?«, sie zog spöttisch eine Augenbraue hoch und kam näher. »Also wie heißt du?«

»Ich bin Alvine, Alvine Fürstenberg …«, erwiderte sie, ehe ihr einfiel, dass sie an so einem Ort besser keine Spuren, keinen namentlichen Eindruck, hinterlassen sollte.

Dem Mädchen entglitten alle Gesichtszüge.

»Rosenseife …«, flüsterte sie.

Instinktiv fasste Alvine nach ihren Locken. Eine schneidende Stille trat ein und das Mädchen durchbohrte sie mit tiefen Hassblicken. Sind denn in diesem Haus alle sonderbar?

In diesem Moment betrat Magdalena durch die Tür den Raum, durch die Orje gegangen war, erblickte die sich ihr bietende Szene und zischte dann in die Richtung des Mädchens: »Verschwinde, sie ist meine Gästin!«

»Werd’ nicht frech, Aushilfe«, fauchte die andere zurück.

Magdalenas Augen verengten sich zu Schlitzen. »Orje weiß von ihr, also hau’ endlich ab!«

Das Mädchen sah Alvine noch einmal durchdringend an, straffte ihre Schultern und wand sich dann zur Tür, durch die sie gekommen war. Sie fiel hinter ihr ins Schloss.

»Du musst sie entschuldigen, Kindchen. Sie nennt sich neuerdings Alwine. Das ist für sie vermutlich so, als trögest du das gleiche Kleid.«

Alvine war nicht fähig, darauf zu antworten. Wie immer war Magdalena eine Erscheinung. Auf ihrer goldbraunen Haut lag ein seidiger Schimmer, sie trug ein figurbetontes langes Kleid, wie so oft mit einem riesigen Dekolleté. Sicher verlieh einmal mehr ein raffiniert geschnürtes Korsett ihrer dicklichen Figur diese Sanduhrform. Das Haar zu einer eleganten Steckfrisur, der einzelne ihrer krausen Löckchen einen verspielten Gesamteindruck verliehen. Schwerer, edler Schmuck vollendete den Anblick.

Sodann setzte Magdalena sich zu ihr und begann zu plaudern: »Nun, da hast du bei den Wirtens aber einen Stein im Brett. Vor allem der Nathanael ist ja ganz hin und weg von dir. Ich habe ihren Vater noch kennengelernt. Kerl wie ein Baum, hat als Armenarzt geschafft. Edelmütig, immer zum Wohle der Kleinsten. Bis er sich ansteckte und es ihn elendig dahinraffte. Seitdem ist die Mutter allein mit den Knaben und eigentlich einem kleinen Mädchen. Das mussten sie weggeben, hätten es nicht ernähren können.«

»Ins Heim?«, fragte Alvine schockiert.

»Nein, zu Freunden. Ein Kollege von Dr. Friedrich Wirt, der selbst kinderlos ist. Er gibt sich die Schuld am Tod und hat daher angeboten, das Kleinod aufzuziehen. Soweit ich weiß, ergeht es ihr besser als ihren Brüdern. Sie geht auch zur Schule.«

»Ach, so ist das …«

»Na, du hast bestimmt einen schönen Schrecken bekommen, von der Bude hier. Ja hin und wieder arbeite ich gerne in den Palästen. Ich kann mir meine Arbeitszeit zwar nicht frei einteilen und allzu oft Nein sagen, sollte ich auch nicht. Aber es ist warm und sauber, ohne dass ich selbst heizen und putzen muss. Und der Amtsarzt kommt hier zur Visite und ist um einiges vorsichtiger, als die, bei denen ich mich melden muss, wenn ich freischaffend bin.«

»Sie sind zufrieden hier?«, fragte Alvine, um irgendwas zu sagen.

Magdalena nickte.

Alvine wusste, dass Prostitution in diesem Land staatlich reglementiert war, was hieß, prostituierte Frauen waren polizeilich gemeldet und mussten sich regelmäßigen ärztlichen Kontrollen unterziehen. All das ging fast immer mit Schikane und vielmals auch roher Gewalt einher, während männliche Freier oft in keiner Weise verfolgt wurden. Dass Männer zu Prostituierten gingen, galt gar als hygienische Notwendigkeit.

Magda redete auch heute so leicht und locker daher, dass Alvine sich einbilden konnte, dass diese Prostituierte es noch gut getroffen hatte. Durch Magdalenas Erzählungen verlor Alvine auch allmählich ihre Anspannung.

»Also, was führt dich zu mir?«, fragte Magdalena.

»Ich brauche Ihren Rat.«

»Was? Ist dein Mann mit deinen Künsten nicht zufrieden?«

»So kann ich das wohl kaum nennen. Es klappt gar nicht erst zwischen uns.«

Weitere Bücher von diesem Autor